DIE FURCHE · 26 12 Diskurs 27. Juni 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Die Sehnsucht, klar sehen zu können, steckt tief in uns Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Ich denke mir, das Wasser des Lebens heißt Vertrauen. Und es hat eine Schwester: die Zustimmung. “ Das Glücksgefühl nach der Wiederherstellung Ihrer vollen Sehkraft beschreiben Sie wirklich wunderschön! Wie Sie Ihre Straße und die Blätter des Baumes in Ihrem Innenhof neu entdecken! Ich freue mich mit Ihnen! Die Sehnsucht, klar sehen zu können, vor allem auch im Wortsinn der so oft gebrauchten Metapher, steckt ja tief in uns. Es erstaunt mich überhaupt nicht, dass Sie so dicht anschließend daran über Ihre Selbstzweifel schreiben. Der Blick auf uns selbst ist ja oft getrübt. Manchmal würde es schon genügen, wenn wir einfach die uns schon recht früh verpasste Brille der Leistungs- und Effizienzmessung wegwerfen könnten! Man kann ja den bösen Satz eines politischen Korruptionsgenies – „Wos war mei Leistung?“ – auch einmal ins Gute konvertieren und sich in stillen Momenten ehrlich und genau ebendies fragen. Wenn ich so Rückschau halte, sehe ich ziemlich klar meinen inneren Baum mit seinen Blättern und vielleicht sogar Früchten. Der ist gewachsen, weil Jemand – nein, kein Schicksal, sondern mein großes Du! – es sich so für mich ausgedacht hat. Und viele kleine „dus“, die in meinem Leben an ihm vorübergegangen sind und dem Durstigen eine kräftige Kanne Wasser gespendet haben. Ich denke mir, das Wasser des Lebens heißt Vertrauen. Und es hat eine Schwester: die Zustimmung. Die fruchtlosen Zweige und die welken Blätter, die es an diesem Baum auch gibt, will ich einmal getrost aus dem Auge verlieren. Dass Ihre Kindheitsträume dem Buch „Valerie und die Gutenachtschaukel“ entsprungen sind, geschrieben von der wunderbaren Mira Lobe, freut mich besonders. Erstens weil die Schlüsselfigur ein Vater und imstande ist, die Kräfte der Fantasie in seiner kleinen Tochter zu wecken. Und zweitens weil Sie daraus den Wunsch abgeleitet haben, „die Welt zu bereisen“, Freundschaften über nationale und sprachliche Grenzen hinaus zu pflegen – und dass Sie sich diesen Wunsch auch erfüllen. Ich kenne das von meinen Enkelinnen. Ein gutes Training für junge Europäerinnen, da steckt doch Hoffnung drin, oder? Für mich war mit zwanzig schon eine Reise nach St. Pölten die Erkundung einer anderen Kultur (Achtung: Ironie!). Apropos Hoffnung für Europa: Wenn eine angeblich repräsentative Meinungserhebung zum Thema „Was glaubt Österreich“ bei jüngeren Befragten ergibt, dass sie in einem hohen Maß eine individualistische Lebensgestaltung bevorzugen, dann stimmt mich dies nicht allzu euphorisch. Ich dachte, das wäre überwunden, was Pippi Langstrumpf einer Generation vorgesungen und vorgelebt hat: „Ich mach’ mir die Welt / widdewidde wie sie mir gefällt …“ Nun müssen ja Individualisten nicht unbedingt Nationalisten oder Antidemokraten sein, aber wenn ich zum Beispiel der Bildungsstadtrat der Bundeshauptstadt wäre, würde ich mich für die Wiederkehr und Belebung des völlig verkommenen Unterrichtsprinzips „Politische Bildung“ starkmachen und nicht ein Schulfach „Demokratie“ einführen – auf Kosten des zumindest kulturgeschichtlich unverzichtbaren Religionsunterrichts. Liebe Frau Hirzberger, morgen gehe ich Johanneskrautblüten sammeln, da setze ich dann ein sehr heilsames Öl damit an. Hilft gegen innere Unruhe und überhaupt. Und: Verzeihen Sie mir, dass ich heute wieder einmal den „alten weisen Mann“ gegeben habe. Ich grüße Sie herzlich! KOMMENTAR „Wiederkehr“ der Religionsunterrichtsdebatte Wieder einmal alles falsch verstanden – und gar nicht so gemeint? Hört