DIE FURCHE · 26 10 Gesellschaft 27. Juni 2024 Dumpingpreise Ein halbes Kilo Karotten für 1,49 Euro: Diese Billigpreise gibt es auch wegen der Ausbeutung der ukrainischen und rumänischen Erntearbeiter. Die Sezonieri-Initiative kämpft für die Rechte von Erntearbeiterinnen und Erntearbeitern. Aktivistin Sónia Melo über die Übermacht des Handels und die Verantwortung der Konsumenten. „Sie arbeiten für fünf Euro pro Stunde“ landwirtschaftliche Felder offen, da können wir einfach reingehen und mit den Leuten sprechen. In Wien sind es meist Gewächshäuser, in die wir nicht einfach reinkönnen. Deswegen bieten wir seit letztem Jahr jeden Sonntag Deutschkurse in der Nähe der Gewächshäuser an und versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das ist niederschwellig und kostenlos. Nach dem Deutschkurs fragen wir, wie es ihnen bei der Arbeit geht, geben ihnen Infos zum Arbeitsrecht oder unterstützen sie bei Problemen. DIE FURCHE: Mit Corona hat die Gesellschaft festgestellt, dass wir ohne Migrantinnen und Migranten, mit geschlossenen Grenzen, schnell ein Problem bekommen. Wie nachhaltig war das? Melo: Leider überhaupt nicht. Während Corona war eine kurze Zeit der Wertschätzung da. Plötzlich musste man Leute aus der Ukraine und Rumänien einfliegen, da angeblich nur sie diese Arbeit machen konnten. Aber diese Aufmerksamkeit war sehr kurz und genauso schnell wieder weg. Dass Leute ein paar Meter vor der Haustür für fünf Euro pro Stunde arbeiten, ist wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. DIE FURCHE: Während Corona wurden nicht nur Leute eingeflogen, sondern es wurde auch versucht, Studierende zu motivieren, sich auf dem Feld zu betätigen ... Melo: Viele Studierende aus Österreich oder aus Deutschland sind dem Aufruf des Bundes gefolgt und haben auf dem Feld gearbeitet. Einige haben sich bei uns gemeldet und gesagt: „Es ist unglaublich, was da abgeht!“ Es macht einen Unterschied, ob man die Sprache kann, sich auskennt, weiß, welche Behörden es gibt. Studierende können sagen: „Das taugt mir nicht, ich suche mir einen anderen Job.“ Wer aus Serbien kommt und eine Beschäftigungsbewilligung braucht, kann das nicht machen, denn er bekommt die Beschäftigungsbewilligung nur für diesen einen Job. Das Gespräch führte Johannes Greß Auf dem Papier sind die Arbeitsrechte von Erntearbeitern in Österreich nicht schlecht. Das Problem: Sie werden viel zu selten eingehalten. Die Aktivistin Sónia Melo von der Initiative Sezonieri erzählt, welche Schlupflöcher die Betriebe nutzen und was Konsumenten tun können. DIE FURCHE: Wenn ich in den Supermarkt gehe, gibt es 500 Gramm Karotten für 1,49 und Kohl für 0,99 Euro – alles aus Österreich. Wie kommen diese niedrigen Preise zustande? Sónia Melo: Meist verdienen Erntearbeiterinnen und -arbeiter in Österreich viel weniger als das, was der Kollektivvertrag vorgibt. Die Kollektivverträge schreiben Mindestlöhne zwischen sieben und acht Euro netto pro Stunde vor, je nach Bundesland und Region. Ich habe noch nie einen Landarbeiter oder eine Landarbeiterin getroffen, die das verdient. Beispielsweise wird für Unterkunft und Verpflegung zu viel abgezogen, es werden keine Überstundenzuschläge, Nacht- oder Sonntagszuschläge bezahlt. An sich sind die Regelungen nicht schlecht – aber sie werden nicht eingehalten. DIE FURCHE: Woran liegt das? Melo: Als wir 2014 mit der Sezonieri-Kampagne begonnen haben, stellten wir fest, dass die meisten nicht wissen, was ihnen zusteht. 