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DIE FURCHE 26.09.2024

DIE

DIE FURCHE · 39 22 Wissen/Philosophie 26. September 2024 Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Hilfe durch die Augen Es sind Spuren, die sich tief in die Psyche eingraben können: Die Flutkatastrophe hat in Österreich nicht nur zu enormen materiellen Schäden geführt. Auch der seelische Schmerz kann lange nach der akuten Belastung bestehen bleiben. Symptome wie Angstzustände, Schlafstörungen oder die Wiederkehr traumatischer Erinnerungen können noch Monate nach dem Ereignis auftreten. In einigen Fällen kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, die einer langfristigen Therapie bedarf. Betroffene sollten jedenfalls nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu holen. Das Gespräch in der Familie und mit Angehörigen ist wichtig, schafft aber nicht immer die nötige Erleichterung. Schließlich sind Angehörige emotional oft selbst betroffen. Und bei einer traumatischen Belastung, die auf eine klare Ursache wie eine Naturkatastrophe zurückzuführen ist, gibt es mittlerweile simple und rasch wirksame Therapieangebote. „ Bei einer traumatischen Belastung, die auf eine klare Ursache wie eine Flutkatastrophe zurückzuführen ist, gibt es rasch wirksame Therapien. “ Dazu zählen körperzentrierte Ansätze wie zum Beispiel EMDR (dt. „Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung“), das auf dem „Modell der blockierten Informationsverarbeitung“ beruht. Es geht hier nicht um Computer pro bleme, sondern um die Abläufe im menschlichen Gehirn: Bei einer lebensbedrohlichen Situation mit Extremstress gibt es den Kampf- und den Fluchtreflex. Beide werden nicht über die höheren Hirnzen tren, sondern allein über basale Gefühlsreaktionen gesteuert. Bei einer Naturkatastrophe, die das eigene Zuhause bedroht, sind diese Reaktionen nicht bzw. nur eingeschränkt möglich. Dann passiert es leicht, dass der Körper in einer nicht zu Ende gebrachten Reaktion auf Extremstress quasi „steckenbleibt“. Aber auch sinnliche Erinnerungen der Katastrophe (z. B. die Bilder des Hochwassers) können fragmentiert hängenbleiben; sie sind dann noch nicht im expliziten Gedächtnis integriert. Übererregbarkeit, emotionale Abspaltung sowie Vermeidungsverhalten bezüglich traumatischer Trigger sind dann typische Folgen. Integration des Schreckens Bei EMDR vollzieht der Therapeut bzw. die Therapeutin rhythmische Handbewegungen vor den Augen des Klienten. Die so hervorgerufenen beidseitigen Stimulationen des Gehirns unterstützen die Informationsverarbeitung: Damit wird der Integration des Schreckens auf die Sprünge geholfen. „Nur 20 Minuten EMDR bewirken etwa so viel wie fünf Stunden Sprechen“, sagt die amerikanische Therapeutin Amanda Cimaroli in der aktuellen Ausgabe von ZIMT (Magazin über die Psyche) über ihre Arbeit mit Gewaltopfern in Chicago. Für die Therapie gebe es ein günstiges Zeitfenster: Nach einem traumatischen Ereignis habe man circa sechs Wochen Zeit, „mit dem Gedächtnis zu arbeiten, bevor sich die Folgen des Traumas verfestigen“. Foto: APA/Erwin Scheriau Wahlkampf Die Wahlplakate der FPÖ provozierten diesmal mit religiösen Versatz stücken: Die Slogans in Anlehnung an das Vaterunser-Gebet wurden vielerorts heftig kritisiert. Österreich im Zeichen der Nationalratswahl: Es ist höchste Zeit, sich philosophisch sowie therapeutisch mit dem gesellschaftlichen Diskursverfall auseinanderzusetzen. Ein Einwurf. Liebender Streit in Zeiten des Hasses Von