man Verantwortlichen der Neos dieser Tage zu, so lässt sich der Eindruck gewinnen, genau das wäre bei der vom Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr losgetretenen Debatte um den Religionsunterricht passiert. Zur Erinnerung: Der Bildungsstadtrat hatte am 11. Juni im Rahmen einer Präsentation von Zahlen zur Religionszugehörigkeit von Wiener Schülerinnen und Schülern – was an sich bereits einen zweifelhaften Beigeschmack aufweist – den verpflichtenden neuen Gegenstand „Leben in einer Demokratie“ anstelle des konfessionellen Religionsunterrichts gefordert. Kritik an dem Vorstoß kam postwendend und aus vielerlei Richtungen, sodass sich der Politiker noch am selben Tag zu einer Richtigstellung gezwungen sah. Religion solle weiter „freiwillig“ besucht werden können, die Aufregung der Religionsgemeinschaften sei also unbegründet, heißt es nun. „Durch die Einführung eines Unterrichtsfachs ‚Leben in der Demokratie‘ ändert sich am konfessionellen Religionsunterricht genauso wenig wie am Mathematikunterricht“, schrieb etwa der Neos-Abgeordnete Karl-Arthur Arlamovsky in einer Replik auf den Wiener evangelischen Theologen Ulrich H. J. Körtner in der Presse. Wiederkehr habe lediglich ausdrücken wollen, dass es bereits jetzt schon die Möglichkeit gebe, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Die Antwort auf die Frage, warum der Wiener Vizebürgermeister den Vorschlag dann überhaupt ventilierte, wenn sich sowieso nichts ändern solle, blieb Arlamovsky schuldig. „ Die Darstellung des angeblichen Status quo im Sinne des Politikers würde de facto mit einer Änderung der Verfassung einhergehen. “ Was bei der Debatte zudem meist übersehen wird und sich auch als Haken in der Argumentation der Neos herausstellt, ist das Faktum, dass der Religionsunterricht in Österreich laut dem Religionsunterrichtsgesetz sehr wohl ein Pflichtfach ist. Für die katholische Kirche ist dies auch durch das Konkordat, den völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Republik und dem Heiligen Stuhl, abgesichert; für andere Glaubensgemeinschaften gibt es analoge Regelungen. Allerdings gibt es die Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Sind die Schüler unter 14 Jahren, müssen in diesem Fall die Eltern eine Abmeldung vornehmen, danach können die Jugendlichen das selbst tun. In weiterführenden Schulen ist bei einer Abmeldung dann die Teilnahme am Ethikunterricht verpflichtend. In Volksschulen fehlt ein entsprechendes Alternativprogramm bislang. Die Darstellung des angeblichen Status quo im Sinne Wiederkehrs würde also de facto mit einer Änderung der Verfassung einhergehen. Dabei ist die oftmals von Ideologie geleitete Debatte hierzulande sicher keine neue. Erinnert sei an die teils erbitterten Kämpfe, die rund um die Einführung des verpflichteten Ethikunterrichts geführt wurden. Dass insbesondere die Religionsgemeinschaften kein großes Interesse daran haben, ihren Zugang zu den öffentlichen Schulen eingeschränkt zu sehen oder gar zu verlieren, liegt dabei auf der Hand. In Zeiten, in denen insbesondere die Kirchen in der Öffentlichkeit vielfach mit ihren Positionen in der Defensive sind, stellt der Religionsunterricht nach wie vor einen immensen Hebel dar. So sei der Religionsunterricht etwa für die zahlenmäßig kleine evangelische Kirche ein „unersetzlicher Zugang in den öffentlichen Raum“, betonte etwa kürzlich der Wiener Superintendent Matthias Geist unumwunden bei einer Podiumsdiskussion zur Zukunft des Religionsunterrichts. Keine Privatsache Dass Wiederkehr mit seiner Forderung weniger den christlichen oder jüdischen Religionsunterricht im Blick hatte, sondern vielmehr den Islam adressierte, ist