DIE FURCHE · 36 5. September 2024 Wolfgang Mazal Das Gespräch führten (li.) und Stephan Doris Helmberger und Schulmeister haben unterschied- Till Schönwälder liche Auffassungen ergangene Woche darüber, wie sehr warnte das „Bündnis Demokratie und sich die Kirchen politisch ein- Respekt“ vor einem mischen sollten. „Volkskanzler Kickl“ und dem Ende der liberalen Demokratie – mit dabei unter anderem neben dem Ökonomen und Sprecher Stephan Schulmeister auch der Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner und die Katholische Aktion Österreich. Demgegenüber hat der Katholische Laienrat Anfang August vor „parteipolitischer Vereinnahmung“ der christlichen Soziallehre gewarnt. DIE FURCHE hat den Präsidenten des Laienrats, Wolfgang Mazal, und den Aktivisten Stephan Schulmeister zur Debatte gebeten. Mazal: Ja, in der momentanen Situation sehe ich alleine deswegen DIE FURCHE: Seit Tagen gibt es Aufregung über die Wahlplakate der keine Unvereinbarkeit. FPÖ. Auf einem prangt der Slogan: „Euer Wille geschehe“. Was Sache der Bischöfe. Wie groß ist DIE FURCHE: Aber nochmals zur halten Sie von diesen Plakaten? das Risiko, dass man von kirchlicher Seite Menschen verliert, Wolfgang Mazal: Ich halte sie für peinlich, anbiedernd und demokratietheoretisch falsch. Es nicht FPÖ wählen? wenn man klar sagt, ihr sollt ist völlig unklar, wessen Wille Schulmeister: Vielleicht gäbe es wie eruiert werden kann. Es ist einen Verlust an Kirchenbeiträgen, aber da verliert man nicht zudem klar der Versuch, sich an christliche Kreise anzunähern. jemanden, der wirklich christlich ist. Denn die Summe der For- Aber ich bin der festen Überzeugung, christliche Kreise wissen DIE FURCHE: Zu den Sujets haben tibel mit den Aussagen und Haltungen einer Partei? Und man tische Position ein Urteil gefällt Sprache des Herrn Kickl, ist we- von Kirchenseite über eine poliderungen, einschließlich der das einzuordnen. Für sie ist das sich auch Kirchenvertreter geäußert. Bischofskonferenz-Gene- kann feststellen, im Fall der FPÖ wird; aber zu einer Partei als Gesentlich ärger als bei der AfD. eher kontraproduktiv. Stephan Schulmeister: Dem ralsekretär Peter Schipka hat sie gibt es in allen Bereichen diametrale Gegensätze: egal ob Eurogen, ist einfach ein qualitativ an- seine Verhöhnung, seine Art, klar samtpaket ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu sa- Schauen wir auf seine Sprache, kann ich mich durchaus anschließen, aber ich würde ergänzen, tholischen Sozialakademie Öspäische Union, Klimawandel, Soderer Schritt. zu sagen, er möchte die Demokra- kritisiert. Der Direktor der Ka- dass das sehr typisch für die Persönlichkeit des Herrn Kickl ist. nitweit, hat gemeint, dass die dann kann man natürlich sa- DIE FURCHE: Wie sehen Sie die Si- auch das Bild, das er vom Staat als terreichs (ksoe), Markus Schlagzialstaatlichkeit, Fremde. Und tie abschaffen. Er steht dazu. Und Menschen, die ganz davon abhängig sind, die Zuwendung von je- seien mit christlichen Grundsät- Die Kirchenleitung kann auf- sich ja der Bischofskonferenzvor- klar – wenn er der „Vater“ der Fa- FPÖ-Positionen „nicht vereinbar“ gen: Diese Partei ist unwählbar. tuation in Deutschland? Hier hat „Familie“ zeichnet: Bitte, das ist so weils unterschiedlichem Publikum zu bekommen, treten eben Satz vonseiten der Bischöfe, dass ten rechtsextremer Parteien und Landtagswahl in Thüringen und keine Demokratie mehr. zen. Trotzdem fehlt letztlich der klären, dass zwischen den Inhalsitzende, Georg Bätzing, vor der milie Österreich ist, dann gibt es mit unterschiedlichen Gesichtern und mit unterschiedlicher sein kann. Woran liegt das? Kirchen ein diametraler Widergesprochen . Punkten, außer der Schwanger- die FPÖ für Christen keine Option den Inhalten der christlichen Sachsen klar gegen die AfD aus- Wenn also in allen wichtigen Sprache auf. Schulmeister: Ich bin der klaren Überzeugung, dass Christinlen Ebenen. Thüringen, Sachsen und Deutschtraler Gegensatz zwischen FPÖ spruch besteht. Und zwar auf al- Mazal: Ich sehe die Situation in schaftsabbruchsfrage, ein diame- Einmal schimpft Herr Kickl, führt Fahndungslisten und ist nen und Christen die FPÖ nicht Mazal: Ich glaube, dass es für einen wirklich aufgeklärten, be- jene in Österreich. Ich maße mir eine Kirche, die ihre Identität beland insgesamt doch anders als und Kirche besteht, dann muss stolz darauf, rechtsextrem zu wählen können. Auch die österreichischen Bischöfe haben in ihwusst lebenden Christen zu kei- aber nicht an, da Stellung zu bewahren möchte, auf die Mitglied- sein. Das andere Mal, jetzt zur Nationalratswahl, wird er sanfter rer Sommertagung solche Parteien kritisiert, wenn auch nicht so Schnittmengen gibt. Im Gegen- mit dem ZdK (Zentralkomitee der hänger verzichten. Beides geht ner Partei hundertprozentige ziehen. Wir als Laienrat haben schaft begeisterter