Martin Poltrum In seiner Rede bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele im Sommer warnte Alexander Van der Bellen davor, dass Polarisierung Gift sei und wir es alle in der Hand haben, „ob die Stimmung zwischen uns vertrauensvoll ist oder vergiftet“, und dass „Verachtung (…) kein Wahlprogramm“ sei und „Hass keine Lösung für unsere Probleme“. Wir seien in Österreich immer gut gefahren, „wenn alles ein bisschen entspannter war. Wenn bei uns am Ende doch jeder so sein konnte, wie er oder sie ist. Widersprüche inklusive.“ Man muss aus unserem Bundespräsidenten nicht gleich einen Hegelianer machen, aber wenn es einen Philosophen gibt, der den Widerspruchsgeist kultiviert hat, dann ist es Hegel. Meinte der deutsche Idealist doch: Was „überhaupt die Welt bewegt, das ist der Widerspruch“. Und: „Alle Dinge an sich selbst“ sind „widersprechend“. Die Erkenntnis, dass man in Diskursen von der jeweiligen Gegenposition am meisten lernen kann und jede These durch die Antithese bereichert wird, ist die Grundüberzeugung des dialektischen Denkens. Mit Dialektik haben sich Kant, Hegel, Marx, Schopenhauer, Horkheimer, Adorno, Sartre und viele andere Denker der Moderne beschäftigt. Seit geraumer Zeit steht es allerdings schlecht um den Widerspruchsgeist, da Feindseligkeit, Empörung, Spaltung, Entzweiung und Polarisierung herrschen – alles andere als die Tugend des Dialektischen, der Anerkennung des Anderen und „ Im Wahn ist die Unfähigkeit, eine andere Position als die eigene einzunehmen, zur bedrückenden Pathologie geworden. “ des „liebenden Streits“ (Friedrich Hölderlin). Im Zeitalter der Digitalisierung steht es schlecht um die Anerkennung von Gegensätzen. Von Algorithmen verursachte Filterblasen und selbstgewählte Echokammern in den sozialen und asozialen Medien führen dazu, dass wir uns mit gegensätzlichen Meinungen und Ansichten kaum mehr ernsthaft konfrontieren. Dass in der Politik das Populistische und damit der Affekt des Ressentiments Hochkonjunktur hat, führt dazu, dass Menschen mit anderer Meinung oft vernichtet werden. Rationalität und Argumentation spielen kaum mehr eine Rolle. Wie kam es nur so weit? Was hat uns bloß so ruiniert? Krisen, Kriege, Katastrophen, der mediale Hyperfokus auf dem Barbarischen, Schrecklichen, Tragischen und Traumatischen, Weltfinanzkrise, Bankenkrise, Staatsschuldenkrise, Eurokrise, Klimakrise, Coronakrise, Gas- und Energiekrise, Ukrainekrieg, Krieg in Israel und Gaza, weltweite Demokratiekrise, allgemeine Vertrauenskrise, Teuerung, Armut, Hun-

DIE FURCHE · 39 26. September 2024 Wissen/Philosophie 23 „ Tragisch, dass weit oben in der sozialen Hierarchie narzisstische Typen gehäuft vorkommen. Das liegt auch an der Empathielosigkeit, die dieser Störung mitgegeben ist. “ me von Angst, Unsicherheit, affektiver Verhärtung, Verschwörungstheorien und überwertigen Ideen geführt. Ebenso wie die zunehmende Schwierigkeit, zwischen Wahrheit und „Fake“ zu unterscheiden. Wenn man in einer Dauerkrise und im Dauerstress steckt, nimmt die affektive Übererregung, Anspannung und Wallung zu. Das wiederum ist Gift für die Fähigkeit, andere Positionen einzunehmen. Im starken Affekt verliert sich die Möglichkeit, das Andere mitzudenken. Im Wahn, das ist ja eines seiner Diagnosekriterien, ist die Unfähigkeit, eine andere Position als die eigene einzunehmen, zur bedrückenden Pathologie geworden. Wer in einer affektiven Übererregung steckt und eine Emotionsregulationsstörung hat, gerät schon bei den kleinsten