Aufrufe
vor 6 Monaten

Die Furche 27.06.2024

DIE FURCHE · 26 16

DIE FURCHE · 26 16 Literatur 27. Juni 2024 Diplomatischer Drahtseilakt Von Maria Renhardt Singapur 1960. Kopfüber die österreichische Handelsdelegation verlassen und danach in einem nahezu leeren Restaurant vor einem Berg von Essen den Erinnerungen an die erste Zeit im Außenministerium nachgehen. Da sind Minderwertigkeitsgefühle aufgrund von Unwissenheit, unzureichender Bildung und unpassender Interessen, auch Gedanken an die Protektion durch den Vater. Mit diesem Szenario eröffnet der Grazer Florian Dietmaier seinen ersten Roman „Die Kompromisse“, den er im Droschl-Verlag publiziert hat. Peter, der Ich-Erzähler, ist nach seinem Studium der Geschichtswissenschaften – wie schon Vater und Großvater – als Diplomat in unterschiedlichen Ländern im Einsatz. Er stammt aus einer betuchten Familie und setzt in jungen Jahren behutsam auf sanften Widerstand. Dietmaier erzählt das Leben seines Protagonisten entlang ausgewählter Lebensstationen, die er aus einem Zeitspektrum von 1960 bis 2020 heraushebt und mit dessen vielfältigen Erinnerungen anreichert. Bei einer Konferenz in den USA lernt er seine spätere Frau Jane kennen, mit der er einen Sohn, Paul, hat. Dieser Ehe ist jedoch kein dauerhaftes Glück beschieden. Die beiden leben sich kontinuierlich auseinander – wohl auch, weil sein Herz eigentlich John gehört – und trennen sich vor Peters endgültiger Rückkehr nach Wien. Hier verbringt er viel Zeit in seiner großen Bibliothek und beschäftigt sich auch im Alter noch intensiv mit Literatur, dem Weltgeschehen und seinen Tagebüchern. Die einzelnen Spots auf diplomatische Stationen belichten nicht nur Aufenthalte in großen, begehrten Städten wie New York oder Genf, sondern auch kleine, unbekannte Destinationen. So wird Peter auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten für Wirtschaftstreibende einmal auf der mikronesischen Pazifikinsel Nauru empfangen. Sie hat eine wechselvolle Geschichte vorzuweisen und ist aufgrund der Entdeckung „großer Ablagerungen von phosphathaltigem Guano“ für andere Staaten in ökonomischer Hinsicht interessant. Zwischen Weltbühne und Familienleben Als sein Enkel David später einmal bei ihm zu Besuch ist und auf seiner Playstation im Spiel „Kowloon“ die „Walled City“ auftaucht, erinnert er sich an eine Tagung in Rom. Kurz bevor Kowloon eingestampft wurde, haben Architekten diesen früheren Stadtteil Hongkongs genau vermessen, ein Buch darüber herausgebracht und den Fall als Beispiel für „optimierte Raumgestaltung in dichten Innenstädten“ präsentiert. Peter hat damals ein Exemplar bekommen, das jetzt sogar – trotz der Computerobsession – die Aufmerksamkeit des Enkels weckt. Bleibt noch die Frage nach den Auswirkungen der vielen Ortswechsel und Umzüge. Was hat das mit seiner Familie gemacht? Ist seine Ehe daran gescheitert? Sie hätten genug Zeit füreinander gehabt, ist Peter überzeugt. Und sein Sohn? „Wie würde Paul sich fühlen, als Amerikaner, Serbe, Franzose, Österreicher? (…) Das Umherziehen, das ihn früher so geärgert hatte, war ihm später sehr leichtgefallen und … ein Bedürfnis geworden. Um herauszufinden, wo auf dieser Welt er hingehörte, dazugehörte.