DIE FURCHE · 17 4 Das Thema der Woche Die Medien sind frei! 27. April 2023 DIE FURCHE: Bietet das nicht gleichzeitig auch eine Chance für lokale Journalistinnen und Journalisten vor Ort? Ludescher: Es kann eine Chance sein sowohl für Expertinnen und Experten vor Ort als auch für eine Berichterstattung aus nicht-westlicher Perspektive. Allerdings muss hier die Bereitschaft der Redaktionen vorhanden sein, auf diese Journalistinnen und Journalisten zurückzugreifen und sie auch fair zu bezahlen. Beispiel Afrika Ladislaus Ludescher: „Im ARD-Studio in Nairobi, Kenia, sind zwei Personen für 38 afrikanische Staaten mit rund 870 Millionen Menschen zuständig.“ Das Gespräch führte Milena Österreicher Wie oft lesen, sehen oder hören wir in unseren Medien von Ländern des Globalen Südens? Der Germanist und Historiker Ladislaus Ludescher von der Universität Frankfurt ging dieser Frage in seiner Langzeitstudie (2007–19) „Vergessene Welten und blinde Flecken“ nach. Er analysierte Zeitungen, wie die US-amerikanische Tageszeitung Washington Post, den britischen Guardian, die französische Le Monde oder das deutsche Magazin Der Spiegel sowie diverse TV-Nachrichtensendungen, darunter über 5000 Sendungen der ARD- Tagesschau. In einer Ergänzungsanalyse nahm er nun erstmals auch zwei österreichische Medien unter die Lupe. DIE FURCHE: In Ihrer aktuellen Untersuchung haben Sie Jahresrückblicke von 2022 analysiert, darunter auch die der österreichischen Medien Profil und Kronen Zeitung. Unterscheiden sich die Ergebnisse von ihrer Langzeitanalyse? Ladislaus Ludescher: In allen Medien zeigte sich ein ähnliches Muster wie in meiner Langzeituntersuchung: Nur rund elf Prozent der Beiträge waren dem Globalen Süden gewidmet. Auch die beiden österreichischen Medien reihten sich hier ein: Die Kronen Zeitung bildete mit drei Prozent das Schlusslicht, das Profil kam auf rund zehn Prozent. Bereits am 20.6.2001 analysierte Matthias Greuling eine diesbezügliche Studie zum ORF, siehe „ORF blendet 3. Welt aus“ auf furche.at. Der Globale Süden kommt in westlichen Medien kaum vor. Der deutsche Historiker Ladislaus Ludescher im Gespräch über die Ursachen und Konsequenzen der medialen Vernachlässigung. „Keine gute Entwicklung“ DIE FURCHE: Einerseits ist die niedrige Zahl erschreckend. Gleichzeitig ist zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass eher über etwas berichtet wird, das quasi vor der Haustür liegt. Warum ist die geringe Berichterstattung über den Globalen Süden dennoch problematisch? Ludescher: Es ist keine gute Entwicklung, wenn wir uns nur auf uns selbst konzentrieren und Ereignisse, wie Kriege und Katastrophen, die 2022 stattgefunden haben – und die teilweise immer noch stattfinden –, an uns unbemerkt vorüberziehen lassen. Es ist aus menschlicher Sicht nicht in Ordnung, das zu ignorieren. Es geht aber auch darum, dass uns als wirtschaftsstarken Staaten eine Verantwortung zur Hilfe zufällt, der wir nachkommen sollten. Wir leben in einer globalen Welt und profitieren stark von dieser Vernetzung, blicken aber weniger auf die negativen Seiten dessen. DIE FURCHE: Welche Ereignisse wurden mehrheitlich medial ignoriert? Ludescher: Weder die eskalierende Gewalt und humanitäre Krise in Haiti, der landesweite Notstand in Peru oder der Militärputsch in Burkina Faso kamen groß in Medien des Globalen Nordens vor. Es gab eine Jahrhundertflut in Pakistan, bei der 1700 Menschen starben und rund 33 Millionen Menschen obdachlos wurden. Laut Weltgesundheitsorganisation hat sich die Zahl der Malariatoten im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie um etwa 50 Prozent auf 619.000 erhöht. Das wird kaum öffentlich zur Kenntnis genommen. Ein weiteres Beispiel ist der Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray, wo seit seinem Ausbruch 2020 circa eine halbe Million Menschen gestorben sind. „ Weder die eskalierende Gewalt in Haiti, der landesweite Notstand in Peru oder der Militärputsch in Burkina Faso kamen groß in Medien