DIE FURCHE · 98 International27. Februar 2025LuisLacalle PouSchon sein Vaterwar Präsident. Der51-Jährige war 15Jahre lang Abgeordneterdes Unterhauses,fünf JahreSenator und fünfJahre Präsident. Einedirekte Wiederwahlverbietetdie Verfassung.Von Philipp AxmannEs passt so gar nicht in den internationalenTrend: Wenn am 1.März die linke Koalition „BreiteFront“ die bisher regierendeliberal-konservative „RepublikanischeKoalition“ in der Regierung vonUruguay ablöst, dann wird das in einigermaßengroßer gegenseitiger Wertschätzunggeschehen. Keine Kettensägen, keineDisruption, kein „alles anders“.Mitte-links löst Mitte-rechts ab, so wiees vor fünf Jahren umgekehrt geschah. InUruguay funktioniert das vergleichsweiseunaufgeregt. Das fällt angesichts immerweiter nach links- und rechtsaußenpendelnder Wahlergebnisse in Südamerikaauf. Neu ist die demokratische StabilitätUruguays aber nicht. Das Land liegt inden meisten Demokratieindizes auf Platzeins von Südamerika. Im weltweiten Vergleichschneidet das Land mit 3,4 MillionenEinwohnern gleich gut ab wie Österreich,Großbritannien oder Australien undliegt in den Top-20.Wie so viele Länder Südamerikas erlebteUruguay im 20. Jahrhundert eine Militärdiktatur.1984 fanden erstmals wiederfreie Wahlen statt. Aus der Zeit der Diktaturhaben die Uruguayos den Wert der Demokratieschätzen gelernt: Seither kames zu keinen Experimenten an den politischenRändern, die meisten PräsidentenDAS LANDLesen Sie ausUruguay auchdie Geschichte„Verspätete Reueeiner Militärdiktatur“vonWerner Hörtner(11.4.2002) auffurche.at.„Republik Östlich des Uruguay“Uruguay hat3,4 MillionenEinwohner.1,4 Millionen davonleben in der HauptstadtMontevideo.Das Land ist in 19departamentos unterteilt.ARRío NegroSorianoColoniaSaltoRio dela PlataArtigasPaysandúFloresSanJoséDuraznoFloridaMontevideoRiveraTacuarembóFoto: Gastón Britos / agencia FocoUy/ para Presidencia de la República Oriental del Uruguay; fotografía oficialIn Uruguay findet diese Woche ein Machtwechsel statt – dochanders als etwa in Argentinien oder Brasilien gelingt das ohnePolarisierung. DIE FURCHE war vor Ort und traf den Präsidenten.„Reaktiv gibt eskeinen Erfolg“LavallejaCanelonesMaldonadoBrasilienCerro LargoTreinta y tresRochaAtlantischerOzeanseither kann man als gemäßigt bezeichnen.Das dürfte sich für das Land gelohnt haben:Es hat das höchste Bruttoinlandsproduktpro Kopf aller südamerikanischenLänder, die Hauptstadt Montevideo mit1,4 Millionen Einwohnern gilt als die lebenswertesteStadt des Kontinents. Uruguayist gewissermaßen das „ÖsterreichSüdamerikas“. Einige Parallelen tun sichauf. Allen voran das Verhältnis zum vielgrößeren, gleichsprachigen Nachbarn Argentinien:Es ist von freundschaftlicherAbneigung bei gleichzeitiger wirtschaftlicherVerbundenheit geprägt. Uruguay istklein, man hat den Eindruck, dass jeder jedenkennt. Es ist beschaulich. Positiv ausgedrückt:entspannt; negativ ausgedrückt:langweilig. Gerade die Hauptstadt Montevideokann es mit dem Tempo von BuenosAires – das nur eine Fährenfahrt entferntauf der anderen Seite des Stromes Río de laPlata liegt – nicht aufnehmen.Nach der Zeit der Militärdiktatur entstandin Uruguay eine Verfassung, die einigeUnterschiede zu weit verbreiteten westlichenVarianten besitzt: Erstens bestehtim Land eine Wahlpflicht, die auch exekutiertwird. Ohne guten Grund nicht zu wählen,wird mit einer Buße von rund 40 Eurogeahndet. Studierende,die nicht wählen, dürfenfür zwei Semesterkeine Prüfungen absolvieren.Das Resultat:Wahlbeteiligungen umdie 90 Prozent.Eine besonders be-YamandúOrsiDer frühereLehrer konnte diePräsidenten-Stichwahlam 24. November2024 für sichentscheiden.achtenswerte Verfassungsbestimmung:InUruguay darf ein Präsidentnicht unmittelbarnach einer Amtszeitwiedergewählt werden.Nach einer Legislaturperiode Pause darf erallerdings