Kickl-An- Lesen Sie zu und gibt sich christlich in der diesem Thema Hoffnung, ÖVP-Wähler in sein scharf und explizit, wie die Deutsche Bischofskonferenz die AfD schen Skylla und Charybdis auf Frühjahr einen langen Austausch se „Das Kreuz teil, es ist immer eine Wahl zwi- Deutschen Katholiken, Anm.) im auch die Analy- einfach nicht. Lager zu ziehen. Peinlicherweise macht aber die ÖVP dasselbe damals und auch jetzt verurteilte. allen Seiten. Und ich glaube, das gehabt. Und es war für mich interessant, dass die Position des der FPÖ“ (11. Begriffen wie „Remigration“, die der Kirchen mit DIE FURCHE: Die FPÖ agiert mit auf der anderen Seite, in der Hoffnung, FPÖ-Wähler zu gewinnen. vorbei, dass – bei allem Respekt – ge nach einem Recht zur Abtrei- ZdK eine differenzierte war: Sie Juni 2024) von als eindeutig rechtsextrem gel- Mazal: Ich glaube, die Zeiten sind sollte man auch so sagen. Die Fra- Till Schönwälder Das ist halt eine degenerierte Politik, die nur mehr den Wahlerfolg klären müssen, was sie gefälligst ein kleiner Bereich, für mich träger der AfD in kirchlichen dert man auch „Homogenität“ in ältere Herren der Bevölkerung erbung auf Krankenschein ist zwar möchten nicht, dass Funktionsten. Im neuen Wahlprogramm for- auf furche.at. im Fokus hat und nicht die Frage: zu wählen haben und was nicht. aber ein entscheidendes Kriterium. Das Christliche hat eben vie- Partei, die solche Fantasien völki- Funktionen sind. der Bevölkerung. Kann man eine Wie wollen wir die Gesellschaft Das halte ich auch für demokratiepolitisch falsch und fragwürdig. le Aspekte, aber die Schnittmen- DIE FURCHE: In Österreich wäre es scher „Reinheit“ hegt, aus christ- verändern, wie soll Österreich wirklich aussehen in 15 Jahren? Ich bin der festen Überzeugung, gen zu den Parteien werden in unvorstellbar, dass FPÖ-Funktionäre nicht in der Pfarre aktiv sein Mazal: Ich persönlich könnte licher Perspektive unterstützen? Mazal: Diese Doppelgesichtigkeit dass man alle Leute informieren soll, dass man klar zu Positiner. Es ist für mich legitim, wenn dürfen. das nicht, ganz einfach. Aber ich unserer Gesellschaft immer klei- ist allerdings nicht nur ein Problem von Kickl, sondern aller Politiker. Herr Babler hat vor einigen zu sagen, wen darf man wählen der Institution unterscheiden. onen Stellung nehmen soll. Aber muss meine Position von jener Jahren die Kreuze abmontieren und wen nicht, das ist 1950er- Beispielsweise als Katholischer lassen − und jetzt wirbt er mit Jahre-Stil. Laienrat zu sagen, wegen einzelner Positionen ist eine Partei un- katholischer Soziallehre. Das ist Schulmeister: Das ist so aber auch nichts anderes. Das ist State nicht gemeint. Es geht darum, wählbar, geht aus meiner Sicht of the Art einer fehlgeleiteten Politikberatung − quer durch alle Aussagen der katholischen und dass man logisch prüft: Sind die nicht, weil man da bei jeder Partei Parteien. evangelischen Kirchen kompa- FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE Angesichts von Katastrophen verschieben sich die Prioritäten und die Menschen rücken zusammen. „Solidarität“ ist angesagt – wie auch am Beginn Friedrich hat sich den Film „Explanation for Everything“ angesehen, in kontrollen, Susanne Glass ergründet, was seine Fans motiviert – und Otto der Corona-Pandemie. Wie rasch diese Solidarität zerbröselt, zeigte sich dem Gábor Reisz die dramatische Polarisierung in Ungarn beleuchtet. Wie freilich schon hier. Wie lange wird der Zusammenhalt diesmal dauern? Und schmal der Grat zum Faschismus ist, zeigt das Interview mit dem brasilianischen Polit-Psychologen Christian Dunker. Und wie rasch eine religiös un- was heißt vor diesem Hintergrund „Gerechtigkeit“? Im Rahmen der 4. Folge der FURCHE-Serie „Welche Werte wir wählen“ beleuchten wir dieses Ideal – musikalische Gesellschaft von populistischen „Predigern“ gekapert werden und mit ihm die SPÖ, die es seit jeher besonders hochhält. Neben der Klimakrise fordert auch die Migration unsere Solidaritätsbereitschaft heraus. Und Paul Liessmann, Nestor des Philosophicum Lech, das sich dieser Tage dem kann, illustriert Andreas G. Weiß. Auf der Metaebene bewegt sich Konrad Viktor Orbán treibt das Sticheln gegen diese Tugend auf die Spitze. Philipp „Stören“ widmet. Und Martin Tauss beschreibt prägende Präsenzerfahrungen. Fritz widmet sich in einer Recherche Orbáns Querschüssen in Sachen Grenz- In der Flut gab es wohl einige, auf die man gern verzichtet hätte. (dh) Unter „FURCHE- Wahlserie: Welche Werte wir wählen“ finden Sie auf furche.at alle Artikel dieses Fokus sowie weitere digitale Das Gespräch führte Doris Helmberger or Kurzem noch war Clemens Sedmak zu Hause in Seekirchen am Wallersee. Nun ist der Theologe und Philosoph wieder an die University Notre Dame (Indiana) zurückgekehrt. Der Wahlkampf begleitet ihn hier wie dort. Ein Online-Gespräch in