“ All die Blitzlichter auf die unterschiedlichsten Lebensabschnitte sind durchzogen von Rückblenden, in denen Verhandlungen stattgefunden haben, wirtschaftliche Fäden geknüpft wurden oder man schlicht einen Teil der – auch österreichischen – Geschichte geschrieben hat. Dietmaier belichtet in diesem diplomatischen Kosmos viele Seitengespräche, die global betrachtet auch bedeutend für historische Entwicklungen waren. Interessant ist seine Beschäftigung mit unbekannten Facetten des politischen Weltgeschehens, mit Hintergrundbildern, in die sehr harmonisch vielfältige Gedanken über die Literatur und das Dasein einfließen. Dietmaier präsentiert hier einen Roman über ein Leben mit Kompromissen, aber auch über die Einsamkeit und die Unfähigkeit, einander Nähe zu schenken. Echte Emotion gibt es erst sehr spät. Sie klingt nach. Die Kompromisse Roman von Florian Dietmaier Droschl 2024 152 S., geb., € 22,– Von Oliver vom Hove Zwei Menschen kennen einander seit der Kindheit, gehen auseinander und finden wieder zusammen. Davon handelt kurzgefasst Iris Wolffs neuer Roman „Lichtungen“. Aber es ist, wie immer bei Iris Wolff, eine Geschichte, die, atmosphärisch dicht und sprachlich fein ziseliert, aus vielen Bruchstücken, Erinnerungsskizzen, emotionalen Momentaufnahmen zusammengesetzt ist. Und die ein Leben widerspiegelt, das maßgeblich von außen, von der gewalttätigen Herrschaftsgeschichte Osteuropas, mitbestimmt wurde. Es geht um die deutsche Volksgruppe im Rumänien des Diktators Nicolae Ceauşescu. Erzählt wird am Beispiel einer schwierigen Liebesbeziehung von der Zerrissenheit einer Lebensgestaltung, die bis in die Gefühlsbindungen von der autoritären Staatsmacht gegängelt und gepeinigt wurde. Kato und Lev, die beiden Protagonisten des Romans, sind in der Maramuresch, im waldreichen Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukra ine, aufgewachsen. Die Welt war damals ein Wartesaal in Rumänien. Die Grenzen waren versperrt, die Repressionen hart, alle Aussichten auf ein freies, selbstbestimmtes Leben düster. Man hielt, vor allem in der eigenen Volksgruppe, zusammen. Verbunden in unterschiedlichen Welten Die beiden Jugendlichen kennen einander aus derselben Schulklasse. Kato hat Lev monatelang mit dem Unterrichtsstoff versorgt, als er nach einer traumatischen Erfahrung gelähmt im Bett liegen musste. Später kehrte sich das Verhältnis um, als die 14-jährige Kato ihrem verwitweten Vater zu Hause beistehen muss und Lev ihr den Schulstoff nach Hause bringt. Bis plötzlich, nach langem Warten, 1989 die große Öffnung einsetzt. Jetzt vermag die erwachsen gewordene Kato nichts mehr zu halten. Mit einem eher zu- Enteignete Heimat fällig dahergeradelten Deutschen sucht sie das Weite, fährt mit dem Fahrrad weg in den Westen. Als Straßenmalerin zieht sie jahrelang durch halb Europa, während Lev in der Heimat zurückbleibt, den Militärdienst ableistet und sich in den Wäldern als Holzfäller verdingt. Das alles erfahren wir erst nach und nach, denn Iris Wolff erzählt die Geschichte von der Gegenwart aus rückwärts, Kapitel für Kapitel bis in die Anfänge vor mehr als dreißig Jahren. Der Roman setzt ein, als die beiden sich laufend abrollen. “ nach Jahren in Zürich wiedersehen und zu einer gemeinsamen Reise durch Südfrankreich bis nach Italien aufbrechen. „Wann kommst du?“, hatte Kato auf einer Postkarte nach Rumänien geschrieben, und diesmal hatte Lev nicht gezögert. Souverän legt Iris Wolff die Tiefenschichten einer fragilen Beziehung frei, lässt die Geschichte Schritt für Schritt zurücklaufend abrollen. Die vertauschte Chronologie erhöht die Spannung, zwingt indes zur Konzentration. Zumal die Erzählerin behutsam einem vielköpfigen Figurenensemble aus Verwandten und Dorfbewohnern Raum zur Entfaltung ihrer je eigenen Erfahrungen und Eigentümlichkeiten gibt. Es ist faszinierend mitzuerleben, wie durchdacht Iris Wolff den Bewusstseinsvorgängen im Erleben ihrer Protagonisten sprachlich nachzuspüren vermag: „ Souverän legt Iris Wolff die Tiefenschichten einer fragilen Beziehung frei, lässt die Geschichte Schritt für Schritt zurück- Mit viel Feingefühl entführt Iris Wolff in „Lichtungen“ ins Rumänien der deutschsprachigen Minderheit. Foto: Maximilian Gödecke Iris Wolff Wie in ihren Vorgängerromanen setzt die Schriftstellerin (*1977) auch in ihrem neuen Buch gekonnt die Kunst der poetischen Verdichtung ein und widmet sich ihrer Herkunftswelt Siebenbürgen und dem Banat. „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nie verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.