wieder um das Präsidentenamtkandidieren. Erfolgreich gelungen ist dasdem ersten Präsidenten nach der Diktatur:Julio María Sanguinetti der liberalen PartidoColorado regierte von 1985 bis 1990 undvon 1995 bis 2000. Dazwischen regierte LuisAlberto Lacalle von der „Partido Nacional“.Sein Sohn Luis Lacalle Pou ist gegenwärtigPräsident. Und sein Großvater LuisAlberto de Herrera prägte dieselbe Parteiin der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsals langjähriger Vorsitzender. Überhauptdominieren einige politische Familien dasLand seit Jahrzehnten: Die Familie BatlleFoto: APA/ AFP / Sergio Lima„ Es gilt Wahpflicht:Das Bußgeld beträgtrund 40 Euro.UndStudierende, dienicht wählen, dürfenfür zwei Semesterkeine Prüfungenabsolvieren. “etwa stellte für die Colorado-Partei zwischen1868 und 2005 vier Präsidenten undzuletzt bis 2020 die Außenministerin.Der Präsidenten- und Regierungswechselfindet in Uruguay immer am 1. März statt.Die letzten fünf Jahre regierte Luis LacallePou, ursprünglich Rechtsanwalt und langjährigerBerufspolitiker. Die erste Hälfte seinerAmtszeit war vom Ausbruch und Kampfgegen die Corona-Pandemie geprägt. LacallePou setzte dabei auf das Konzept der libertadresponsable – der verantwortungsvollenFreiheit. Uruguay kam dabei ohne scharfeLockdowns aus und ging somit einen ähnlichenWeg wie etwa Schweden. Eine zentraleRolle im national und international positiveingeschätzten Pandemie-Managementspielte ein Expertengremium aus bekanntenWissenschaftlern.Umweltministerium geschaffenTrotz der Pandemie verabschiedete dieRegierung noch im April 2020 das Ley deUrgente Consideración – das „Gesetz zurdringlichen Behandlung“. Es handelt sichdabei um ein rund 500 Artikel umfassendesGesetz, das die zentralen Wahlkampfforderungenvon Lacalle Pou enthält.Durch das Gesetz wurden einige Bestimmungendes Strafgesetzes verschärft, dasStreikrecht verändert, die Organisationdes Bildungssystems neu geordnet und einUmweltministerium geschaffen. Von derOpposition und der Gewerkschaft wurdeneinige Artikel des Gesetzes kritisiert, sieinitiierten mittels Volksbegehren ein Referendumüber die Abschaffung von 135 Artikelndes Gesetzes. Die Volksabstimmungfand am 27. März 2022 statt und erhielt mit48,7 Prozent nicht die notwendige absoluteMehrheit der Stimmen. Das Gesetz blieb.Außenpolitisch setzte sich Lacalle Pouvor allem für Freihandel ein. Er war eineder treibenden Kräfte hinter dem Freihandelsabkommenzwischen der EU und demMercosur, dem „Gemeinsamen Markt desSüdens“. Zum Ende seiner Amtszeit hatteLacalle Pou Zustimmungsraten von 52 Prozent,was ihn zum beliebtesten StaatschefSüdamerikas macht.Im Hintergrundgespräch mit der FUR-CHE erklärt er, wie das trotz Pandemie gelingenkonnte: „Es geht darum proaktiv-Ziele zu verfolgen und Ideen zu haben, werreaktiv ist, kann keinen Erfolg haben.“ Allesandere als reaktiv sind auch die gegenwärtigenpolitischen „Disruptoren“ dieser Welt,allen voran Donald Trump. Stilistisch entsprichtdie Disruptionnicht Lacalle Pous Vorstellungen:„Ich magBerufspolitiker, dennPolitik ist eine Profession.“In Europa fällt ihmals positives BeispielAngela Merkel ein.Bei der letzten Wahlim November brachtenLacalle Pous hohe ZustimmungsratenseinerPartido Nacional ob desWiederwahl-Verbotsfreilich wenig. Ihr Kandidat Álvaro Delgadounterlag Yamandú Orsi von der linken„Breiten Front“ klar. Orsi war früher Lehrerund Intendant des Departments Canelones.Für seine nun beginnende Amtszeithat Orsi ein Programm angekündigt, wiees für die uruguayische Linke typisch ist:Durchaus marktfreundlich (etwa sollenSteueranreize Investitionen fördern undkeine Steuern erhöht werden), aber docheinigen konservativen Positionen widersprechend:Zum Beispiel soll das Pensionsantrittsaltervon 65 auf 60 sinken. Außenpolitischwill Orsi die Verbindung zuChina stärken.