90 Prozent der Leute kommen nicht aus Österreich, die meisten sind aus Rumänien. Deswegen heißt die Kampagne Sezonieri, Rumänisch für „Saisonarbeiter“. Wir haben 2014 begonnen, mehrsprachige Flyer auf den Feldern zu verteilen, mit Hotlines für Beratungsangebote in verschiedenen Sprachen, anonym, kostenlos und in ihrer Muttersprache. Trotzdem nehmen viele die Ausbeutung in Kauf, weil sie den Job brauchen. Sie haben keine Alternativen. DIE FURCHE: Ist Unterbezahlung die Ausnahme oder die Regel? Melo: Die Regel. Bauernvertreter reden in Österreich sehr gerne von einzelnen schwarzen Schafen, aber de facto hat die Ausbeutung System. Gerade in Österreich haben wir im Handel eine sehr hohe Machtkonzentrationen, es gibt nur drei Handelsketten: Rewe, Spar und Hofer. Die Produzentinnen und Produzenten haben sehr wenig Spielraum, denn die drei Großen diktieren die Preise. Wir haben vor Jahren anhand eines Bunds Radieschen versucht, den Anteil zu berechnen: Der Landarbeiter erhält etwa drei Prozent des Verkaufspreises, der Handel 55 Prozent. „ In Simmering erfahren Leute im Vorhinein von Kontrollen. Die nicht angemeldeten Arbeiter gehen dann ‚eine Runde spazieren‘. “ Lesen Sie auch „Papst Franziskus und das Grundeinkommen“ (28.9.21) von Markus Schlagnitweit auf furche.at. DIE FURCHE: Das heißt, die Bauern sind nicht die „Ausbeuter“? Melo: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Klein- und Großbetrieben. Die Kleinen stehen unter Druck, in den letzten 30, 40 Jahren wurden die landwirtschaftlichen Betriebe in Österreich immer weniger, aber dafür größer. Nur Großbetriebe mit hohen Stückzahlen und modernsten Maschinen schaffen es bei solchen Preisen, konkurrenzfähig zu bleiben. DIE FURCHE: Welche Verantwortung tragen die Konsumentinnen und Konsumenten? Melo: Ich finde, wir haben als Konsumenten einen gewissen Spielraum. Unsere Kaufentscheidung ist wichtig, aber ich finde nicht, dass wir die Verantwortung haben, das System zu verändern. Diese sollte bei den Produzierenden und der Politik liegen. DIE FURCHE: Wie kam es zur Gründung von Sezonieri? Melo: Es gab 2013 einen wilden, nicht von der Gewerkschaft organisierten Streik von 70 Landarbeitern, die für den größten Gemüsebauer in Tirol gearbeitet haben. Sie kamen überwiegend aus Rumänien, haben sich ohne Unterstützung der Gewerkschaft organisiert und die Arbeit niedergelegt. Der damalige Bundessekretär für Sozialpolitik der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, René Schindler, wollte eine Unterstützungskampagne ins Leben rufen. Er hat Aktivistinnen, Aktivisten und NGOs ins Boot geholt und unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten, beispielsweise aus der Antirassismusarbeit, zusammengebracht. DIE FURCHE: Was können Sie, was die PRO- GE nicht kann? Melo: Einerseits tut sich der ÖGB mit Migrantinnen und Migranten nicht leicht, historisch, aber eigentlich bis heute. Oft ging es darum, den Arbeitsmarkt für „unsere Leute“ zu schützen. Andererseits sind Gewerkschaften heute sehr institutionalisiert, die arbeiten von Montag bis Freitag – aber bei Landarbeiterinnen und -arbeitern muss organizing am Sonntag stattfinden, das ist der einzige Tag, an dem sie frei haben. Es braucht Leute, die aus dem Büro raus auf die Felder gehen und dort mit ihnen reden. Das macht die Gewerkschaft nicht – wir schon! DIE FURCHE: Was machen Sie, wenn Sie auf die Felder gehen? Melo: In den meisten Regionen in Österreich sind Foto: Sezonieri Sónia Melo will bessere Bedingungen in der Erntearbeit. DIE FURCHE: Sezonieri gibt es seit zehn Jahren. Was hat sich seither