des Globalen Nordens vor. “ Laut Vereinten Nationen (UN) war er vergangenes Jahr der größte kriegerische Konflikt weltweit – obwohl wir hier wohl eher an die Ukraine gedacht hätten. DIE FURCHE: Wie kommt es zu dieser medialen Vernachlässigung? Ludescher: Einerseits haben wir eine mediale Echokammer. Ein Medium informiert zu einem gewissen Thema, die meisten anderen Medien springen darauf auf und berichten über dasselbe. So werden die immer gleichen Geschichten wiederholt. Redaktionen werden zudem ausgedünnt, viele Medien verfügen über keine eigenen Korrespondentenbüros mehr und sind auf Nachrichtenagenturen angewiesen. Im ARD-Studio in Nairobi, Kenia, sind beispielsweise zwei Personen für 38 afrikanische Staaten mit rund 870 Millionen Menschen zuständig. Foto: Privat Foto: iStock / mohamed rouggani DIE FURCHE: Was sind die konkreten Auswirkungen, wenn über gewisse Ereignisse oder Regionen nicht berichtet wird? Ludescher: Wir können nur auf Dinge reagieren, von denen wir wissen, die also in unser Bewusstsein gelangt sind. Problematisch wird es daher, wenn für gewisse Themen die notwendige Aufmerksamkeit fehlt. Ein Beispiel ist der globale Hunger: Er wird vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen als größtes lösbares Problem bezeichnet. Laut UN-Welternährungsbericht leiden etwa 828 Millionen Menschen an Hunger. Es gibt verschiedene Kalkulationen, wie viel Geld nötig wäre, um das Problem bis 2030 zu lösen. Die Zahlen variieren je nach Zielsetzung zwischen 15 bis 40 Milliarden Euro jährlich. Wenn man bedenkt, wie wenig Geld das relativ gesehen für so ein fundamentales Problem ist, schaltet sich zumindest bei mir sofort der Gerechtigkeitssinn ein. Allein in Deutschland haben wir vor kurzem beispielsweise im Kontext des Ukrainekrieges ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr eingeführt. Medial wird das Thema Hunger aber kaum behandelt. In der deutschen TV-Nachrichtensendung „Tagesschau“ wurde 2022 beispielsweise über die britische Königsfamilie umfangreicher berichtet als über den globalen Hunger, und über Sport mehr als über den gesamten Globalen Süden. DIE FURCHE: Welche Themen haben sich hingegen erfolgreich im medialen Diskurs durchgesetzt? Ludescher: Hier ist der Klimawandel ein gutes Beispiel. Wir können sehen, dass Geld für Themen zur Verfügung gestellt werden, die den Diskurs dominieren und so dann auch politisch behandelt werden. Der Klimawandel ist mittlerweile in aller Munde. Es gibt kaum Politiker und Politikerinnen, die sich davor noch verschließen können, auch wenn Maßnahmen immer noch zu langsam kommen. Aber das Thema ist im öffentlichen Diskurs angekommen und sehr präsent. Ich würde mir wünschen, dass etwa das Hungerthema genauso ernst genommen werden würde und insgesamt der Globale Süden präsenter wäre. Auch Hilfsorganisationen beklagen immer wieder, dass bei Katastrophen oft Spendengelder fehlen, wenn Medien nicht darüber berichten. DIE FURCHE: Wir sprechen hier vor allem von negativen Ereignissen wie dem Hunger, Krieg oder Naturkatastrophen. Wird so nicht weiterhin ein negatives Bild des Globalen Südens konstruiert? Ludescher: Leider wird in diesem Kontext tatsächlich fast ausschließlich über Krisen, Kriege und Katastrophen berichtet. Das Fehlen von positiven Beispielen verringert so die Wahrnehmung des Globalen Südens auf eine Erzählung, die der Realität so nicht gerecht wird. Ich würde mir wünschen, dass Redaktionen einerseits zu der Erkenntnis kämen, dass zehn Prozent Berichterstattung über einen Raum, der 85 Prozent der Weltbevölkerung verkörpert, zu wenig ist. Gleichzeitig sollten positive Beispiele mehr ins Licht gerückt werden, ohne dabei Probleme kleinreden zu wollen. Nächste Woche im Fokus: Eine FURCHE-Debatte über Verbrenner-Aus und Verkehrswende-Ein im „Autoland Österreich“ (© Bundeskanzler Karl Nehammer) sowie der Ausblick in eine nicht so ferne „Hyperloop“-Zukunft zeigen, wie individuelle Mobilität mit globaler Klimaverantwortung einhergehen könnte.
