DIE FURCHE · 39 14 Diskurs 26. September 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Für mich wirkt der Zugang vieler Menschen absurd Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Ich fühle mich geehrt, dass Sie unseren spielerischen Austausch so ernst nehmen und mir mit Ihrem „Guilty Pleasure“ vertrauen. Eine Nachfrage habe ich noch an die Bachelorette-Folge, die Sie gesehen haben: War das eine YouTube Reaction oder die ganze „originale“ Episode? Das Original ist nämlich im Vergleich zu den kommentierten, bearbeiteten Videos oft viel langsamer. Aber zurück zum Kartenspiel. Was mir daran weniger gefällt ist die Vorstellung, dass es beim Teilen unserer Welt ums Gewinnen oder Verlieren geht, wie bei einem Kartenspiel. Das bringt mich zu einem Gespräch, das ich vor einigen Tagen mit Freunden führte. Der Partner meiner Freundin meinte, sein Vater habe ihm drei Lebensweisheiten für erfolgreiche Beziehungen (jeder Art) mitgegeben. Demonstratives Augenrollen „ Die meisten Personen sehen Kompromisse als ‚Verlieren‘, sie schlucken ihre Bedürfnisse runter oder geben nach. In dieser Logik braucht es auch einen Gewinner. “ Erstens: Kommunikation ist die Basis jeder gelungenen Partnerschaft. Zweitens: Beziehungen leben von guten Kompromissen, und drittens „happy wife, happy life“. Ich bin ehrlich, meine Reaktion auf die letzte Aussage war ein demonstratives Augenrollen. Ja, auch wenn man argumentieren kann, dass eine Beziehung natürlich gut funktioniert, wenn beide Partner glücklich sind, ist das einer dieser Machosprüche, von denen mir die Ohren bluten. Aber egal, dazu hatte ich mit dem Freund schon ausreichend diskutiert. Wichtiger finde ich die zweite Regel zum Thema Kompromisse, die mein Interesse geweckt hat. Denn in letzter Zeit fällt mir auf, wie viele Menschen meiner Meinung nach einem Fehlkonzept von Kompromissen aufliegen. Die meisten Personen sehen Kompromisse als „Verlieren“, sie schlucken ihre Bedürfnisse runter oder geben nach. In dieser Logik braucht es auch einen Gewinner, der oder die das Gegenüber austrickst oder unterdrückt. Die beiden sind nie auf Augenhöhe. So bekommt das Wort „Kompromiss“ und der damit einhergehende Austausch einen negativen Beigeschmack. Als ob man miteinander konkurriert, der Stärkere siegt. Aus dem Machosätze-Sortiment passt dazu die beliebte Frage: „Na, wer hat in eurer Beziehung die Hosen an?“ Aber zurück zu meiner Überlegung – was halten Sie von Kompromissen (und meinen Gedanken dazu)? Wie gesagt, für mich wirkt der Zugang vieler Menschen absurd. Wie kann man sich für eine Partnerschaft entscheiden, in der man schlussendlich gegeneinander wettert? Ähnliches sehe ich bei politischen Debatten, die Differenz liegt im Fokus – dabei geht es bei der bevorstehenden Nationalratswahl ja eigentlich um die Repräsentation der österreichischen Bevölkerung. Kompromisse finden Natürlich gibt es da unterschiedliche Präferenzen, aber anstatt über Gestaltungsmöglichkeiten und Perspektiven zu sprechen, habe ich das Gefühl, es geht meistens nur darum, Recht zu haben und zu gewinnen. Es würde mich freuen, wenn wir in Zukunft Kompromisse als Möglichkeit sehen könnten, unsere Wünsche zu realisieren und gemeinsam gestalten zu können. Im Privaten genieße ich es auch, Kompromisse zu finden. Es bringt mich näher zu meinen Freundinnen, wenn wir uns darüber austauschen, welches Bedürfnis ich habe, welches sie, und wie wir kreativ werden können, um beide Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Ich freue mich auf Ihre Antwort. KOMMENTAR Međugorje: Ein Nihil obstat mit Abstrichen D ie Meldung der Anerkennung des Wallfahrtsorts Međugorje in Bosnien und Herzegowina durch den Vatikan am 19. September ging um die Welt. Selbst die New York Times widmete dem Thema einen ausführlichen Bericht und übersetzte diesen sogar ins Spanische – wohl in Anerkennung der größtenteils katholischen spanischsprachigen Leserschaft des Blattes. Ohne Zweifel markiert die Entscheidung eine Zäsur für den Umgang des Vatikans mit dem Pilgerort: Nach jahrzehntelanger ablehnender Haltung hat die römische Glaubenskongregation mit der Nihil obstat-Erklärung („es steht nichts entgegen“) eine grundsätzlich positive Einschätzung zu dem Wallfahrtsort abgegeben. Für Međugorje kann die Entscheidung also durchaus als Triumph gewertet werden. Trotzdem lohnt sich ein genauerer Blick auf das Dokument „Die Königin des Friedens“ des Dikasteriums für die Glaubenslehre, das die Anerkennung bestätigte