“ „Lichtungen“ ist der fünfte Roman der 1977 als Tochter eines Pfarrers in Hermannstadt geborenen Erzählerin, die mit acht Jahren nach Deutschland kam und heute in Freiburg im Breisgau lebt. Auch in ihren vielbeachteten Büchern zuvor hat sie sich in der ihr eigenen Kunst der poetischen Verdichtung ihrer Herkunftswelt in Siebenbürgen und dem Banat zugewandt. Deren wechselvolle Geschichte grundiert hier nicht nur das Geschehen, sondern verweist eindrucksvoll auf ihr Fortwirken im Lebensgefühl der Menschen, zu Hause wie in der Ferne. Lichtungen Roman von Iris Wolff Klett-Cotta 2024 256 S., geb., € 24,70

DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Literatur 17 Toxische Pommes legt mit ihrem Debütroman „Ein schönes Ausländerkind“ eine autofiktionale Erzählung vor, in der sie witzig, klug und tiefgründig die von Herausforderungen und Absurditäten, Hürden und Grenzen gespickten Wege von Integration aufzeigt. Hauptsache, Schweinsschnitzel Von Veronika Schuchter Sie ist der beste Beweis, dass Tiktok auch Gutes hervorbringen kann. Toxische Pommes, die eigentlich Irina heißt, wurde während der Corona-Pandemie mit ausgesprochen amüsanten Kurzvideos auf der Social-Media-Plattform bekannt. Da rin schlüpft sie in verschiedene Rollen, von der klimabewussten Markenträgerin (Patagonia, was sonst), die nach der – selbstverständlich mit dem Flugzeug – absolvierten Weltreise anderen den Nachtzug empfiehlt, bis zum kettenrauchend seine Verschwörungstheorien zum Besten gebenden Balkanonkel. Die kurzen Videos leben von klassischen Satireelementen, sie schwanken zwischen Überzeichnung und gar nicht so viel Überzeichnung, sind im Kern politisch, aber ohne dies wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Ihren ganz besonderen Charme bekommen sie aber vom Schauspieltalent ihrer Schöpferin, die in aller Übertreibung ein großes Gespür für die entscheidenden kleinen Details beweist. Dabei bekennt sie sich zu einem politisch korrekten Humor, was all jene ärgert, die finden, Humor müsse alles dürfen und politische Korrektheit beschneide die Kunstfreiheit. Für Toxische Pommes handelt es sich dabei ohnehin nur um ein neues Label, das dem eigentlichen Grundprinzip von Satire verpasst wird, nämlich immer nach oben und nie nach unten zu treten. Gern tritt sie deshalb auch im PCCC*, dem Politically Correct Comedy Club, Wiens erstem queerem Comedy Club, im WUK auf. Teil des Integrationsversprechens Politisch korrekt hat bei Toxische Pommes nichts mit harmlos oder harmoniesüchtig zu tun, es trifft nur andere, durchaus aber auch die eigene Zielgruppe, etwa wenn sie sich über den Poverty- Schick wohlhabender Erben aus der Bobo- Szene lustig macht, die dann mitunter im Publikum sitzen. „Als weißer, Schweinefleisch essender Tschusch gehör ich heute trotzdem zu den guten Ausländern“, sagt sie auf der Comedy-Bühne, und darauf spielt auch der Titel ihres Buchs „Ein schönes Ausländerkind“ an. Aus der Mischung zwischen Roman und Autobiografie ergibt sich das seit geraumer Zeit ungemein beliebte Genre der Autofiktion. „Ein schönes Ausländerkind“ ist näher an Letzterem dran, das merkt man auch in Interviews, in denen zwischen der Erzählerin und der Autorin kein Unterschied gemacht wird. Der Text beginnt mit der erwachsenen Protagonistin, die sich als Juristin in einem langweiligen Bürojob durch den Tag quält und sich fragt, wie sich ihr Leben so entwickeln konnte. „Ich hatte doch immer alles richtiggemacht. Ich hatte meinen Teil des Integrationsversprechens eingehalten. Ich hatte den Ausländer in mir erfolgreich wegintegriert.