aller Herrgottsfrühe. DIE FURCHE: Herr Professor Sedmak, wir wollen über Gerechtigkeit sprechen – und über den Zusammenhang mit Solidarität, die ja nicht nur ein Schlachtruf der Linken, sondern auch ein Prinzip der christlichen Sozialethik ist. Wie würden Sie diesen Zusammenhang beschreiben? Sedmak: Solidarität ist eine Einstellung und Gerechtigkeit ist ein Wert. Oder anders gesagt: Solidarität ist die feste Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Und wenn das gelingt, möge am Ende so etwas wie Gerechtigkeit herauskommen, also ein Zustand, bei dem keine Person unter ein bestimmtes Minimum fällt, mit Fairness behandelt wird und das bekommt, was ihr zusteht. Wobei „Gerechtigkeit“ ein Maximalbegriff ist, den wir wohl auf dieser Welt nie einlösen können – das schaffen wir schon aufgrund natürlicher Ungleichheiten oder Unwägbarkeiten wie Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen nicht. Aber das heißt nicht, dass es nicht wichtig wäre, sich daran auszurichten. Das Minimum wäre, dass wir uns um eine anständige, solidarische Gesellschaft bemühen. Es gibt das schöne Buch von Nancy Rosenblum über „Good Neighbours“, gute Nachbarschaft. Darin geht es um die Frage, wie man Solidarität einüben kann und sich das dann in die Politik übersetzen lässt. DIE FURCHE: Was macht dieses Einüben in der Praxis so schwer? Sedmak: Es beginnt damit, dass wir uns damit schwertun, Privilegien als solche zu sehen und zu benennen. Erstens werden Privilegien meist als selbstverständlich betrachtet und zweitens glauben Leute, die Privilegien haben, sehr schnell, es sei ihr Verdienst. Das ist nicht förderlich für Solidarität. Eines der explosivsten Motive der katholischen Soziallehre Inhalte. ist die Idee der universalen Destination der Güter, also der – wenn man so will – naiven Idee, Gott habe die Welt für alle geschaffen und nicht nur für die, die Glück gehabt haben und es sich richten können. Das ist ein anspruchsvoller Gedanke, der Widerstand weckt. Insbesondere in Wahlkämpfen wird dann mit Neid und Angst gespielt: Angst vor Inflation, vor Wohlstandsverlust, vor Migration, vor der nächsten Pandemie – und Neid mit Blick auf be- se Gleichheit an Möglichkeit gibt es einfach nicht. Und da hat die Eine Szene aus der „Allegoria SPÖ einen wichtigten Punkt. Deswegen geht es um ein Sicherheits- dell’ingiustizia“ (1656) von Bernardino Mei (1612–1676) . netz. Das kann natürlich – wie alles – missbraucht werden. Aber angesichts dessen, was manche Firmenpleiten den Steuerzahler kosten und wie schnell Risiken sozialisiert und Verdienste individualisiert werden, verstehe ich die Sensibilität der Linken. DIE FURCHE: Unlängst hat der Fall einer neunköpfigen Familie aus Afghanistan für Aufregung gesorgt, die in Wien 4600 Euro Mindestsicherung erhält. Ist das eine „Neiddebatte“ – oder eine notwendige Diskussion, um den Zusammenhalt zu bewahren? Sedmak: Wenn wir Regeln haben, dann sind sie einzuhalten. Aber man kann sich schon fragen, ob diese Regeln gescheit sind – und sie notfalls ändern, weil solche Extremfälle immer auch Testfälle sind. Das geht aber auch in die andere Richtung, wenn etwa ein Mensch mit Mindestsicherung trotzdem keine Chance hat, über die Runden zu kommen. Oder wenn Asylwerbende keine Chance auf Arbeit haben, weil ihr Verfahren so lange dauert. Solidarität bedeutet eben, dass alle Verantwortung für das Ganze haben. Anders gesagt: Wenn du Teil einer Gemeinschaft bist, dann schuldest du ihr auch etwas. Wir können uns nicht zu viele Leute leisten, die das Maximum aus der Gesellschaft herausholen wollen, aber emotional überhaupt nicht mit ihr verbunden sind. DIE FURCHE: Sollte man den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, um die Loyalität zu erhöhen? Immerhin darf in manchen Teilen Wiens ein Drittel der Bevölkerung nicht wählen. Sedmak: Ein Drittel ist viel. Aber stimmte Gruppen. Das führt in einen unappetitlichen Diskurs. der sind, dann die Enkelkinder. Es se das Gehalt. Darum ist aber auch Gemeinschaft vergeben kann, ist zahlen, und wenn es nicht die Kin- das ist meist Geld beziehungswei- eines der höchsten Güter, die eine gibt außerdem nicht nur die Verteilungs-, sondern auch die Leis- im Weinberg (Mt 20) so schwierig Insofern würde ich das nicht das Gleichnis von den Arbeitern doch das Gut der Mitgliedschaft. DIE FURCHE: Kommen wir zurück zur Aussage „was jedem zusteht“: tungsgerechtigkeit. Hier hat der für Philosophen: Hier bekommt jemand, der elf Stunden gearbeitet auch noch Positionen dazwischen, leichtfertig vergeben. Es gibt ja Christ- und Sozialdemokraten interpretieren das traditionell un- sehr klug zwischen drei Sphären hat, ebenso viel wie einer, der nur etwa in den USA die „Greencard“, britische Philosoph David Miller terschiedlich. Erstere betonen unterschieden, in denen je unterschiedliche Gerechtigkeitsformen der ÖVP