DIE FURCHE · 910 Gesellschaft27. Februar 2025Nicht mehrverstummtAls Kind warHelene Brachtungewöhnlichschweigsam.Warum, fragtedamals keiner. Erstals Erwachseneversteht – und erzählt– sie von demMissbrauch, densie erlebte.Foto: © Paula WinklerVon Magdalena Schwarz„Zu welchem Lebensdrehbuchkann eine Sequenz wie jenein meinem Kinderzimmerdie Eröffnungsszene gewesensein?“ fragt HeleneBracht in „Das Lieben danach“, ihren psychologischwie literarisch bemerkenswertenMemoiren. Im Alter von fünf bis siebenJahren wurde die Autorin von einemNachhilfelehrer missbraucht. Die Folgen,die dieser fundamentale Vertrauensbruchfür ihr Leben hatte, offenbart sie nun, übersechzig Jahre später.Helene Bracht wird 1955 in Nordrhein-Westfalen geboren. Das Mädchen sprichtkaum – warum, das interessiert niemanden.Sie ist stumm, aber aufmerksam, lerntfrüh, dass weibliche Bedürfnisse in Liebesbeziehungenkeine Relevanz haben. Frauensind ergeben, fromm und passiv. DieMutter wird vom Vater mit einem barschen„Irma, jetzt!“ ins Schlafzimmer abkommandiert.Das siebzehnjährige LehrmädchenLesen Sie auchConnie, das dem armen Pater Antonio „ein das InterviewKind andrehen“ wollte, wird vor die Tür „Johanna Beck:gesetzt. Zum gefügsamen Objekt wird Nach Missbrauchzurückschließlich auch die kleine „Lene“ selbst,als der Untermieter und Nachhilfelehrer in der Kirche“(13.4.22) auf„Strecker“, ein nach außen hin kultivierterfurche.at.Mann in den Fünfzigern, in ihr Leben tritt.„Wer zweimal mit derselben pennt, ...“Lange Zeit erscheinen Bracht die Ereignissevon damals als belanglos. „Was wardenn schon passiert?“, denkt sie als jungeErwachsene. „Das bisschen Gefummle,noch nicht mal ausgeübt von einem Familienmitglied,keine nennenswerte körperlicheGewalt, keine koitale Penetration –nicht der Rede wert.“ Erst viel später benenntsie das, was Strecker mit ihr machte,als sexualisierte Gewalt. „Ich habedurch das Schreiben viel darüber verstanden,wie fragil, störbar und komplex intimeBegegnungen sind“, erklärt die Autoringegenüber der FURCHE. „Ganz im Allgemeinen– und im Besonderen dann, wennWie liebt, vertraut und begehrt eine erwachsene Frau, dieals Kind missbraucht wurde? Diese Frage ergründet die70-jährige Helene Bracht anhand ihrer eigenen Biografie.Erstarrt imErdulden„ Sie müsse immer alles tun,was der Mann von ihr will,erklärt der Nachhilfelehrerder Fünfjährigen. Nur dannkönne er sie liebhaben.“die erste Erfahrung in diesem Bereich einMissbrauch war.“Helene Bracht beginnt Schritt fürSchritt nachzuzeichnen, wie sich der Missbrauchauf ihr späteres Liebes- und Sexuallebenausgewirkt hat. Es ist die „Geschichteauf der Rückseite ihrer Geschichten“,wie die Autorin schreibt. Der Ausgangspunkt,auf den sie so viel an späterer Opferbereitschaftund Orientierungslosigkeitzurückführen kann. Die prägende Erfahrung,die ihr Leben maßgeblich formte. Dieirisch-amerikanische Autorin Lucy Grealybringt eine ähnliche Überlegung folgendermaßenauf den Punkt: „Hat etwas, dasam Rande existiert, keinen wirklichen Bezugzum stabilen Zentrum, oder wird es,indem es am Rande steht, ein Teil des Randesund damit ein Teil der Grenze, der Definition,die dem Ganzen seine Form gibt?“Im Gegensatz zur Autobiografie, in dereine Autorin oder ein Autor die Geschichteseines Lebens erzählt, sind Memoirenmeist unstrukturiertere Sammlungenvon Erinnerungen und Episoden. Entsprechendlässt Bracht ganze Lebensbereicheaus (Karriere, Freundschaften), untersuchthingegen minutiös jene Aspekte, die engmit dem Missbrauch in Verbindung stehen:ihre Liebesbeziehungen, die Beziehung zuihrer Mutter, die Beziehung zu sich selbst.Statt der Chronologie folgt ihre Erzählungeiner psychologischen Logik. Welche Kindheitserfahrungspiegelt sich in welchem erwachsenenVerhaltensmuster wider, nurum in einem späteren Lebensjahrzehnt finalentschlüsselt zu werden?Bracht verflicht biographische