“ Toxische Pommes erzählt, wie sie mit ihren Eltern aus dem kroatischen Rijeka vor dem immer näher rückenden Krieg in Postjugoslawien nach Wiener Neustadt flieht. Dort kommen sie bei Renate und ihrer Familie unter. Gegen Hilfe im Haushalt „ Die Autorin durchbricht nicht nur die Erwartungshaltung an ein brüllend komisches Buch, auch jene an sogenannte migrantische Erzählungen werden nicht erfüllt. “ und im Garten stellt sie ihnen vermeintlich gratis Wohnraum zur Verfügung. Diese Hilfe entpuppt sich schnell als Vollzeitjob, zumindest für die Mutter. Renate nützt die Situation der Familie aus, immerhin wird sie nicht müde zu betonen, dass sie nicht wie die anderen Ausländer seien und es sich bei der Tochter mit ihren blonden Locken um „ein schönes Ausländerkind“ handle. Die Familie ist griechisch-orthodox, sprich christlich, die Eltern sind Akademiker, das sind die guten Ausländer, solange sie bereit sind zu akzeptieren, dass ihre Berufsausbildung hier nichts zählt und sie gefälligst jeden Job dankbar annehmen müssen. Der Integrationswille wird an der Bereitschaft zum Schnitzelkonsum gemessen, vom Schwein versteht sich. Während die Mutter eine Arbeitsgenehmigung bekommt und bald beruflich aufsteigt und die Tochter erfolgreich in der Schule und beim Schwimmen ist, bleibt dem Vater, einem Schiffsingenieur, die Arbeitsgenehmigung verwehrt. Es sitzt den ganzen Tag zu Hause, findet keinen Anschluss und lebt wie ein U-Boot vor sich hin. Diese Beziehung zwischen der Erzählerin und ihrem Vater ist das eigentliche Thema des Romans. Meist hangeln sich Eltern-Kind-Erzählungen an Geschlechtergrenzen entlang. Toxische Pommes bricht das auf und erzählt mit dieser Vater-Tochter-Beziehung von funktionierenden und scheiternden Integrationsprozessen, von Familiendynamiken, von der eigenen Entwicklung und der Scham und der Wut, die Toxische Pommes Foto: Muhassad Al-Ani Die gebürtige Kroatin (*1990) ist Juristin. Während der Covid-19-Pandemie avancierte sie zum Social- Media-Star. das Scheitern des Vaters bei der Tochter hervorruft. Toxische Pommes zeigt mit ihrem Roman, dass sie auch die leisen Töne beherrscht. Wer sich von ihr einen Schenkelklopfer oder zumindest ein überdurchschnittlich witziges Buch erwartet hat, der wird enttäuscht werden. Natürlich gibt es ungemein witzige Stellen, einige Anekdoten kennt man auch schon aus ihrem Kabarettprogramm „Ketchup, Mayo und Ajvar“, doch Toxische Pommes macht nicht den Fehler, einfach nur ihr Kabarettprogramm in einen Roman umzuwandeln. „Ein schönes Ausländerkind“ beginnt tragisch-komisch und wird dann immer ernster. Zarte Wehmut Dabei durchbricht die Autorin nicht nur die Erwartungshaltung an ein brüllend komisches Buch, auch jene an sogenannte migrantische Erzählungen werden nicht erfüllt. Weder erzählt sie eine von Erfolg gekrönte Entwicklungsgeschichte, bei der nach den Härten von Flucht und Ankommen ein rot-weiß-rot gefärbtes Happy End für alle wartet, noch begnügt sie sich mit Vorwürfen und der Darstellung von Rassismus und struktureller Diskriminierung. Beides begegnet ihr und ihren Eltern zuhauf. Groß ist die Enttäuschung als der immer lobende Volksschullehrer