Ereignissen in Wallung – und braucht sehr lange, bis er wieder abkühlt. Dann wird man idealerweise wieder von einer entspannten Gestimmtheit aus ermächtigt, andere Standpunkte einzunehmen und zuzulassen. Die aktuelle Unfähigkeit, dialektisch zu denken, hat wahrscheinlich mit Daueranspannung, Übererregung und affektivem Elend zu tun. Hinzu kommt: Wenn die Ressourcen knapp werden, wenn „ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapitel“ (Pierre Bourdieu) radikal ungleich verteilt ist, dann werden Wut und Zorn leicht lenkbar – und verführbar. Einfache Lösungen für komplexe Sachlagen werden in den Diskurs eingebracht. Der amerikanische Philosoph Michael Sandel gibt in „Vom Ende des Gemeinwohls“ (The Tyranny of Merit; 2020) einen bemerkenswerten Hinweis: Der gute alte stolze Arbeiter von früher, der noch die Sozialdemokraten gewählt hat, sowie die guten alten Minister von früher wussten haargenau, dass der Grund, warum der eine die Klimaanlage reinigt und der andere im klimatisierten Büro sitzt, auch damit zu tun hat, dass der eine ohne und der andere mit ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital aufgewachsen ist. Und nicht damit, dass der eine genial und der andere minderbegabt ist. Das hatte einen entscheidenden Vorteil, denn Gewinner und Verlierer wussten, dass ihre Position in der Gesellschaft nicht nur mit Fähigkeit und Verdienst zu tun hat, sondern auch mit dem Lotteriespiel der Geworfenheit. In dem Moment, in dem die Meritokratie und ihre Leistungserzählung zum vorherrschenden Narrativ werden und suggerieren, dass die Zuteilung von Jobs, Chancen und Möglichkeiten primär mit Fähigkeit und ehrlich erbrachter Leistung zu tun hat, ist der eine Minister, weil er hochbegabt ist, und der andere Klimaanlagenreiniger, weil er minderbegabt ist. Diese verschrobene Erzählung, dass der Grund für die gesellschaftliche Position prinzipiell selbsterarbeitet oder selbstverschuldet ist, hat den Hass auf die Eliten erst möglich gemacht, den Verführer und Populisten heute benetzen und bewässern. Bedeutung des blinden Flecks Ein letzter Hinweis darauf, was das anerkennende, das dialektische Denken bloß so beschädigt hat, ergibt sich aus der Frage, ob wir immer noch im Zeitalter des Narzissmus leben – eine Diagnose, die der Historiker Christopher Lasch bereits Anfang der 1980er Jahre gestellt hat. Oder vielmehr, ob sich dieser Befund vielleicht sogar verschlimmert hat. Wer bei Ovid nachliest, sieht sofort, dass Narziss im Grunde jemand ist, der als Kleinkind keine Anerkennung bekommen hat. Einer, der unter radikaler Anerkennungsvergessenheit das geworden ist, was er wurde, ein Anerkennungsgeizkragen. Was ist geschehen? „Die wasserblaue Nymphe Liriope, die einst der Cephisus mit den Windungen seines Stromes umschloß; der so in seinen Wellen Gefangenen tat er Gewalt an. Aus ihrem schwangeren Schoß gebar die wunderschöne Nymphe ein Kind, (…) sie nennt es Narcissus.“ Die von Cephisus missbrauchte Mutter von Narziss hatte in der Folge das Problem, dass sie ihr eigenes Kind – der schöne Jüngling Narziss – ständig an ihre Schändung erinnerte. Darum hat sie dem Kleinen vermutlich kaum Liebe geben können. Anerkennungsvergessen und deshalb anerkennungshungrig reagiert Narziss nun damit, dass er die Liebe, die er nicht bekommen hat, in einem überzogenen Akt der Selbstverliebtheit und Selbstanerkennung kompensatorisch substituiert. Und scheinbar so von sich überzeugt ist, dass er ständig Anerkennung braucht und darüber hinaus selbst