verbessert? Melo: Leider viel zu wenig. Was wir beispielsweise in Tirol oder im Burgenland merken, weil wir dort seit vielen Jahren aktiv sind: Viele Bauern haben Angst vor schlechter Publicity, und deswegen halten sie die Mindeststandards ein. In der Vergangenheit gab es viele Medienberichte über diverse Skandale, vor dem haben sie Angst. Wenn du einen schlechten Ruf hast, hast du bald keine Abnehmer mehr. Teil unserer Arbeit ist es daher, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Niemand in Österreich kann heute sagen: Ich habe noch nie etwas von Ausbeutung in der Landwirtschaft gehört. Ich würde sagen, das ist zumindest ein kleiner Erfolg. Aber als wir mit Sezonieri begonnen haben, war mir klar, dass dieses Thema in zehn Jahren nicht erledigt sein wird. DIE FURCHE: Was bräuchte es konkret, um etwas zu verbessern? Melo: Das, was die Gewerkschaft mit der Sezonieri-Kampagne macht, ist ein großer Schritt. Im Grunde setzen sie Geld für Nichtmitglieder frei, was für Gewerkschaften untypisch ist. Aber es gibt politisch einige Schrauben, an denen man drehen könnte. Die wichtigste ist: mehr Kontrollen, unangekündigte Kontrollen. In Simmering bekommen wir von den Leuten erzählt, dass sie von Kontrollen schon im Vorhinein erfahren. Die nicht angemeldeten Arbeiter und Arbeiterinnen gehen dann „eine Runde spazieren“. Das hat mit einer Kontrolle nichts zu tun. Foto: Niewo DIE FURCHE: Wie wird Sezonieri in zehn Jahren aussehen? Melo: Das Beste wäre, wenn’s uns nicht mehr braucht. Die Vision ist, dass das eines Tages auch ohne uns läuft.
DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Bildung 11 Lehrkräftemangel, psychische Krisen, hilflose Eltern: Zum Schulschluss gibt der Leiter einer Wiener Mittelschule einen ungeschönten Einblick in die Probleme, mit denen er tagtäglich konfrontiert ist. Über den Versuch, ein brennendes Haus mit Wasserpistolen zu retten. Feueralarm im Klassenzimmer Von Michel Fleck B escheide werden gedruckt, Akten gebündelt, Aufzeichnungen dokumentiert und Berufungen behandelt. Ganz normaler Schulalltag rund um den Schulschluss. Ach ja, und mit den Kindern unternehmen wir auch noch was. Und ferienreif sind alle, Lehrer wie Schüler. Denn nicht nur der ganz formale Wahnsinn wird von Jahr zu Jahr mehr … Da gibt es noch viel größere Probleme: Nahezu wöchentlich lesen wir Schlagzeilen, welche die schlimmen Zustände an den Schulen beschreiben. Lehrermangel, psychische Krisen, hilflose Eltern, Segregation, Handys … Die Herausforderungen, um es vorsichtig positiv zu formulieren, sind zahlreich. Immerhin, seit diesem Schuljahr gibt es neue Lehrpläne. Jahrelange Arbeit von Experten, gute Arbeit, zugegebenermaßen – in Wahrheit aber nur Kosmetik. Das Haus brennt, und wir entwickeln bessere Wasserpistolen. Hm. Da braucht es mehr. Wo die größten Herausforderungen liegen, ist schwer zu sagen. Beginnen wir bei den psychischen Baustellen der Kinder. Nicht erst seit Covid präsent. Dazu die geopolitische Situation: Diktatoren, Klimakrise, Kriege … Das bewirkt etwas. Und daheim? Und ob es in allen Familien so fröhlich ist wie auf den Insta-Posts der Mamis, sei infrage gestellt. Diese psychischen Probleme apern in der Schule aus. Und wir Lehrer wollen helfen. Doch können wir das? Wenn sich ein Kind das Bein bricht, holen wir Hilfe. Aber wenn sich ein Kind ritzt, weint, zurückzieht? Holen wir hier Profis? Nein, wir werden zu Psychologen – dilettantisch und auf Kosten der eigenen psychischen Gesundheit. Das Pilotprojekt „School Nurses“ in Wien