nicht gefallen. zehn Jahren samt Arbeitsgeneh- eine Stunde tätig war. Das kann mit der ein Aufenthaltstitel von Leistung – und sehen bei Sozialdemokraten „Gleichmacherei“. zum Tragen kommen. In der Familie ist der primäre Wert das Begutehalten muss, ist, dass Leis- kann sie wieder erneuert wer- Was man wiederum der SPÖ zumigung verbunden ist. Und dann Was kommt dem christlichen Solidaritätsgedanken näher? dürfnis: Wer mehr braucht, soll tungsmöglichkeiten ungleich den. Nicht gut ist hingegen, wenn Sedmak: Ein Begriff, den ich hier mehr bekommen. Im beruflichen verteilt sind – und es auch mit Privilegien zu tun hat, wer wieviel werden, ohne dass sie arbeiten Asylwerbende ewig hingehalten einwerfen möchte, ist „Realismus“. Was können wir uns reaum das Verdienst: Wer mehr leis- leisten kann. Wenn du in einer können. Und dann womöglich kri- Umfeld ist das wichtigste Kriterilistischerweise leisten? Die Überschuldung Österreichs hat ein Staatswesen ist der zentrale Wert fen musst und einen schlecht bepulisten in die Hände spielt. tet, soll mehr bekommen. Und im lauten, feuchten Wohnung schlaminell werden, was wiederum Po- Niveau erreicht, wo wir vorsichtig sein und den Eifer der Gerech- sind wir alle gleich. Ich verstegungspersonal hier in den USA, DIE FURCHE: In puncto Umgang die Gleichheit: Als Staatsbürger zahlten Job hast, wie das Reinitigkeits-Utopisten etwas bremsen müssen. Irgendjemand muss sagt: Wer mehr leistet, braucht ei- müsst euch halt mehr anstrengen! Khol einmal gemeint, dass es eben he also die ÖVP insofern, als sie dann kann man nicht sagen: Ihr mit Geflüchteten hat Andreas ja auch wieder die Rechnung bene entsprechende Motivation, und Vor einigen Jahren gab es einen Nächsten- und nicht „Fernstenliebe“ heiße. Tatsächlich erhal- sehr kontroversiellen Artikel im Wall Street Journal, in dem ein erfolgreicher Investmentbanker un- Grenzen schließen wollen. Kann ten weltweit Parteien Zulauf, die ter dem Titel „Wenn ich ein armes Solidarität in Migrationsgesellschaften „überdehnt“ werden? schwarzes Kind wäre“ gute Ratschläge erteilt hat. Das war nicht Sedmak: Tatsächlich hat man lange Zeit naiv gesagt: Seid nett böse gemeint, aber naiv, denn die- zuei- DIE FURCHE · 39 16 Diskurs 26. September 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Im Widerspruch zur FPÖ Dürfen Christen FPÖ wählen? Streitgespräch zwischen Stephan Schulmeister und Wolfgang Mazal Nr. 36, Seiten 9–10 sowie „Euer Wille geschehe“: Ein FPÖ- Plakat als postmoderne Dämonie Von Regina Polak. Nr. 35, Seite 10 Dass die Weltanschauungen des Christentums und der FPÖ sich fundamental widersprechen, sollte für aufgeklärte, bewusst lebende Christinnen und Christen kein allzu großes Novum darstellen. Dessen ungeachtet werden von reaktionären Kreisen häufig familienpolitische Themen sowie die Frage nach dem Lebensschutz von ungeborenen Kindern einseitig dafür instrumentalisiert, um doch so etwas wie eine gemeinsame Schnittmenge zwischen den Inhalten rechtsextremer Parteien und den christlichen Kirchen auszumachen. Daraus jedoch die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die FPÖ eine durchaus wählbare Option in der österreichischen Parteienlandschaft darstelle, wäre nicht nur in demokratiepolitischer Hinsicht ein folgenschwerer Irrtum, sondern zugleich auch ein eklatanter Widerspruch zur jesuanischchristlichen Botschaft, ihren Werten und der katholischen Soziallehre. Ein selbsternannter „Volkskanzler“ und verschrobener „Vater der Familienfes- In Ostdeutschland haben die bischöflichen Warnungen vor der AfD nichts genutzt.In Österreich gibt es gleich gar keine vergleichbaren Aussagen. Täte das Not? – Ein Streitgespräch. V Foto: Clemens Fabry Religion Dürfen Christen FPÖ wählen? „ Es kann Situationen geben, in denen man sagt: Ich muss das, was ich vor der Wahl gesagt habe, verändern. “ Wolfgang Mazal GLAUBENSFRAGE 9 Kontroverse tung Österreich“ muss sich zurecht des Vorwurfs der Dämonie bezichtigen lassen, gleicht sein verächtliches Spiel mit religiösen Assoziationen doch in jeder Hinsicht einem autokratischen Macht-Narzissmus, der auf Zerstörung und Vernichtung einer offenen, weltanschaulich und religiös pluralen Gesellschaft abzielt. Für diese psychopathologische Befundung gebührt der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak Dank und Anerkennung, zumal sie in einer beeindruckenden sprachlichen Dichte jene demokratiezerstörenden Dynamiken schonungslos freilegt, die zusehends von einer nur an der Oberfläche christianisierten Bevölkerung unhinterfragt in Kauf genommen werden. Vor all dem zu warnen und an einem Wachrütteln des Wählergewissens mitzuwirken, wäre im schulischen Kontext gerade auch die unersetzliche Aufgabe des konfessionellen Religionsunterrichts und seiner vielfältigen Kooperationsformen – etwa wenn es darum geht, die Verbindung zwischen