der Klassenbesten zwar täglich Sticker ins Heft klebt, ganz automatisch aber empfiehlt, nicht ins Gymnasium, sondern in die Hauptschule zu wechseln. Die Mutter hört nicht auf ihn, auch sonst ist diese Mutter widerständig und kampfeslustig. Toxische Pommes erzählt all das, aber wie bei ihren Videos ist es nicht nur der Inhalt, der begeistert, sondern ihr Gespür für Charaktere und Szenen. Leicht hätte sie sich auf Ironie oder schwarzen Humor verlassen können und hätte dafür viel Lob eingeheimst. Stattdessen mischt sie ihren Witz mit, wie Josef Hader auf der Buchrückseite lobt, „zarter Wehmut“, und das trifft es sehr genau. Ein schönes Ausländerkind Roman von Toxische Pommes Zsolnay 2024 208 S., geb., € 23,70 WIEDERGELESEN Ein großer Unbekannter wird rehabilitiert Von Anton Thuswaldner Bekannt geworden ist Wolf von Niebelschütz (1913–1960) nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch seine beiden Romane „Der blaue Kammerherr“ (1949) und „Die Kinder der Finsternis“ (1959). Damit stellte er sich außerhalb seiner Zeit. Während andere damit beschäftigt waren, sich mit dem Nationalsozialismus und dessen Folgen auseinanderzusetzen, oder sich verspätet die Traditionen der Moderne aneigneten, verzog sich Niebelschütz in ferne Vergangenheiten, die er in historischen Romanen ausladend beschrieb. Die junge Literaturgeneration setzte auf eine nüchterne, ausgeräumte Sprache, möglichst ohne schmückendes Beiwerk, um nach deren Korrumpierung durch die Nazis ein Sich-Einnisten in den Text zu verhindern. Sachlichkeit war angesagt. Das Verdikt galt nicht für Niebelschütz, der sich in barock ausgreifenden Satzkonstruktionen austobte. Keine Frage, er war aus der Gegenwart gefallen, stand für eine Epoche, da Opulenz noch einen Wert hatte. Das reicht, um jemanden zum Außenseiter zu stigmatisieren. Er war 32 Jahre alt, als der Krieg vorbei war, hatte schon zwischen den Kriegen publiziert; als Feuilletonredakteur und literarisch. Auch das schaffte Distanz zu den aufstrebenden Jungen. Näher standen ihm die großen Konservativen vom Schlage Rudolf Alexander Schröders, deren Erbauungsästhetik keine Chance mehr hatte. Nun also ein Band mit Prosa von Wolf von Niebelschütz in einem angesehenen Verlag, die zum großen Teil einem heutigen Publikum unbekannt sein muss, zumal sie allenfalls in Tageszeitungen gedruckt wurde. Der Herausgeber Wolfram Benda hat die Manuskripte bei einer Auktion erworben und für eine Veröffentlichung aufbereitet. Kleine Prosastücke eines Ästheten, Impressionen, Reflexionen, Beobachtungen sind hier versammelt, klug und gewitzt, lauter Arbeiten, die Stil und Form huldigen. Deshalb die Liebe zu Frankreich, wo der Reisende unter dem Eindruck einer Kultur steht, die ihm von Geist und Schönheit durchdrungen scheint. Wenn er 1944 die Bibliothek zu Versailles besucht, umfängt ihn in diesem „Mausoleum des Geistes“ eine „feierliche Grabesstille“. Diese Hingabe ist kühn in einer Zeit, da die Franzosen gerade der deutschen Gewaltherrschaft unterworfen worden waren. Und trotzdem singt Niebelschütz das Hohelied der französischen Kultur, lobt Stendhal über den grünen Klee, begeistert sich für Balzac, verfällt dem Esprit der Madame de Staël. Die große Liebe aber gilt dem Werk Alfred de Mussets, dessen Gedichte er übersetzt und in dem er einen Verbündeten Eichendorffs erkennt. In einer Literaturgeschichte der Außenseiter, die erst geschrieben werden muss, sollte Wolf von Niebelschütz eine Sonderrolle bekommen. Ein Geisterfrühstück Von Wolf von Niebelschütz Die Andere Bibliothek 2024 440 S., geb., € 49,40

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023