dabei unbestritten. Unbeantwortet lassen die Neos allerdings weiterhin die Frage, warum ein Entfall des konfessionellen Religionsunterrichts tatsächlich die sicherlich vorhandenen religiösen Konflikte an den Schulen verringern würde. Das von Gegnern des Religionsunterrichts immer wieder ins Feld geführte Argument, jeder solle glauben, was er wolle, solange es im Privatbereich bleibe, läuft dabei ins Leere, weil es eben nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht. Wer ernsthaft glaubt, dass eine Verdrängung der Religionen aus dem öffentlichen Raum automatisch zu weniger Radikalismen führt, dem seien Beispiele aus Berlin oder Frankreich vor Augen geführt. Insgesamt sollte aber hinterfragt werden, ob denn tatsächlich jeder und jede in Österreich alles glauben dürfen sollte. Insbesondere wenn es um fundamentalistische Vorstellungen geht, in denen etwa Frauenrechte und der demokratische Rechtsstaat infrage gestellt werden, müssen auch hierzulande alle Alarmglocken schrillen. Um solchen Strömungen etwas entgegenzusetzen, braucht es künftig mehr, nicht weniger religiöse Bildung in der Schule. (Till Schönwälder) Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. 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DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Diskurs 13 Warum der Alleingang von Klimaministerin Leonore Gewessler ein massives Problem mit dem Rechtsstaat offenbart. Ein Gastkommentar als Replik auf den letztwöchigen FURCHE-Leitartikel. Der Zweck heiligt nicht die Mittel Die Ereignisse vom Vormittag des 17. Juni in Luxemburg sind allgemein bekannt: Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) stimmte im Rat der Umweltminister der EU- Verordnung zur Renaturierung zu und verschaffte damit dem Antrag des belgischen Ratsvorsitzes die nötige Mehrheit von 55 Prozent der EU-Staaten und 65 Prozent der EU-Bevölkerung (ohne Österreich wären es nur 64 Prozent gewesen). Der belgische Umweltminister verkündete strahlend das Ergebnis, das offensichtlich seinen Wünschen entsprach. Wie hatte er selbst abgestimmt? Er hatte sich der Stimme enthalten. Ein Widerspruch? Nein, nur ein scheinbarer. Belgien ist ein kompliziertes Konstrukt mit einer gesamtstaatlichen Regierung, Regionalregierungen für Flandern und der Wallonie sowie Sonderregelungen für Brüssel und noch einer Reihe von spezifischen Bestimmungen. Die innerstaatliche Willensbildung hatte letztlich die erwähnte Stimmenthaltung zur Folge. Das geschah völlig geräuschlos. Denn offensichtlich ist Belgien wohl ein komplizierter Staat, aber die handelnden Personen kennen die entsprechenden Regeln, und sie halten sich daran. Taktisches Spiel Österreich ist ein vergleichsweise einfach aufgebauter Staat. Es hat der Verfassung nach einen relativ starken Bund, der den Gesamtstaat vertritt und nominell einen – etwa im Vergleich zu Deutschland – eher schwach ausgeprägten Föderalismus. In der Praxis haben die Landeshauptleute jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung eine ziemlich starke Position errungen. Zu den nicht sehr umfangreichen Kompetenzen der Bundesländer gehört jedenfalls der Naturschutz. In der Angelegenheit der EU-Denaturierungsverordnung machten die Länder nunmehr von ihren rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch und legten die Umweltministerin gegen eine Zustimmung (de facto auf eine Enthaltung) fest. Die nachfolgende Erklärung von zwei SPÖ-Landeshauptleuten, sie wären eigentlich für die Verordnung, fällt unter taktisches Spiel, ist aber rechtlich irrelevant. Denn hätten sie aufgrund neuer Umstände ihre Haltung rechtswirksam än- Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Paul Mychalewicz „ Zur Regierungsfähigkeit gehört nicht nur Rechtstreue, sondern auch Pakttreue: ,Pacta sunt servanda.