Demokratie, Bildung und Religion sichtbar zu machen. Gelingt es, junge Menschen durch die Schule in ihrer Entwicklung zu selbstverantwortlichen und kritischen Bürgern zu begleiten, sie dahingehend zu ermächtigen, mit Mut, Verstand und Zuversicht ein Stück weit Zukunft demokratiepolitisch mitzugestalten, ist dies die wirksamste politische Brandmauer gegen dämonische Kräfte rechtsextremer Parteien. Fachinspektor Mag. Andreas Niedermayr, Erzbischöfliches Amt für Schule und Bildung Wien Formen der Leitkultur wie oben Im Namen der Liebe In der Frage, ob Christen FPÖ wählen dürfen, stelle ich mich beim Thema Leitkultur klar hinter Wolfgang Mazal. Der Begriff Leitkultur ist in Europa auf Grund der ständig wachsenden Migration vor allem in Richtung der liberal-demokratischen westlichen Industriestaaten mit hohem Wohlstandsniveau entstanden. Die Leitkultur sollte aus einem wertebestimmten Kernteil bestehen, der rechtlich in unseren staatlichen Verfassungen garantiert erscheint. Weitere Bestandteile einer Leitkultur von teilstaatlichen und lokalen Sitten und Gebräuchen sind auf Grund ihrer natürlichen Bindung an die nähere Umgebung ohne Notwenigkeit einer Regelung fest verankert oder werden zum Teil auch durch Regionalbehörden geschützt. Diesbezüglich könnten sich auf unterschiedlich staatlichem Niveau Anpassungen ergeben, wenn eine demokratische Mehrheit dies infolge der gesellschaftlichen Weiterentwicklung verlangt. Heinz Wimpissinger Generalsekretär der Europa- Gesellschaft Coudenhove-Kalergi Zu Gunsten der Reichen „Verzweiflung ist gefährlich“ Interview mit Clemens Sedmak Nr. 38, Seiten 2–3 DIE FURCHE · 38 2 Das Thema der Woche Welche Werte wir wählen: Gerechtigkeit 19. September 2024 V AUS DER REDAKTION Der in den USA und Salzburg lehrende Sozialethiker Clemens Sedmak über Solidarität aus Sicht von Christ- und Sozialdemokraten, zynische Privilegierte, schwer definierbare „Arme“ und das ewige Thema Neid. „Verzweiflung ist gefährlich“ „ Die Überschuldung Österreichs hat ein Niveau erreicht, wo wir den Eifer der Gerechtigkeits- Utopisten etwas bremsen müssen. “ Ist das gerecht? Das im Grundsätzlichen bemühte Gleichgewicht zwischen „Jedem das Seine“ und „Allen das Gleiche“ kippt bei Clemens Sedmak in der Praxis eindeutig zu Gunsten der Reichen: Da werden „Arme“ als schwer definierbar und die praktische Umsetzung von „Vermögens- und Erbschaftssteuern“ schlicht abgetan. Und, obwohl es „hochproblematisch“ ist, wenn jemand nur zuzuschauen braucht, wie sein Vermögen wächst, kann man das „leider“ nicht ändern! Schwer zu ertragen ist auch das (neoliberale) Gejammere über die „Überschuldung Österreichs“. Dabei wird immmer der Staatshaushalt mit einem Privathaushalt verwechselt. Für letzteren können Schulden ruinös sein. Ersterer darf Schulden machen, weil er die Hoheit hat, Geld zu schöpfen – nicht ins Unendliche, sondern eben bedarfsgerecht (wie z. B. nach einer Flutkatastrophe). Mag. Dr. Alfred Racek, via Mail Von Ines Charlotte Knoll Foto: Getty Images / Heritage Images / Fine Art Images Weinberg? Falscher Ansatz! siehe oben Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit Leistungsgerechtigkeit zu verknüpfen, ist ein falscher Ansatz. Der Weinberg ist kein Arbeitsplatz, wo jeder brav seine Stunden abarbeitet und entsprechend entlohnt wird. Er steht für Gott, für die Erkenntnis der Allgegenwärtigkeit Gottes, für ein Leben in Gott. Wer diesen Zustand erreicht, als „Arbeiter im Weinberg Gottes“, ist zur Gänze gerettet, da gibt es kein früher oder später. Ein Extrembeispiel ist der mitgekreuzigte reumütige Sünder in der Passion, dem Jesus zusagt: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“. Karl Forcher 8755 St. Peter ob Judenburg Versiegelmeister Mehr als Schicksal Von Doris Helmberger. Nr. 38, S. 1 Politiker bedauern die Opfer der Hochwasserkatastrophe und versprechen Hilfe. Passt auch gut in den Wahlk(r)ampf. Vergisst die noch amtierende Bundesregierung, dass sie im Regierungsprogramm 2020- 2024 das Ziel formulierte, bis 2030 den Flächenverbrauch auf max. 2,5 Hektar pro Tag zu senken? Tatsächlich wurden und werden täglich über elf Hektar neu bebaut und versiegelt. Das bedeutet über 20.000 Hektar, die während dieser Regierungsperiode zusätzlich versiegelt wurden. Eine Fläche von 30.000 Fußballfeldern, die dem Wasser in diesem Zeitraum geraubt wurde, um zu versickern und schadlos abzufließen. Das verschärft die Gefahr, dass künftige Unwetter große Schäden anrichten. Dr. Walter Galehr, 5300 Hallwang Interesselose Rolle Alois Schwarz: „Umweltbischof“ wider Willen. Von Till Schönwälder Nr. 38, Seite 15 Danke für diese mutig-kritische Analyse zur wenig ruhmreichen und irritierend-interesselosen Rolle, die Bischof Schwarz als „Umweltminister“ der Bischofskonferenz hinsichtlich kirchlichem Engagement in Sachen Umwelt- und Klimaschutz einnimmt. Schutz