DIE FURCHE · 927. Februar 2025Gesellschaft9Von Manfred PrischingIn vielen Ländern herrschtpolitische Unruhe. Brexit,Populismen, Proteste, politischeUmstürze, Trumpund andere Katastrophen.Oft wird die Unruhe auf schlechtePolitik zurückgeführt. Aber es istunwahrscheinlich, dass Inkompetenzder politischen Klasse gleichzeitigin so vielen Ländern auftritt.Weitere Einzelursachen werdengenannt: Deindustrialisierung,ländliche Entvölkerung, sinkendeEinkommen, Gefühlseskalationenin den sozialen Medien, Abstiegder Mittelschicht, in den USAauch noch die bizarre Allianz vonEvangelikalen und Waffennarren.Alle diese Faktoren haben Gewicht,doch die Situation in den betroffenenLändern ist zu unterschiedlich,um den Gleichklang der Missgelauntheitzu erklären.Wir können dem Verdacht nachgehen,dass es tiefere Ursachengibt, die ähnliche Phänomene inunterschiedlichen Ländern hervorrufen:etwa die Verletzungfundamentaler menschlicher Bedürfnissedurch den Prozess derSpätmodernisierung, in radikalerBeschleunigung in den letztenJahrzehnten. Es entstehen generalisierteRessentiments. Krisensind Triggerphänomene. Allesmündet in ein Gefühl der Verlorenheit.Die Verletzung des implizitenGesellschaftsvertrags lässt sichan fünf Clustern von (allenfalls anthropologischen)Grundanliegenfestmachen.1.) Weltverstehen,Lebenswissen,HandlungskompetenzMan will wissen, wie die Dingefunktionieren, weil man Entscheidungentreffen muss. Aber es ist,da draußen, eine Durcheinander-Welt. Viele sind von der Komplexitätder Verhältnisse überfordert.Es gibt so viele Informationen wienie zuvor, aber wir können sienicht mehr verarbeiten.Gilt die Mittelmeerdiät nochoder ist sie überholt? Sind Fruchtsäftemit Zucker oder mit Süßstoffgesünder? Ist der Kauf des E-Autossinnvoll? Ist Psychotherapie fürHunde ein Desiderat oder eine Verrücktheit?Telebanking. Künstliche Intelligenz.Ständig neue Software. Fitnessrezepte.Nichts können wirmehr mit Überzeugung entscheiden.Der Anteil des Gewusstenam möglichen Wissen sinkt. Wirkönnen googlen, aber das beseitigtdas Durcheinander oft nicht,sondern schafft zusätzliche Verwirrung.2.) Die Wertewelt, dernormative KosmosMan will die Welt auch (normativ)bewerten können – was anständigoder unanständig ist, gut oder böse.Doch die einigermaßen konsistenteWertewelt ist in der globalisierten,individualisierten und kosmopolitisiertenWelt geschwunden.Was darf man vom Partner oderder Partnerin erwarten? Ist Vegetarismusschon ein moralischesGebot? Ist der Urlaubsflug asozial?Manchmal gibt es einen Werteüberschuss,durch Wokismus.Eine fatale Möglichkeit: Eskönnten Wohlstand und Wohlbefindennoch eine Zeit lang aufrechterhaltenwerden, wenn die Voraussetzungen,auf denen sie beruhen,bereits beschädigt oder geschwundensind; aber irgendwann ist dannDer BodenschwanktSchluss mit einer zerfallenden Kultur.Haben die Totalitären recht:dass wir dekadent sind?3.) Gemeinschaft,Einbettung, Vertrauenund ResonanzMan will sich in der sozialen Weltzu Hause fühlen, die Spielregelnkennen, nicht jedes Wort und jedesVerhalten überlegen müssen, Gewohnheitenund Bräuche pflegen.Das ist Heimat. Aber die Zugehörigkeitsgefühlewerden (auf allen gesellschaftlichenEtagen) brüchig.Es bleibt bloß noch die „Identitätsreligion“:Individuen, die sichentfalten und aufblähen, in ihrerSelbstverwirklichung überschätzenund deshalb in die Dauerenttäuschungschlittern. Offene Grenzensind jedenfalls nicht mehr (wienoch vor wenigen Jahren) Zeichender Freiheit, sondern Quellen derUnsicherheit – und es hat zehn Jahregedauert, bis man zaghaft zu erkennenbeginnt, dass unkontrollierteMigration ein Problem seinkann. Nein, man ist kein Faschist,wenn man dieses Leben im Großenund Ganzen behalten will.4.) Wohlstand,Bequemlichkeit,BesitzstandswahrungMan will das gute Leben gesichertwissen, keine Abstürze