‘ “ dern wollen, dann hätten sie eine neue Sitzung mit neuem Beschluss anstrengen müssen. Diese Vorgangsweise zeugt nicht von besonderer demokratischer Reife. Von der EU-Denaturierungsverordnung ist aber auch die Landwirtschaft betroffen und damit der zuständige Ressortchef. Für diesen Fall gibt es ebenfalls eine Regelung, nämlich die Herstellung des Einvernehmens, worum sich das federführende Ministerium, in dem Fall jenes für Umwelt, zu kümmern gehabt hätte. Wie der Landwirtschaftsminister öffentlich unmissverständlich erklärte, hatte er sein Einverständnis nicht gegeben. In einem funktionierenden Rechtsstaat (siehe Belgien!) wäre somit die Angelegenheit erledigt gewesen. Die Umweltministerin wäre nach Luxemburg gefahren und hätte sich der Stimme enthalten. Das Stimmverhalten der Ministerin ist bekannt, wozu noch die rechtliche Beurteilung der zuständigen juristischen Instanzen zu erwarten ist. Was folgte, war aber das Überschreiten weiterer roter Linien: Leonore Gewessler denunzierte den seit Jahrzehnten unumstrittenen Verfassungsdienst, der ihre Vorgangsweise als nicht zulässig erklärte, als einseitig und besorgte sich Privatgutachten von nahestehenden Juristen. (Hat sie die Gutachten privat bezahlt?) Damit nicht genug. Um ihre Vorgangsweise – die hier juristisch nicht abschließend qualifiziert werden soll – zu bemänteln, streute sie medial Falschinformationen über Ministerkollegen, indem sie behauptete, diese hätten bei EU-Abstimmungen genauso gehandelt wie sie. Das ist unrichtig. Denn sowohl Norbert Totschnig in einer Agrarfrage als auch Gerhard Karner (beide ÖVP) bezüglich des Schengenbeitritts von Rumänien und Bulgarien waren nicht von einer Zustimmung eines anderen Ministeriums abhängig. (Beide Erklärungsmöglichkeiten – nämlich Nichtverstehen oder absichtliche Fehlinformationen – sind für ein Regierungsmitglied verheerend.) Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt gute Argumente, insbesondere die Ablehnung des Schengenbeitritts der beiden genannten Staaten für falsch zu halten, doch das ist eine politische und keine rechtliche Frage. Folgt das Recht der Politik? Was sind die Schlüsse aus den Vorgängen der letzten Tage und Wochen? Eine Partei, die erstmals Koalitionspartner einer Bundesregierung wurde und immer einen hohen moralischen Anspruch für sich reklamierte, hat ein massives Problem mit dem Rechtsstaat. Auch diesbezüglich sollen keine Missverständnisse entstehen: Natürlich haben sich Vertreter anderer politischer Parteien schon rechtliche Verfehlungen zuschulden kommen lassen und davon soll nichts kleingeredet werden. Doch vom Anspruch her haben die beiden ehemaligen Großparteien den Rechtsstaat nie in Zweifel gezogen. Nur eine andere Partei – derzeit (noch) in Opposition – wollte, dass das Recht der Politik folgen soll und nicht umgekehrt. Zur Regierungsfähigkeit gehört aber nicht nur Rechtstreue, sondern auch Pakttreue. In einer Koalitionsregierung muss man inhaltliche, aber auch personelle Vereinbarungen treffen. Das ist in jeder Zusammenarbeit so und darf nicht moralisch abqualifiziert werden. Auch dafür muss gelten: Pacta sunt servanda. Der Autor ist Historiker und Anglist sowie Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Wien. ZUGESPITZT Das wahre Gesicht gezeigt „So sind wir nicht“, meinte der Bundespräsident damals, nach Ibiza. Das war richtig – und doch auch falsch: Natürlich sind wir so. Nicht alle und immer, aber manchmal eben doch: ein bisserl korrupt, ein bisserl verschlagen, ein bisserl größenwahnsinnig. Damals, in dieser neureichen Villa auf