der Schöpfung verdiente sich mehr als alibihaft Funktionen zu bekleiden. Davon gibt es schon zu viele in der Politik. Johann Hochstöger, 3680 Persenbeug In dieser Ausgabe der FURCHE finden Sie eine bezahlte Beilage der Caritas der Erzdiözese Wien. Das gesellschaftliche Sport-Highlight des Jahres am 3. Oktober live in ORF 1 13 Auszeichnungen bei der LOTTERIEN Sporthilfe Gala Die LOTTERIEN Sporthilfe-Gala, die mit Abstand größte und wichtigste Benefizveranstaltung für Österreichs Sport, findet am Donnerstag, den 3. Oktober in der Wiener Stadthalle statt. Sie wird live in ORF 1 um 20.15 Uhr übertragen. Den zentralen Inhalt dieses sportlichen Abends der Superlative bildet das Ergebnis der Sportlerwahl mit der Ehrung Österreichs erfolgreichster Sportler:innen des Jahres in zwölf Kategorien. Die Sieger:innen erhalten den NIKI Awards. Der 13. NIKI Award wird in der Kategorie „Sportler:in mit Herz“ für soziales Engagement überreicht. Das Siegerprojekt der Kategorie „Sportler:in mit Herz“ erhält eine projektgebundene Prämie von 10.000 Euro. Diese Prämie wird von den Österreichischen Lotterien, die diese Kategorie in Kooperation mit der Sporthilfe ins Leben gerufen haben, als Premium Partner zur Verfügung gestellt. Daneben bietet diese Charity-Veranstaltung, die mit einer unüberbietbaren Dichte an Spitzensportler:innen und vielen weiteren Prominenten über die Bühne geht einen hochkarätigen Mix aus Show und Unterhaltung, um die Leistungen der Sportheld:innen des Jahres entsprechend zu würdigen. Erhielten im Vorjahr den NIKI: Skispringerin Eva Pinkelnig und Radrennfahrer Felix Gall. Foto: gepapictures Im Namen der Liebe! Gäbe es eine schönere Ouvertüre, einander zu grüßen, als diese, einmal von Peter Turrini – geboren in Zeiten des Krieges am 26. September 1944 – für immer in die Welt gesagt? Gegen alles zu Sagende, die Nomenklaturen gesellschaftlicher Übereinkünfte und die dahinter oder dadurch eingeübten Anschauungen zu übersteigen in einer Befreiung des Denkens und des Für-wahr-Haltens. Nicht im Namen eines gekannten Gottes und nicht im Namen eines sich für einen Gott haltenden Menschen und auch nicht im Namen welcher Institution auch immer. Nein im Namen einer Macht, welche die Sprechenden und Angesprochenen dieser Begrüßungsformel in ihren Liebeshänden hält und die Sprachwunde des Denkens und des Glaubens heilt. Ist das die Sehnsucht hinter aller Machtgebärde, hinter aller Redelüge, hinter all der Ego show in Reels und in der uns erschreckenden Realität? Und alles ist ein Verlustgeschäft. Die Sprache hat verloren, wie Leonard Cohen, geboren am 21. September 1934, wusste: „I can’t brake the code … / It’s too late to know / What the password was“. Haben wir nicht das Passwort zu unserem Leben vergessen? Wie lange atmen wir schon in diesem „ZU SPÄT“? „Im Namen der Liebe / schreiben wir einen anderen Namen / anstelle des eigenen“, schreibt Peter Turrini uns in die Zunge. Und da haben wir ja schon das Passwort. Oh mein Gott, es liegt vor unseren Augen und jetzt auf der Zunge: LIEBE! Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Sei ein nichtidentitärer Mensch. Hinterfrage die Verabredungen, blicke hinter die Bühne, sei Lügenfrei und dann transzendiere Dich in die Weite, der wir und alles Leben immer gehören: im Namen der Liebe und im Namen des heiligen Hierseins und im Namen des Anwesend-Werdens und -Seins in einem jedem Leben und in seinem Wieder-Werden – Du geliebtes Leben! Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i. R. RELIGION IN KÜRZE ■ Amtseinführung des evangelischen Superintendenten Der neue Superintendent der evangelischen Kirche in Niederösterreich, Michael Simmer, wird am Samstag in Wiener Neustadt in einem Gottesdienst feierlich durch Bischof Michael Chalupka in sein Amt eingeführt. Michael Simmer (geb. 1982) war im März zum Superintendenten gewählt worden. Er folgt auf Lars Müller-Marienburg, der sein Amt im Oktober 2023 zurückgelegt hatte. RELIGION ■ Geköpfte Maria: Ermittlungen gegen zwei Verdächtige Nach dem Vandalenakt an einer Marienstatue im Linzer Mariendom stehen laut Polizei zwei Männer unter Tatverdacht. Es handelt sich bei den Verdächtigen um einen 73-jährigen Linzer sowie einen 31-jährigen Wiener. Ermittelt wird neben der schweren Sachbeschädigung auch wegen Gutheißung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Messaging-Dienst „Telegram“. Es drohen bis zu zwei Jahre Haft.
