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DIE FURCHE 26.09.2024

DIE

DIE FURCHE · 39 18 Musik & Literatur 26. September 2024 Mythos Freiheit? Intendantin Lotte de Beer stellt die Frage, inwieweit Carmen (im Bild: Katia Ledoux) tatsächlich eine freie, unabhängige Frau ist oder vielmehr die Gefangene einer männlichen Vorstellung davon. Von Walter Dobner Muss Georges Bizets Welterfolg „Carmen“ auf dem Spielplan gleich mehrerer Wiener Opernhäuser stehen? Wa rum nicht, wenn es dazu eine neue Lesart gibt, mit der sich einige Facetten dieses Stücks in ein bisher nicht gekanntes, vielleicht auch gesellschaftspolitisch aktuelles Licht wenden lassen. Das war offensichtlich der Grund, weshalb man sich im Haus am Währinger Gürtel an eine Neuproduktion dieses Vierakters gemacht hat. Immerhin datiert die bisher letzte bereits aus dem Jahr 1995. Davor gab es an der Volksoper sechs „Carmen“-Neuinszenierungen, darunter die erste 1905, mit dem legendären Direktor Rainer Simons als Regisseur und Alexander Zemlinsky, bekanntlich Schönbergs Lehrer, am Dirigentenpult. Auch dieses Mal führt die Intendantin, Lotte de Beer, Regie. Die Volksopern-Prinzipalin begreift Carmen weniger als Mensch denn als Figur, in der sich widerspiegelt, was die Gesellschaft gerne möchte, sich aber nicht traut. Carmens Scheitern ist damit vorbestimmt, ebenso der Applaus für ihren Tod, denn jetzt ist alles wieder im gewohnten Lot, allem Aufbegehren Paroli geboten. So einfach wie schlüssig erläuterte Lotte de Beer ihr Konzept, das sie sich für diesen Bizet – nach Statistiken die nach wie vor weltweit populärste Oper – zurechtgelegt hatte. Wäre Carmen aus heutiger Sicht nicht auch als Präsidentin denkbar, gar mit einer einstigen populären First „ Die Volksopern-Prinzipalin begreift Carmen weniger als Mensch denn als Figur, in der sich widerspiegelt, was die Gesellschaft gerne möchte, sich aber nicht traut. “ Mit einer Neuinszenierung von Bizets „Carmen“ eröffnete die Volksoper Wien ihre neue Premierenvorhaben. Ein mäßig gelungenes Unterfangen. Zu viel kann auch zu wenig sein Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien Lady vergleichbar? Und wie steht es hier mit dem Thema Freiheit? Wie lässt sich das alles logisch zusammenführen? Eine kaum zu schaffende Achterbahn. Als solche präsentierte sich schließlich diese Produktion. Bei der Premiere wurde die musikalische Seite freundlich akklamiert, die szenische mit unverhohlenen Buh rufen quittiert, was die Regisseurin sichtlich irritierte. Allerdings, ein großer Wurf ist diese Inszenierung nicht. Eher erweckt sie den Eindruck einer nicht in allen Details fertig gewordenen Arbeit. Ideen erscheinen mehr angedeutet als ausgeführt. Das zeigt sich schon in den überraschenden Wechseln des Ambiente (Bühne: Christof Hetzer). Zuerst sieht man sich mit einer Postkartenatmosphäre konfrontiert, dann einem Sternenhimmel, schließlich einem läppisch wirkenden Theater-im-Theater-Bild. Gab es keine andere Idee, als ein gaffendes Publikum (in diesem Fall die Choristinnen und Choristen) in deutlich vom Innenraum der Volksoper inspirierte Logen zu pressen? Wollte man mit dieser komischen Szenerie auf den quasi operettenhaften Ton, den de Beer in dieser Opéracomique erkennen will, verweisen? Eine zu weit hergeholte Deutung? Ob sich diese willkürlich wirkende Impressionsvielfalt mit besseren Protagonisten zu einem stimmigeren Bogen gefügt hätte? Maue Charakterzeichnung Ben Glassberg am Pult des gut studierten, spielfreudigen Volksopernorchesters gefiel sich in übertriebener Lautstärke und outriertem Drive, zeigte wenig Interesse für die intimen Momente dieses Vierakters. Charme, wie man aus seinen früheren Dirigaten weiß, scheint nicht gerade seine große Stärke. Von einem Don José erwartet man mehr Glanz, vor allem Eleganz, als es Tomislav Mužek demonstrierte. Zudem mangelte es ihm an glaubhafter Emotion. Gerade sie bedarf es, um die zwischenmenschlichen Dimensionen dieses Stücks erfahrbar zu machen. Ein