Strängemit gesellschaftlichen Diskursen rund umsexuelle Freiheit und Gleichberechtigung.Sie tut dies klug und behutsam im Bewusstsein,dass ihre persönliche Erfahrung keineAllgemeingültigkeit hat. Dennoch werdenviele gleichaltrige Leserinnen Parallelen erkennen.Bracht schreibt über die Studentenrevolteder 1960er Jahre, die bis zur Selbstzerstörunggrenzenlose Freizügigkeit der1970er, die One-Night-Stand-Kultur der1980er. Es sei seltsam, erkennt die Autorinin der Rückschau, „mit einer klaffenden seelischenVerletzung auf einen Zeitgeist zutreffen, der es einem möglich macht, die Folgendieser Verletzung als Beleg für die Zugehörigkeitzur Avantgarde auszuflaggen“.Fast alles probiert Bracht aus: kurze undlängere, monogame und offene Beziehungen,mit Männern und Frauen, eine Ehe.Rasch wird sie zur Meisterin des Gebens,sie spricht von einem „Lustgewinn derzweiten Ordnung“: Sie gibt sich hin, selbststarr vor Angst, manchmal geplagt vonkörperlicher Übelkeit – eine Traumafolge,wie sie mittlerweile weiß. Die „Duldungsstarre“,die sie sich als Opfer von sexualisierterGewalt aneignen musste, setzt sichin ihrem Erwachsenwerden fort. Ihr Körperwird zum Werkzeug, während ihre Seeleunnahbar bleibt. Auch liebevolle Partnerschaffen es nicht, hinter ihre Fassade zublicken. Wie denn auch, wenn sie die Ursacheihres Bedürfnisses nach Selbstschutzselbst nicht versteht, geschweige denn esin Worte fassen kann? Das Schweigen, soBracht, sei ihr Obdach gewesen. Außenstehendewissen davon nichts, sie studiert Pädagogikund Psychologie, arbeitet am Theater,ist später als Psychologin tätig. Eineerfolgreiche Frau, die mitten im Lebensteht und dennoch stumm bleibt wie daskleine Mädchen von damals.Schonungslose SelbststudieDie Übergriffe Streckers beschreibt dieAutorin aus der Perspektive des Kindes.Die Anatomie des erwachsenen Mannes istihm völlig fremd, es schwankt zwischen Todesangstund Zuneigung zu dem einzigenMenschen, der ihm Zuwendung zu schenkenscheint. Dabei wird deutlich, dass diepsychische Gewalt mindestens so schwerwiegendund perfide ist wie die körperliche.Sie müsse immer alles tun, was der Mannvon ihr will, erklärt Strecker der Fünfjährigen,„was immer es auch sei, und auch,wenn du es nicht verstehst. Nur dann kanner dich liebhaben. Sonst nicht, hörst du?“
DIE FURCHE · 927. Februar 2025Gesellschaft11„ Die ‚Dienstleistungsorientierung‘, die sieals missbrauchtes Mädchen lernte, solltesie mit ,gesellschaftlichem Einverständnis‘auch als erwachsene Frau bereitstellen. “Schwer zu glauben, dass „Das Liebendanach“ Brachts literarisches Debüt ist. Soprägnant ist ihre Sprache, so kohärent ihreErzählstimme, so kunstvoll die Dramaturgieaus Rück- und Vorausblenden. Bracht beweistsich nicht nur als begabte Schriftstellerin,sondern auch als einfühlsame Psychologin.Sie nimmt die Rolle der Therapeutinein, im Stuhl ihr gegenüber sitzen ihr siebenjähriges,dreißigjähriges,sechzigjähriges Ich.Sie lässt sich selbstnichts durchgehen, jederStein wird umgedreht,jeder Schatten bis insletzte Eck ausgeleuchtet.So auch die Situationen,in denen die Autorin ihreeigenen „Täterinnenspuren“erkennt, in denenPartnerinnen sichvon ihr überrumpelt oderachtlos behandelt fühlten,vor allem in gleichgeschlechtlichenBeziehungen.„Es fehlte mir, was Übergriffe anbelangt,in jener Phase meines Liebeslebens eineentscheidende Hemmschwelle“, erkenntsie heute. Im Schreiben muss sich die Autorin,abgesehen von ein paar Tagebüchern,die ihr noch aus der Teenagerzeit gebliebensind, ganz auf ihre Erinnerung verlassen.