keine geben kann. Der eigenen Überhöhung und Aufwertung folgt die chronische Ab- und Entwertung anderer: Der eigene Geltungsanspruch ist so überbordend, dass der Andere und dessen Position nichts mehr gelten. Wenn es neben der Paranoia eine Pathologie gibt, die das Andere, die gegensätzliche Position, nicht gelten lassen kann, dann wäre dies der Narzissmus. Tragisch ist in diesem Zusammenhang nur, dass weit oben in der gesellschaftlichen Hierarchie, dort, wo Entscheidungen getroffen werden, diese Typen vermehrt vorkommen. Das liegt an der Empathiebefreitheit und Ellenbogentechnik, die dieser Störung mitgegeben ist. Wer das Ganze und nicht nur einen Ausschnitt erfassen möchte, der muss in Bewegung bleiben, der muss um den Gegenstand der Betrachtung herumgehen, ihn von unterschiedlichen Seiten ansehen. Wer das tut, erkennt, dass aus dem eingenommenen Standort nie ein universaler Standpunkt folgen kann. Bereichernd und „ Die verschrobene Erzählung, dass der Grund für die soziale Position selbsterarbeitet oder -verschuldet ist, hat den Hass auf die Eliten erst möglich gemacht, den Populisten heute bewässern. “ interessant (davon lebt das dialektische Denken!) ist vor allem die Ansicht, die auf das aufmerksam macht, was man selbst nicht sehen kann. Das Andere, das durch die eigene Blickrichtung verdeckt bleibt. Die physiologische Voraussetzung für das Sehen ist die Blindheit. Dort, wo der Sehnerv in die Netzhaut eintritt, haben wir keine Sehzellen. Man nennt diesen Ort den blinden Fleck, den wir bekanntlich alle haben. Um es mit Ernst Bloch zu sagen: „Wir haben kein Organ für das Ich oder Wir, sondern liegen uns selber im blinden Fleck, im Dunkel des gelebten Augenblicks (…).“ Das heißt für unser Zusammenleben, dass wir uns beim Erkennen gegenseitig aushelfen müssen. In der Paraphrasierung von Hannah Arendt: Wahrheit gibt es nur zu zweit. Der Autor ist Philosoph, Psycho therapeut und Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-­ Privatuniversität (SFU) Wien. DIE FURCHE EMPFIEHLT Lebensraum Urwald, mitten in Österreich Lesen Sie dazu auch unser vielseitiges Dossier zum Thema Narzissmus vom 6.2.2020 („Geliebter Narziss“), auf furche.at. Tief in den Urwald eintauchen: Das kann man mittels virtueller Medienstationen im Haus der Wildnis in Lunz am See. Bei der „ORF Langen Nacht der Museen“ gibt es bei verlängerten Öffnungszeiten ein Spezialprogramm. Um 20 Uhr hält Ranger Reinhard Pekny einen Vortrag über das Wildnisgebiet Dürrenstein. Kinder können u. a. an einer Rätselrallye teilnehmen. Lange Nacht der Museen im Haus der Wildnis Kirchenplatz 5, 3293 Lunz am See 5. Oktober, 18–24 Uhr; www.haus-der-wildnis.at Ihr FURCHE-Abo Als FURCHE-Leser:in schätzen Sie Journalismus mit Sinn: unterschiedliche Standpunkte und neue Perspektiven, am Menschen ausgerichtet, verantwortungsbewusst und tiefgründig. Ihre Abovorteile auf einen Blick Für die entspannte Lektüre am Wochenende die gedruckte FURCHE ab Donnerstag in Ihrem Briefkasten E-Paper für unterwegs und uneingeschränkter Zugang zu allen digitalen Inhalten auf furche.at Mit dem FURCHE-Navigator Zeitgeschichte entdecken – alle Artikel seit 1945 online Tägliche oder wöchentliche FURCHE-Newsletter, jetzt neu: jeden Tag ein Thema in unseren neuen Ressort-Newslettern, 7× pro Woche Viel vor. Viel dahinter. Jetzt Dossiers entdecken: furche.at/ dossier Mehr Infos furche.at/abo +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at

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