Manko, das auch die Gestaltung der mit kräftigem Volumen selbstbewusst auftrumpfenden Carmen, Katia Ledoux, zuweilen beeinträchtigte. Ein sensiblerer Dirigent hätte sie wohl zu einer nuancenreicheren Phrasierung animiert. Die Partie des Escamillo rollendeckend zu besetzen, ist stets herausfordernd. Das bewahrheitete sich auch beim wenig tiefenscharfen Josef Wagner. Julia Maria Dans um Profil bemühte Micaëla vermochte von den Hauptdarstellern noch am ehesten zu überzeugen. Durchschnittlich das übrige Ensemble. Auch hier setzte die Regisseurin zu wenig auf klare Charakterzeichnung, nahm sich vieles auf der Bühne zufällig, manchmal unbeholfen aus. Als größtes Manko dieses Premierenabends aber erwies sich die bald nachlassende Spannung, was selbst die sonst so zündenden Nummern dieser Opéra- comique einigermaßen trübte. Carmen Volksoper Wien: 27.9., 3., 6., 11.10. WIEDERGELESEN Einer, der sich nicht unterkriegen lässt Roger Van de Velde Knisternde Schädel Bibliothek Suhrkamp Von Anton Thuswaldner Ein glückliches Leben sieht anders aus, kurz war es obendrein. Roger Van de Velde, 1925 in der Nähe von Antwerpen geboren, starb im Alter von 45 Jahren an einer Überdosis Palfium. Mit 22 Jahren hatte er einen Magendurchbruch erlitten, an dem er länger laborierte, sodass ihm zur Schmerzlinderung das schwere Opioid verschrieben worden war. Dass man davon abhängig werden konnte, wusste man damals noch nicht. Vier Tabletten gelten als Obergrenze für den Tagesbedarf, Van de Velde brauchte sechzig. Um sie sich zu beschaffen, wurde er straffällig, die Einweisung in eine Klinik war die Folge, in der er mit Schwerverbrechern und Psychopathen zusammen war. 1970, als es den Anschein hatte, sein Leben könnte noch einmal eine Wendung nehmen, kam er in einem Café ums Leben. Dabei befand sich der damals als Schriftsteller schon auffällig Gewordene in seinen jungen Jahren auf einem guten Weg. Rasch fasste er als Journalist Fuß, schrieb Feuilletons, in denen er den düsteren, gern übersehenen Winkeln der Gesellschaft seine Aufmerksamkeit schenkte. Zu den zu Lebzeiten erschienenen Büchern zählt dieser Band mit kurzen Geschichten aus dem Inneren der Psychiatrie. So erschreckend die Atmosphäre, in der der Autor sich aufzuhalten gezwungen war, sich auch immer auf alle Internierten auswirkte, mit einem Abbild der Misere begnügte er sich nicht. Er begab sich in die Rolle des Beobachters, der, so abgedreht konnten ihre Handlungen gar nicht sein, sich mit Wohlwollen seinen Leidensgenossen zuwandte. Dass jemand, der solch luzide Prosa zu schreiben vermochte, von „einer schweren Geistesstörung“ geschlagen sein sollte, wie der Gerichtspsychiater urteilte, lässt sich heute schwer verstehen. In zwanzig kurzen Episoden erzählt er von den Weggesperrten, bringt großes Verständnis für ihre Aufkündigung der Regelkonformität auf, sieht nicht Patienten mit gravierenden Schäden, sondern Menschen mit ausgeprägter Persönlichkeit und unbändigem Willen. Schlägt einer über die Stränge, geht Van de Velde nicht auf Distanz, weil er mit dem Randalierenden nichts zu schaffen haben will, er bekommt in Form eines knappen Porträts eine Geschichte und damit einen eigenen Wert. Man sieht, dass der Verfasser journalistisch geschult ist und einen Blick für das Fremde hat, das auch Platz findet in der Gesellschaft. Diese Erzählungen sind nicht auf Moll gestimmt, ziehen einen nicht runter in die Tiefen der Depression, manchmal dürfen sich Witz und Ironie durchsetzen. Knisternde Schädel Erzählungen von Roger Van de Velde Aus dem belgischen Niederländisch von Annette Wunschel Suhrkamp, 2024. 130 S., geb., € 20,60