DIE FURCHE · 17 27. April 2023 Das Thema der Woche Die Medien sind frei! 5 Wie ist der Verlust von Vertrauen in die klassischen Medien zu erklären? Und was ist die Rolle von Journalist(inn)en? Das neue „Jahrbuch für Politik“ wie auch das „Jahrbuch für politische Beratung“ widmen sich u. a. diesen aktuellen Fragen. In der Spektakeldemokratie Von Doris Helmberger Was hatte der österreichische Rechtsphilosoph und Publizist René Marcic vor Augen, als er 1955 in einem Essay in den Juristischen Blättern von den Medien als „Vierter Gewalt“ im Staate sprach? Wohl keinen politischen Aktivismus, ist Christian Ultsch, stellvertretender Chefredakteur der Presse, überzeugt. Denn: „Es ist nicht die Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen. Das wäre dann ein anderer Beruf. Es reicht, die Wirklichkeit einzufangen und Politikern auf die Finger zu schauen – und gegebenenfalls zu klopfen.“ Das Vertrauen darauf, dass Journalistinnen und Journalisten genau diese Rolle des Wirklichkeits-Deuters bzw. Watch Dogs erfüllen, sinkt freilich dramatisch. Zugleich wächst der Verdacht, die „Mainstream-Medien“ hätten die Absicht, „die von Politik in ungebührlicher Weise zu beeinflussen, unliebsame Phänomene systematisch auszublenden und das öffentliche Meinungsbild einseitig zu manipulieren.“ Publik gewordene Chat-Protokolle haben diesem Pauschal(vor)urteil weiter Nahrung gegeben. Und doch ist die Annahme, dies sei der Regelfall, eine groteske Verzerrung, so Ultsch im neuen „Österreichischen Jahrbuch für Politik“: „Von orchestrierten Versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren, kann keine Rede sein. Bei Anschuldigungen dieser Art handelt es sich um Verschwörungstheorien. Es existieren keine journalistischen Geheimbünde, die die Weltherrschaft anstreben.“ Dass derlei anno 2023 – wenn auch lakonisch – festgestellt werden muss, zeigt die dramatische Vertrauenskrise traditioneller Medien. Mit Recht ist ihnen deshalb im aktuellen „Jahrbuch für Politik“, das seit 1977 von der Politischen Akademie der ÖVP herausgegeben wird (aber weltanschaulich durchaus diversen Autor(inn)en befüllt wird), ein eigenes Kapitel gewidmet. Wo liegt also das Problem? So absurd Verschwörungstheorien seien, meint Christian Ultsch, so sehr sei durch Empörungsmedien wie Twitter eine „Unkultur der Verächtlichmachung“ und in der Folge in den klassischen Medien eine „Tendenz zu einem publizistischen Herdentrieb und Konformitätszwang“ entstanden. Die Lust an der Debatte sei gesunken, die Angst vor Anfeindungen und Shitstorms gestiegen. Auf der Strecke bleibe das Ringen um Argumente und die Achtung vor der Meinung anderer. Ähnlich argumentiert auch die Chefredakteurin des Kurier, Martina Salomon: Diese Angst habe in der Politik „ Es existieren keine journalistischen Geheimbünde, die die Weltherrschaft anstreben. Hier handelt es sich um Verschwörungstheorien. “ Christian Ultsch „farblose Sprechpuppen“ entstehen lassen – und Populisten umso breiteren Raum eröffnet. Entgegen dem Eindruck der Chats sei die „Verhaberung“ zwischen Politik und Medien im Vergleich zu früher deutlich zurückgegangen. Etwas anders die Stoßrichtung von Petra Stuiber vom Standard. Freunderlwirtschaft, Machtmissbrauch und Chataffären hätten das Vertrauen ausgehöhlt – und das Phänomen der Nachrichtenverweigerung weiter befeuert. Dazu käme eine (türkis-grüne) Medienpolitik, die nichts ernsthaft ändern wolle: Bis jetzt fehle ein Informationsfreiheitsgesetz, dazu komme die mutwillige Demontage der Wiener Zeitung, bei welcher der Staat als Eigentümer jahrelang die nötige Transformation verabsäumt habe. „Gleichzeitig sollen die kläglichen verbleibenden Reste der Redaktion eine Ausbildungsstätte für Journalisten aufbauen, die dem Bundeskanzleramt unterstellt ist“, kritisiert Stuiber. U. a. dagegen – wie auch gegen das Ende der Wiener Zeitung angesichts ohnehin überschaubarer Medienvielfalt – wurde Dienstag dieser Woche in Wien nochmals protestiert. Auch in einem zweiten rezenten Sammelband, dem „Jahrbuch für politische Beratung“, widmet man sich dem journalistischen Selbstverständnis. FUR- CHE-Politik-Redakteurin Brigitte Quint thematisiert darin etwa, wie „Qualitätsjournalismus auf Basis christlicher Tugenden“ auszusehen habe. Versäumnisse sieht sie etwa darin, den Aufmerksamkeits-Fokus nur auf den reichen globalen Norden zu richten (vgl. Seite 4), angesichts aktueller Ereignisse (Stichwort Ukrainekrieg) auf andere Krisenschauplätze zu vergessen und zu sehr in der eigenen Journalisten-Blase zu verharren. Nicht nur für Medienleute hilfreich wäre schließlich, sich auf jene demokratischen Tugenden zu besinnen, die Marie-Luisa Frick in diesem Sammelband in Erinnerung ruft: Konfliktfähigkeit, Urteilskraft und demokratische Demut im Umgang mit Andersdenkenden. Denn davon – und nur davon – lebe der „Geist der Demokratie“. Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 Hg. von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch, Günter Ofner Böhlau 2023 544 S., kart, € 49,– Jahrbuch für politische Beratung 2021/2022 Hg. von Thomas Walter Köhler und Christian Mertens, Edition Mezzogiorno 2023 352 S., kart, € 33,– Sie haben Fragen an das Bundeskanzleramt? service@bka.gv.at 0800 222 666 Mo bis Fr: 8 –16 Uhr (gebührenfrei aus ganz Österreich) +43 1 531 15 -204274 Bundeskanzleramt Ballhausplatz 1 1010 Wien ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich auf Ihre Fragen und Anliegen! bundeskanzleramt.gv.at
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