läuft noch bis Ende des Jahres … Ein famoses Konzept! Aber nur eine Wasserpistole. Kernkompetenz und Klischeekinder Aber es gibt ja die Eltern. Die kümmern sich um Probleme der Kinder wie um deren Erziehung. Sie sprechen über Sorgen, helfen bei Krisen, spielen, basteln, lesen vor und bringen den Sprösslingen den verantwortungsvollen Umgang mit Smartphones bei. Oder so. Die Mutter mit Smartphone am Kinderwagen, in dem ein Fast-noch-Baby am Tablet spielt, ist inzwischen ein Klischee. Leider. Erste Forschungsergebnisse attestieren derlei Klischeekindern deutlich verminderte Intelligenzentwicklung. Es gibt schon Kinder mit Erstsprache Deutsch, die an den Sprachtests für Flüchtlinge scheitern. An manchen Schulen machen Lehrer die IKM-Testungen gemeinsam mit den Kindern – um die katastrophalen Ergebnisse zu verhindern, für die sie von der Schulleitung eins auf den Deckel bekämen, diese wiederum von der Bildungsdirektion, die vom Ministerium. Die Kinder haben andere Kompetenzen. Tiktok zum Beispiel geht gut. Laut Nutzungsbedingungen muss man 13 Jahre alt sein, um diese App zu nutzen, unter 18 braucht es die Einwilligung der Eltern, und unter 14 darf man gar kein Konto eröffnen. Na ja. Zumindest beschäftigen sich die Kinder ruhig. Aber irgendwann endet die Ruhe. Welche der oben genannten Dinge Auslöser sind, wenn jemand auszuckt, wissen wir nicht. Eine neue Tiktok-Challenge? Cyber mobbing, flaming, FOMO? Frustration über eigenes Unvermögen? Neid? Oder einfach Probleme mit sich selbst? Wohl alles zusammen. Jedenfalls lesen wir immer mehr Schlagzeilen über Gewalt und Straftaten von Jugendlichen, und wer meint, das sei nur Medienbias, möge sich zu Schulschluss neben eine Brennpunktschule stellen. QED, diggah. Ob es hilft, Lesen Sie auch „Bildungsgerechtigkeit: Die Bedingungen des Gelingens“ von Katharina Tiwald (30.6.21) auf furche.at. „ Während wir – die Bubble der Bildungsnahen – mit unseren Kindern zum pädagogisch wertvollen Urlaub auf dem Bauernhof starten, hängen andere im Park oder auf Tiktok ab. “ das Alter für Strafmündigkeit zu senken, ist fraglich. Zurück zum Schuljahresende: Verteilen wir also Zeugnisse, auf denen Ziffernnoten sauber Auskunft darüber geben, wie kompetent unsere Kinder sind. Dann beschäftigen wir uns mit den Rechtsstreitigkeiten derer Eltern, die mit o. g. Ziffernnoten nicht glücklich sind. Aber irgendwann ist auch das letzte Formular dieses Schuljahres ausgefüllt, die letzte Schularbeit im Archiv. Und wenn wir – die bubble der Bildungsnahen – mit unseren Kindern zum pä dagogisch wertvollen Urlaub auf dem Bauernhof starten, während andere den ganzen Sommer im Park abhängen oder auf Tiktok, blicken wir nach vorn: Da ist noch Hoffnung! Zugegeben – für diese (und viele andere) Probleme Lösungen zu finden, ist alles andere als einfach. Aber es gibt gute Ideen, tolle Initiativen, kluge Köpfe, echte Lösungsansätze. Die sind nicht auf zwei Seiten erklärt und wirken nicht von heute auf morgen. Reformen im Bildungssystem brauchen Mut und dauern länger als Legislaturperioden. Aber eines steht fest, mit Wasserpistolen werden wir den Brand nicht bekämpfen – so schön wir sie auch präsentieren! Der Autor ist Schulleiter an der WMS/RG/ORG Antonkriegergasse in Wien. Jetzt anmelden! Lesen Sie schon FURCHE-Newsletter? Unsere neuen Ressort-Newsletter verpacken aktuelle Geschichten aus Ihren Lieblingsressorts – und das noch vor Erscheinen der Zeitung. Das Beste: Jeder Tag ist einem fixen Thema gewidmet. 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