„ Ihre Mutter,1911 geboren, waraufgewachsen ineiner Welt voll Kriegund Elend. Wenscherte da schondie fehlendeEinvernehmlichkeitim Bett? “Besonders berührend sind Brachts Gesprächemit ihrer Mutter, einer kontroversiellenFigur. An ihr erkennt die Tochterschon bald eine „schroffe Gehässigkeitgepaart mit verborgenem Mitgefühl – eineGefühlsverrenkung, die Generationenvon Frauen im Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnenbravourös beherrschten“.Erst spät eröffnet sich eine Gesprächsbasiszwischen den beiden,endlich reden sie auchüber Strecker, der nachdem Aufdecken seinerVerbrechen Hausverboterhielt – das war alles.Die Zeiten waren andere,sagt die Mutter. Sieselbst ist 1911 geborenund Kriegswaise, aufgewachsenin einer Weltvoll Gewalt, Hungerund Elend – wen scherteda schon die fehlendeEinvernehmlichkeit imBett?Brachts Reflexionen über Gesellschaft,Sozialisierung und Geschlechterrollensind erfrischend, lebensnah und profund.Die Autorin zitiert wissenschaftlicheStudien und literarische Texte. Sie zeigtsich dankbar für die Frauenbewegung,die es auch ihr – zumindest kurzzeitig –ermöglichte, laut zu sein und Forderungenzu stellen.Auch ihre Kommentare zu #MeToo sindklug und differenziert. Bracht weiß mittlerweile:Die „selbstverständliche Dienstleistungsorientierung“,die sie als missbrauchtesMädchen lernte, konnte sie „mitgroßem gesellschaftlichem Einverständnisals erwachsene Frau zur Verfügungstellen“. Die #MeToo-Bewegung hält siefür wichtig, dennoch sollte ihrer Meinungnach zwischen einer „brutalen Vergewaltigung“und einer „zu tief gerutschtenHand“ unterschieden werden. Die Omnipräsenzder Tätersprache sei unerträglich.Auch das Wort „Missbrauch“ sei problematisch,wie die Autorin erklärt, suggeriertes doch, dass es im Gegensatz dazu einenkindgemäßen „Gebrauch“ gäbe. Heutespricht man von „sexualisierter Gewalt“,um deutlich zu machen, dass die sexuellenHandlungen ein Mittel sind, um Machtauszuüben.Bewegend, aber nicht beklemmendVon 756 Kindern unter 14 Jahren in Österreichist bekannt, dass sie im Jahr 2021Opfer sexuellen Missbrauchs wurden. DieDunkelziffer liegt weit höher. Körperlicheindeutige Verletzungen sind laut einerInformationsstelle der deutschen Bundesregierungselten. Erwachsene sollten beiVerhaltensänderungen des Kindes hellhörigwerden. Bracht wurde stumm, anderebetroffene Kinder zeigen Ängstlichkeit,Aggressivität, Leistungsabfall oder Rückzugstendenzen.Die perfide Manipulation,gepaart mit der Ignoranz vieler anderer,passiert in der Kirche, in Bildungseinrichtungen,im Sport, in der Wirtschaft und –am häufigsten – in der Familie und imBekanntenkreis, wie in Brachts Fall.Die Facetten ihrer Lebensgeschichtesind höchstpersönlich, doch die Machtstrukturenund seelischen Bewältigungsmuster,die die Autorin aufdeckt, werdenfür viele Leserinnen und Leser nachvollziehbarsein. Schon in den ersten Reaktionenauf das Buche habe Bracht gemerkt,dass Menschen „sehr intensiv ins Nachdenkenkommen über ihre eigenen intimenBegegnungen und Erfahrungen, über Unausgesprochenesund Verborgenes – auch,wenn es gar nichts mit Missbrauch zu tunhat“, sagt sie gegenüber der FURCHE.Das Buch endet optimistisch. Brachttrifft nach ihrer ausführlichen Selbststudieeine – wenngleich überraschende –Entscheidung darüber, wie sie den Restihres Lebens verbringen möchte. IhreMemoiren sind eine verschriftlichteSelbstermächtigung, bewegend aber nichtbeklemmend.Bleibt zu hoffen, dass diesnicht ihr letztes Buch ist.Lesen Sie,passend zumThema Gewaltgegen Frauen,auch das Dossier„Die Gefahrlauert zuhause“auf furche.at.Das Liebendanachvon HeleneBracht,Hanser 2025192 S., geb.,€ 22,70Zum200. Jubiläumdas exklusiveSonder-MagazinJetzterhältlich zumStrauss-Jahr2025MAGAZIN2025 feiert die Welt den 200. Geburtstag von Johann Strauss – dem Meister des Walzers und der Operette,dessen Werke die österreichische Kultur nachhaltig geprägt haben. Tauchen Sie ein in sein Leben, seine Familieund seine unvergessliche Musik. Erleben Sie im Magazin eine faszinierende Zeitreise: Vom Biedermeier bis zurWiener Moderne, mit spannenden Geschichten und historischen Einblicken.Jetzt um nur 14,99 € bestellen:diepresse.com/strauss
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