Der Ausbruch der Pandemie setzte im März 2020 einem Aufenthalt Maria Stepanovas im britischen Cambridge ein Ende. Zurück in Russland, verbrachte sie die folgenden Monate in einem Zustand der Erstarrung – die Welt hatte sich vor ihr zurückgezogen, die Zeit war »ertaubt«. Als sie aus diesem Zustand auftauchte, begann sie Ovid zu lesen. Motive fanden zueinander, die lange in ihr gewartet hatten. Wie schon in Der Körper kehrt wieder verwandelt sie historische und aktuelle Kataklysmen in ein ungemein feingliedriges, bewegliches Gebilde aus Rhythmen und Stimmen. Das Poem, das in einer rauschhaften Inspiration Gestalt annahm, spricht von Verbannung und Exil, von sozialer Isolation und existentieller Verlassenheit. Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine liest es sich wie ein Reflex auf die unmittelbare Realität. DIE FURCHE · 39 26. September 2024 Literatur 17 Kaum ein anderer Verleger seiner Zeit war so einflussreich und präsent wie er: Siegfried Unseld. 1952 stieg er in den Suhrkamp Verlag ein, 1959 übernahm er ihn. Ein Porträt zum 100. Geburtstag. Von Andreas Wirthensohn Seitdem Florian Illies 2012 mit seinem Buch über das Jahr 1913 einen fulminanten Bestsellererfolg feierte, erfreuen sich solche „Jahreszahlbücher“ enormer Beliebtheit. Vergangenes Jahr erschienen fast ein Dutzend Bücher mit der Jahreszahl „1923“ im Titel, und man darf darauf wetten, dass 2033 – hundert Jahre „Machtergreifung“ – ein wahrer Tsunami an entsprechenden Neuerscheinungen über uns Leser hereinbrechen wird. Mindestens ein Buch wert wäre auch das Jahr 1959 als zentrales Datum der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur – das Jahr, in dem auch der literarische Wiederaufbau nach den Zerstörungen, die der Nationalsozialismus angerichtet hatte, abgeschlossen und dieses Land „wenigstens ästhetisch auf der Höhe der Zeit“ angekommen war, wie Hans Magnus Enzensberger rückblickend schrieb. Günter Grassʼ skandalträchtige „Blechtrommel“, Heinrich Bölls erzähltechnisch wohl avanciertestes Werk „Billard um halbzehn“ sowie Uwe Johnsons verrätselte „Mutmassungen über Jakob“ schienen der schlagende Beweis dafür zu sein, dass sich das deutsche Romanschaffen endlich wieder sehen lassen konnte. Paul Celan veröffentlichte seinen Gedichtband „Sprachgitter“, Ingeborg Bachmann hielt eine Dankesrede mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, und in Übersetzung erschienen erstmals Truman Capotes „Frühstück bei Tiffany“ und Jack Kerouacs „On the Road“. Richtiges Händchen für Literatur Noch weitreichendere kulturelle Folgen hatte allerdings ein anderes Ereignis: Am 31. März starb Peter Suhrkamp, und sein Nachfolger als Verleger wurde Siegfried Unseld. Der am 28. September 1924 geborene Unseld, der lebenslang mit seinem „Wagner’schen“ Vornamen haderte, war 1952 in den Suhrkamp Verlag eingetreten und sollte sich in erster Linie um Herstellung, Vertrieb und Werbung kümmern. Doch sein Antrieb, sich nach Verlagslehre und parallel absolviertem Studium ausgerechnet bei Suhrkamp zu bewerben, war ein inhaltlicher: Unseld hatte über Hermann Hesse promoviert, dessen Bücher im Frankfurter Verlagshaus erschienen und der für ihn stets ein literarischer Fixstern bleiben sollte. Noch Unselds Grabstein – er starb 2002 – ziert Hesses wohl berühmtestes Gedicht „Stufen“. Auch als Verleger hegte und pflegte Unseld weiter den Mann aus dem schweizerischen Mon tagno la, der lange Zeit Verlagsriese Bis zu seinem Tod lenkte Siegfried Unseld (1924–2002) die Geschicke seines Verlages. Literaturgrößen wie Hermann Hesse und Max Frisch gehörten zu seinen Autoren. Urgewalt des Verlagswesens das wohl wichtigste finanzielle Standbein des Verlags war. Doch Unselds Größe zeigte sich schon gleich bei Amtsantritt darin, dass er sehr wohl auch deutlich modernere Literatur zu schätzen wusste: Sein erster großer verlegerischer Erfolg sind die schon erwähnten „Mutmassungen über Jakob“, die im Herbst 1959 erscheinen. Diese Offenheit gegenüber Neuem erweist sich all die Jahrzehnte, die Unseld an der Spitze des Verlags steht, als Erfolgsgarantie: Er pflegt die „Milchkühe“ des Verlags, die mit ihren Long- und Bestsellern (und vor allem auch ihren Theaterstücken) das große Geld einspielen – neben Hesse sind hier vor allem Max Frisch, Bert Brecht, später dann Martin Walser, Peter Handke oder Isabel Allende zu nennen –, gewinnt aber stets auch neue, junge Autorinnen und Autoren für die „Suhrkamp- Familie“, selbst wenn er mit deren Literatur (wie etwa im Falle von Rainald Goetz) persönlich nicht wirklich etwas anzufangen weiß. Und er umwirbt gern bereits etablierte Dichterinnen mit dem Versprechen einer neuen „verlegerischen Heimstatt“: Ilse Aichinger widersteht seinen Lockrufen, Ingeborg Bachmann wechselt immerhin mit ihrem letzten Werk „Malina“ zu Suhrkamp, und auch Christa Wolf wird schließlich doch noch „seine“ Autorin – allerdings erst nach seinem Tod. „Heimstatt“ hieß aber auch: Unseld wollte seine Autoren ganz und gar, mit all ihren Werken. Wenn sie dann doch Texte anderswo veröffentlichten, empfand er das als persönliche Kränkung und Affront. So geschehen im Falle von Peter Handke und Thomas Bernhard, die ihre Journale (Handke) und autobiografischen Schriften (Bernhard) beharrlich im Residenz Verlag publizierten, was regelmäßig extreme Unstimmigkeiten in der Korrespondenz mit Unseld zur Folge hatte – bis hin zur Drohung mit einem Ende der Beziehung. Den Buchhandel im Blick Als Unseld den Verlag 1959 übernahm, lag der Jahresumsatz bei knapp einer Million D-Mark, es gab 17 Mitarbeiter, die rund 30 Bücher pro Jahr unter die Leserschaft brachten. Der neue Chef setzte sogleich auf Expansion. 