befürchtenmüssen, mit sozialstaatlichenHilfen rechnen können. Dass derstete Zuwachs nicht mehr selbstverständlichist, wird als Gefährdungeines Anrechts empfunden.Freilich sehen Wachstum undWohlstand ohnehin empirisch größeraus, als sie sind, weil der Anteilan Unsinnsproduktion zunimmt;schließlich ist das größte Problemeiner Konsum- und Entertainment-Gesellschaft die Vertreibung derLangeweile – immer mit ein paarAusnahmen. Die Psychologie desverwöhnten Kindes mit geringerEnttäuschungsresistenz hat sichin den reichen Ländern ausgebreitet.Aber die Zeiten könnten härterwerden.5.) Sicherheit, Gewaltschutz,RechtsverlässlichkeitMan will auf das Gewaltmonopoldes Staates bauen, Gewaltsamkeitzurückzudrängen, Krieg zu vermeiden,Recht und Justiz funktionsfähigzu halten. In der europäischenAnomalie, den achtzigfriedlichen Jahren (mit im historischenVergleich geringen Ausnahmen),hat man Sicherheit alsLesen Sie hierzuauch das Interviewmit ManfredPrisching „Dafliegen ethischeFetzen herum“vom 9.9.2004auf furche.at.Krieg in Europa, Terror im eigenen Land, erstarkende politische Ränderüberall: Wie soll man diese Welt noch verstehen? Warum man sichzunehmend nicht mehr „Zuhause“ fühlt – und was man dagegen tun kann.„ Die ‚Identitätsreligion‘: Menschen,die sich aufblähen, in ihrer Selbstverwirklichungüberschätzen und deshalbin die Dauerenttäuschung schlittern.“Foto: iStock/BimAlles ist unklarWas soll ich glauben?Woran kann ich michfesthalten? Diese Fragenstellen sich Menschenimmer schon – bloß sinddie Antworten heuteunklarer denn je.selbstverständlich erfahren. Dochnunmehr passieren regelmäßigVerbrechen gegen Leib und Leben,vorwiegend begangen von Menschenaus dem Ausland, und beisolchen Attacken kann es jeden jederzeittreffen. Die Wiederkehr einermöglichen Kriegssituation hatdas Weltbild zusätzlich verändert –angesichts europäischer Gesellschaften,die unfähig gewordensind, sich selbst zu verteidigen.Resümee: Man versteht (kognitiv)die Welt nicht mehr. Mankann sie (normativ) kaum nochbeurteilen. Man fühlt sich zunehmendnicht mehr zu Hause. Manhat Angst um seine Lebensart undseine Besitzstände. Und man fühltsich seines Lebens nicht mehrsicher.Diese fünf Quellen der Beunruhigungwerden verschärft durchdie Beschleunigung aller Lebensbereicheund die Transformationaller Kommunikationen. Die sozialenMedien dienen als „Aufheizer“für alle Emotionen. Insgesamt entstehtdas Gefühl der Verlorenheit.Der Boden schwankt. Diese Verlorenheitäußert sich in Ressentiments,Bosheit, Wut und Hass.Man reagiert sensibel auf jede (tatsächlicheoder vermeintliche) Ungerechtigkeit,und als ungerechtkann jedes Thema und jede Situationempfunden werden. Die Anti-Gefühle können deshalb alle Krisen,die des Weges kommen, alsVehikel nutzen – und politischforciert werden.Retro-Vorstellungen sind illusorisch.Man kann die Fragilität derWelt nicht zurück in die Flaschepacken. Man braucht aber die Vorstellungeiner funktionierendenNormalität, eines aristotelisch gemäßigtenMainstreams, auf densich die große Mehrheit einer Bevölkerungeinigen kann.Man braucht zudem Respekt vordem Bestehenden und Gewachsenen,denn die großen Sprünge zueiner neuen Gesellschaft habennoch allemal im Totalitarismusgeendet. Und man braucht Fragilitätskompetenz:Das monströseWort soll dafür plädieren, mit einer„beruhigten Unordnung“, derwir nicht entrinnen können, zurechtzukommen.Der Verlorenheitkann man nur mit Gelassenheitbegegnen.Manfred Prisching ist Professorfür Soziologie an der Uni Graz.VerlorenheitRessentiments und verletzteBedürfnisse in Krisenzeitenvon Manfred PrischingPsychosozial-Verlag 2024171 S., kart., € 20,95VORSORGE& BESTATTUNG11 x in WienVertrauen im Leben,Vertrauen beim Abschied01 361 5000www.bestattung-himmelblau.atwien@bestattung-himmelblau.at
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