DIE FURCHE · 39 26. September 2024 Literatur 19 Sintflut als Climate-Fiction: In ihrem Roman „Acqua alta“ zeigt Isabelle Autissier fiktiv das Scheitern des venezianischen Schutzsystems MO.S.E. und die zerstörerische Kraft der Natur. Die Vision eines postapokalyptischen Venedigs. Wenn die Lagunenstadt untergeht Von Ingeborg Waldinger Mose hat das Meer geteilt, um die Israeliten aus Ägypten zu führen. Auch MO.S.E. teilt in gewisser Weise das Meer. Das Kürzel steht für Modula Sperimentale Elettromeccanica und bezeichnet ein milliardenschweres Sperrwerk an den Einfahrten zur Lagune von Venedig. Es soll das historische Zentrum der Stadt vor schweren Sturmfluten schützen. Aber hält die kühne Technik den entfesselten Naturgewalten tatsächlich stand? Mancher Zeitgenosse meldet ernste Zweifel an. Das jährliche Hochwasser ist fester Bestandteil der venezianischen Ikonografie, jeder kennt die Bilder des gefluteten Markusplatzes. Durchtränkt vom acqua alta ist auch die Literatur über die Serenissima, so beispielsweise die gleichnamigen Romane von Judith Hermann und Donna Leon oder Gerhard Roths Roman „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ . Natürlich findet sich das Motiv auch bei Venedigs Autoren. Giovanni Montanaro etwa thematisiert im Roman „Il libraio di Venezia“ (dt.: Der Buchhändler von Venedig) das extreme Hochwasser von 2019. (Ein Jahr darauf wurde übrigens das Schutzsystem MO.S.E. erstmals getestet.) Die französische Autorin Isabelle Autissier lässt es nicht bei diesem wiederkehrenden venezianischen Naturphänomen bewenden. In ihrem Roman „Acqua alta“ (Originaltitel: „Le naufrage de Venise“, dt.: Der Untergang Venedigs), der nun in der deutschen Übersetzung von Kirsten Gleinig vorliegt, tritt die ultimative Katastrophe ein. MO.S.E. versagt. Foto: iStock/Nemo1963 Aus Trümmern Profit schlagen Autissier wurde 1956 in Paris geboren und hat eine besondere Beziehung zum Meer. 1991 umsegelte sie als erste Frau allein einhand die Welt. Bei einer späteren Regatta kenterte sie inmitten des Südpazifiks und überlebte dank Rettung durch den Konkurrenten Giovanni Soldini. Abseits ihrer Segelsportkarriere erwarb Autissier ein Diplom in Fischereiforschung und war von 2009 bis 2021 Präsidentin des WWF Frankreich. Ihr maritimes Engagement spiegelt sich auch in pädagogischen Tätigkeiten wider – und in ihrem prämierten literarischen Werk. Ob Reisebericht, Essay oder Roman, das Meer ist allgegenwärtig. Auf Deutsch sind bei mare bislang drei Romane erschienen: „Herz auf Eis“ (2017), „Klara vergessen“ (2020) – und nun „Acqua alta“. Autissiers Venedig wird im Jahr 2021 von einer Sturmflut zerstört. Tausende Tonnen Stein stürzen „mit einem Mal auf den instabilen Untergrund“, die Stadt fällt zusammen wie ein Kartenhaus. Dogenpalast und Campanile sind ein Schutthaufen, die hehren Palazzi sinken nieder, zersplitterte Vaporetti und Gondeln verklausen die Kanäle. Der Roman eröffnet mit einer postapokalyptischen Szene. Guido Malegatti, mächtiger Wirtschaftsstadtrat von Venedig, hat die Katastrophe schwer verletzt überlebt. Kaum genesen, bahnt er sich den Weg zu seinem zerstörten Domizil. Eine herabstürzende Decke hat seine Frau Maria Alba unter sich begraben. Das Schicksal von Tochter Léa ist ihm nicht bekannt. Doch Trauer und Sorge um die Seinen halten sich in Grenzen: Die Ehe war nur noch eine Vernunftbeziehung und das Verhältnis zur Tochter ideologisch polarisiert. Aus den divergierenden Perspektiven der Familie entsteht ein facettenreiches Porträt der Stadt. Erzählt wird auktorial und in vielen Rückblenden. Alba Male gatti, die melancholische Nachfahrin eines legendären, verarmten Dogengeschlechts, wahrt die Fassade einer intakten Familie. In ihrem ästhetisch veredelten Heim träumt sie von verlorener Größe. Guido, der Bauernsohn mit Wirtschaftsstudium, gewann dank adeliger Gattin an Sozialprestige und durch obskure Immobiliengeschäfte ein Vermögen. Mit kaltem Pragmatismus sucht er die Prosperität der Lagunenstadt zu sichern, auch um den Preis des Massentourismus. Kritik von Kollegen und „ Die Autorin betreibt in ‚Acqua alta‘ keine Schwarz-Weiß- Malerei, sondern nimmt eine nuancierte gesellschaftskritische Perspektive ein. “ Wissenschaftern ignoriert er beharrlich. Selbst die Flutkatastrophe hat keine läuternde Wirkung. Denn schon hat Guido Malegatti eine neue Marketingidee: die Inszenierung der Ruinen! Leerstellen regen bekanntlich die Fantasie an. Tochter Léa wiederum, die Kunststudentin, liebt ihre Stadt mit allen Sinnen. Sensibilisiert für die fragile Schönheit und deren Gefährdung durch Profitgier und Ignoranz, vollzieht sie den Wandel von der Romantikerin zur radikalen Umweltaktivistin. Sie bricht mit der Familie, erlebt die Implosion einer Utopie und den Verlust allen Halts. FEDERSPIEL Autissier gibt der ambivalenten Entwicklung der Serenissima viel Raum. Hier der einstige Glanz als kosmopolitischer Handelsplatz, das einzigartige Kulturerbe, die Traumkulisse. Dort der ungebremste Verfall, Einwohnerschwund und Over tourism sowie die ökologische Destabilisierung der Lagune: Was mit dem Abpumpen des Grundwassers für die Hafenund Petrochemie-Anlagen von Mestre/Marghera begann, findet mit den modernen Kreuzfahrtschiffen und, wer weiß, vielleicht sogar durch das Flutsperrwerk seine Fortsetzung. Die Autorin betreibt in „Acqua alta“ keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern nimmt eine nuancierte gesellschaftskritische Perspektive ein, die sogar das Phänomen des Ökoterrorismus nicht ausblendet: Léa entwickelt in ihrer Ohnmacht Pläne für eine spektakuläre „Vollbremsung“. Isabelle Autissier gestaltet das alte Motiv der Sintflut als Climate-Fiction. Bildgewaltig und kenntnisreich lässt sie Venedig untergehen. Ihre zentralen Figuren schwanken zwischen Hybris und Resignation; Besiegte sind sie allesamt. Möge dieses Atlantis auf ewig Fiktion bleiben. Wahl und Heimat / Heimat der Wahl Heimat mit Straßen ohne Erde im Atlas aus Gras wär doch was“ – der Text einer der wundersam vertrackten Collagen Herta Müllers taugt „Eine als Bannspruch für all das Heimat- und Volksgetümel, das uns gegenwärtig behelligt. In einem Atlas aus Gras kann jeder Ort Zentrum sein. So wurde die für fremde Münder unaussprechliche Geburtsstadt der einen Nobelpreisträgerin jüngst zur Bühne für die andere, die sich allerdings (auch heiserkeitsbedingt) im Hintergrund hielt. Im Kunsthaus Mürzzuschlag sind die Collagen zu bewundern, dort tagte ein neunköpfiges Symposion, bei dem zwar nur Wasser getrunken, aber dennoch am offenen Textkörper intensiv nachgedacht und angeregt über dieses den Repressionen der Diktatur abgetrotzte Werk gesprochen wurde, biografisch fundiert, findig, beispielreich, aus rumänischer, deutscher und österreichischer Perspektive, nach einer Idee von Kurt Neumann ganz ohne vorfabrizierte Referate. Höhepunkt: die abschließende Lesung mit dem stimmlosen Zwischenruf der Autorin aus den Kulissen. Land unter Regelmäßig stehen der Markusplatz und andere Stadtteile Venedigs unter Wasser – ein Motiv, das sich auch in der Literatur wiederfindet, etwa bei Donna Leon oder Gerhard Roth. Lesen Sie auch „Gerhard Roth schickt seinen Helden nach Venedig: Auf eine Nachtmeerfahrt der Paranoia“ von Markus Hildenbrand (9.11.2017) auf furche.at. Acqua alta Roman von Isabelle Autissier Aus d. Franz. von Kirsten Gleinig mare 2024 208 S., geb., € 23,70 Von Daniela Strigl „In der Kunst übt man das Zerbrechen“, heißt es bei Herta Müller, aber das Resilienz-Reservoir der Musik funktioniert doch anders als das der Literatur. Jedenfalls ist auch die Wahlheimat Heimat: Der Hamburger Weltbürger Johannes Brahms ist die andere, vielmehr: dritte Weltberühmtheit in Mürzzuschlag, mit dem kaiserlichen Leopold-Orden auch offiziell zum Österreicher erklärt. Im großartigen, von Ronald Fuchs betreuten Brahms-Museum erfährt man alles über die produktiven Sommer frischen des Komponisten, sieht (und hört) seine Klaviere, seine Mascherln und sogar seine Kaffeemaschine. Eine klug arrangierte Schau der sprechenden Dinge, wie sie Herta Müller gefallen müsste; die aber auch vor deren provokantem Unbeteiligtsein gewarnt hat. In ihrem Lager- Roman „Atemschaukel“ heißt es: „Immer erwischt es den Spieler, nie das Klavier.“ Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin.

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