1973 konnte Unseld Hans Magnus Enzensberger in einem langen verlagsprogrammatischen Brief vermelden, dass man sich beim Umsatz der 20-Millionen-Marke nähere. „Es ist also kein kleines Unternehmen mehr, wir müssen es betriebswirtschaftlich ausrichten und als Apparat in Ordnung bringen, in Funktion halten.“ In den sechziger Jahren hatte der Verlag gestalterisch ganz neue Wege beschritten mit einer einheitlichen Ausstattung der Bibliothek Suhrkamp und der Einführung der edition suhrkamp, deren Umschläge in den Regenbogenfarben gehalten waren. In den siebziger Jahren kamen dann das suhrkamp taschenbuch und die Wissenschaftsreihe stw dazu. Wie zeitlos-modern diese von Willy Fleckhaus designten Reihen waren, demonstriert allein die Tatsache, dass es sie bis heute in weitgehend unveränderter Form gibt. Unseld dachte das Verlegen von Anfang an nicht nur von der Autorenseite her, sondern hatte stets auch den Buchhandel im Blick. So schrieb er 1963 an eine Stuttgarter Buchhändlerin: „In Ihrer Buchhandlung sah ich die alphabetische Aufstellung der edition suhrkamp, darüber war ich sehr erschrocken, weil sich mir die schöne Anordnung der Spektralfarben in das Gegenteil einer schreienden Unordnung verkehrte.“ Als gewiefter Vermarkter hatte er aber auch sogleich eine Lösung parat: einen „Kartonzettel“, der die optisch gewünschte „ Er pflegt die ‚Milchkühe‘ des Verlags, die das große Geld einspielen, gewinnt aber stets auch neue, junge Autoren für die ‚Suhrkamp-Familie‘. “ Foto: dpa / Heinz Wieseler Lesen Sie auch „Der Burgherr“ von Hellmut Butterweck vom 2.1.2003 auf furche.at. „Nummern-Aufstellung“ der Titel mit einem alphabetischen Autorenverzeichnis verknüpfte. Diese Kundenorientiertheit brachte ihm den bösen Vorwurf ein, bei ihm gelte der „Primat des Kommerziellen“ – ausgerechnet aus dem Munde von Max Frisch, der prächtig und nicht gerade bescheiden von Unselds geschickter „Literatur-Verwertung“ lebte. Solche (und noch viel üblere) Vorwürfe seiner Autoren steckte Unseld mit bewundernswerter Nachsicht weg, und überhaupt bewies er gerade im Umgang mit besonders schwierigen Kandidaten wie Thomas Bernhard oder dem stets mit großen Versprechungen prunkenden, aber nie auch nur eine Zeile abliefernden Wolfgang Koeppen eine Engelsgeduld, die mitunter schon an Selbstverleugnung grenzte. Dieses Durchhaltevermögen hatte er vermutlich während des Zweiten Weltkriegs gelernt: Als junger Wehrmachtssoldat auf der Krim rettete er sich vor den anrückenden sowjetischen Truppen, indem er stundenlang allein aufs Schwarze Meer hinausschwamm, ehe er von einem deutschen Schiff aufgelesen wurde. Und auch als Verleger zog er beharrlich jeden Morgen im Schwimmbad seine Bahnen. 50.000 Briefe Unselds größter Vorzug aber war vermutlich, dass er zwar ein belesener, aber kein intellektueller Verlagsleiter war (Karl-Heinz Bohrer hielt ihn bei ihrer ersten Begegnung zunächst für einen „gutaussehenden Skifahrer“). Als er sich einmal an einem Erzähltext versuchte, soll man sich im Lektorat vor Lachen die Bäuche gehalten haben. Und so schrieb er über anderes: über Autoren und ihre Verleger, über Goethe und den Ginkgo. Sein eigentliches „literarisches“ Vermächtnis aber sind seine rund 50.000 Briefe und die opulenten Verlagschroniken, die er ab 1970 jährlich verfasste, sowie seine ausführlichen Reiseberichte. Ja, Siegfried Unseld war vermutlich tatsächlich der letzte Patriarch im deutschsprachigen Literaturbetrieb, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte (inklusive schwieriger Nachfolge). Vor allem aber war er einer, der die Literatur und das Büchermachen auf eine Weise liebte, die zu seiner Zeit ziemlich einzigartig war und die heute fast ein wenig wehmütig machen kann. Und er war tatsächlich das, was ihm, so sein Wunsch, die Leute dereinst nachrufen sollten: „ein lebensdankbarer Mensch“. Maria StepanovaWWinterpoem 20/21 Siegfried Unseld Hundert Briefe von Siegfried Unseld. Hg. von Hundert Briefe Ulrike Anders und Jan Bürger Suhrkamp 2024 468 S., geb., Bibliothek Suhrkamp SV € 26,80 Unternehmen Unseld Hg. von Jan Bürger und Stephan Schlak Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XVIII/3, Herbst 2024, C. H. Beck 144 S., br., € 20,60 Willi Winkler: Kissinger & Unseld Die Freundschaft zweier Überlebender Rowohlt 2024. 304 S., geb., € 24,70 Unselds Verlagschroniken (vorerst bis 1993) sind jetzt online einsehbar unter www.siegfried-unseld-chronik.de.
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