Ibiza, hat sich eine ziemlich österreichische Visage ziemlich offenherzig gezeigt. Andere präsentieren ihr wahres Gesicht sogar auf offener Bühne: die Klimaministerin etwa, die alle greifbaren rechtlichen Hebel in Gang setzte, um im letzten Moment Europas Natur zu retten. „Die Grünen haben ihr wahres Gesicht gezeigt“, meinte daraufhin der Kanzler. Ob diese schonungslose Entlarvung für die kleinere Regierungspartei der Todesstoß oder die beste Wahlkampfhilfe aller Zeiten war, wird sich noch zeigen. Die Verfassungsministerin hat sicherheitshalber schon einmal ihr wahres Gesicht gezeigt und vor einem „weiteren Diktat aus Brüssel“ gewarnt. Dort, also in Europa, wundert man sich über Österreichs Janusköpfigkeit inzwischen wohl gar nicht mehr. Neuerdings können wir ja sogar Fußball spielen, in Berlin haben wir diese Woche unser wahres Gesicht gezeigt. Fast könnte man ein bisserl größenwahnsinnig werden. Aber wir sind ja nicht so. Doris Helmberger PORTRÄTIERT Der böse Wicht turtelt ungeniert mit dem Bösewicht Es ist das Zündeln, das Ungarns Premier zur Perfektion treiben will. Beschäftigt Viktor Orbán einen Ghostwriter, der ihm Sätze zusammenstellt, die einen Teil der (westlichen) Öffentlichkeit und/oder seine Gastgeber maximal provozieren? Oder aber nimmt sich Orbán schlichtweg kein Blatt vor den Mund? Keine der beiden Varianten ist sonderlich ansprechend. Denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der ungarische Regierungschef in den kommenden Monaten auf der internationalen Bühne – Ungarn hat von Juli bis Dezember 2024 die EU-Ratspräsidentschaft inne – sein Bösewicht-Image noch ungenierter darbieten wird. Einen Vorgeschmack erhielt man bei seinem jüngsten Besuch in Deutschland. So zeigte sich Viktor Orbán geschockt über das Land und darüber, wie es sich in seinen Augen verändert habe: „Es schmeckt nicht mehr wie früher, es riecht nicht mehr wie früher, dieses ganze Deutschland ist nicht mehr das Deutschland, das uns unsere Großeltern und Eltern als beispielhaft genannt haben.“ Vielmehr sei es nun „eine bunte, veränderte multikulturelle Welt“, in der Migranten „nicht länger Gäste“ seien. Für noch größere Verstörung sorgte die Bekanntgabe seines Ratspräsidentschaftsmottos. In Anlehnung an Donald Trumps Wahlkampfslogan lautet dieses: „Make Europe great again“. Nach seinen Aussagen gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe ist das alles, bloß nicht verwunderlich. Einmal mehr outete sich Orbán als Trump-Fan. Er sei für ihn der „Mann des Friedens“, der im Gegensatz zu vielen anderen US-Präsidenten keinen einzigen Krieg begonnen habe. Auch in puncto Ukrainekrieg setzte er auf einen neuerlichen Einzug Trumps ins Weiße Haus: „Der US-Präsident ist der einzige Mensch des Universums, der die entscheidenden beiden Anrufe in Kiew und Moskau machen könnte.“ Die Anrufe Orbáns dürften trotz Ratspräsidentschaft wohl weniger sehnlich erwartet werden. Ungarn ist in der EU isoliert, hat sich in eine Außenseiterrolle manövriert. Insgesamt werden in Brüssel (Ursula von der Leyen soll für eine weitere Amtszeit als Kommissionspräsidentin nominiert werden) viele Milliarden Euro an Fördergeldern zurückgehalten – wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Auch steht ein Artikel-7-Verfahren im Raum, das mit dem Entzug von Ungarns Stimmrechte enden könnte. Man muss kein Feuerwehrmann sein, um zu wissen, dass permanentes Zündeln einen Brand auslösen kann. (Brigitte Quint) Foto: APA / AFP / Silas Stein Viktor Orbán ist der Regierungschef jenes Landes, das ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Sein Motto: „Make Europe great again“.
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