und dies argumentierte. So werden vom Vatikan die vielen „geistlichen Früchte“, die mit Međugorje verbunden sind, anerkannt. Das Schreiben äußert sich aber explizit nicht zur Übernatürlichkeit, also zur Echtheit der Erscheinungen. Das ist grundsätzlich nicht ungewöhnlich und entspricht der jüngsten dafür geschaffenen Regelung. Diese lässt sich wie folgt subsumieren: Im Fokus der Einschätzung der Kirche steht nun statt des (übernatürlichen) Phänomens vielmehr die geistliche Dimension des Ortes. Damit unterscheidet sich Međugorje von anderen großen Marien wallfahrtsorten wie etwa Fatima in Portugal oder dem südfranzösischen Lourdes. So steht für den Vatikan außer Frage, dass die Muttergottes den Hirtenkindern von Fatima wie auch der Müllerstochter Bernadette Soubirous an der Grotte von Lourdes tatsächlich während einer kurzen Episode erschienen ist. Zweifel an Echtheit „ Angesichts stetig steigender Pilgerzahlen sowie des Drucks von Lobbygruppen blieb dem Vatikan letztlich nichts anderes übrig, als Međugorje anzuerkennen. “ Im Falle der „Seher“ von Međugorje verhält es sich anders. So soll Maria sechs Jugendlichen am 24. Juni 1981 beim Schafehüten erstmals erschienen sein – und diese Erscheinungen hielten bis heute an, so die „Seher“. In regelmäßigen Abständen soll die von ihnen als „Herrin“ bezeichnete Gottesmutter präzise Aussagen zu kirchlichen und weltlichen Themen machen. Sowohl die Häufigkeit der Erscheinungen als auch die konkreten Anweisungen (sie beziehen sich – neben allgemeinen Aufrufen zum Gebet für Frieden – etwa auf traditionelle Standpunkte in Familienfragen oder üben Kritik am Modernismus) ließen den Vatikan jahrzehntelang an der Authentizität der Berichte zweifeln. Obwohl der Vatikan Wallfahrten nach Međugorje viele Jahre sogar verboten hatte, entwickelte sich ein reges Pilgern in die 2300-Seelen-Ortschaft in der Herzegowina. Heute besuchen jedes Jahr Millionen Pilgerinnen und Pilger das einstmals verarmte Dorf. Der wirtschaftliche Segen, den der Pilgerboom für die gesamte Region mit sich brachte, ist offenkundig. Auch das mag bei der schwindenden dezidierten Ablehnung des Vatikans mitgespielt haben. So hat Papst Franziskus 2017 den polnischen Erzbischof Henryk Hoser damit beauftragt, die Seelsorgeaktivitäten in Međugorje näher zu untersuchen und Richtlinien für die Betreuung von Pilgern zu erstellen. 2019 genehmigte Franziskus schließlich katholische Pilgerfahrten nach Međugorje. In Österreich gilt Kardinal Christoph Schönborn als einer der wichtigsten Fürsprecher des Pilgerortes. Bereits 2009 reiste er das erste Mal nach Međugorje. Bis dahin hatte dies fast 30 Jahre lang kein hoher kirchlicher Würdenträger gewagt. Schönborn setzte sich auch für die Međugorje-Friedensgebete ein, die seit 2008 jährlich im Stephansdom stattfinden und zu denen regelmäßig hunderte Gläubige sowie Vertreter der Sehergruppe anreisen. Letztlich blieb dem Vatikan nichts anderes übrig, als Međugorje – mit den beschriebenen Einschränkungen – anzuerkennen. Zu groß wurde wohl der Druck durch konservative Interessengruppen, aber auch durch die stetig steigende Zahl von Pilgerinnen und Pilgern. In dieser Hinsicht kann die nun bekanntgegebene Anerkennung wohl als diplomatisch geschickte Entscheidung betrachtet werden. Einerseits erkennt sie Međugorje als das an, was es ohne Frage für Millionen gläubige Menschen ist: ein Ort der Hoffnung, Gnade und Spiritualität. Andererseits signalisiert man dadurch seitens der Kirchenleitung auch künftig das notwendige Maß an Skepsis gegenüber inflationären „Erscheinungen“ und allzu vereinfachenden Botschaften. (Till Schönwälder) Auf furche.at finden Sie anlässlich der Anerkennung Međugorjes ein Dossier mit thematischen Texten. Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 39 26. September 2024 Diskurs 15 Nein, man kann die „Nazi-Keule“ gegenüber der FPÖ nicht einpacken. Denn diese Partei spielt auf dieser Klaviatur. Eine Beschwörung am Vorabend der Nationalratswahl. Die Setzkästen der Nationalsozialisten Man solle, so ein gängiges Argument, gegenüber Herbert Kickl und der FPÖ die „Nazi- Keule“ am besten eingepackt lassen. Denn jeder Verweis auf Parallelen zu den dunkelsten Kapiteln der heimischen Geschichte nütze den radikalen Rechten, die auf einen Wahlsieg hoffen. Die Stichhaltigkeit dieses Arguments nachzuweisen, ist schwer. Zudem bieten Worte und Agieren der Freiheitlichen einfach zu viele Beispiele, als dass man sich die Verweise auf die geschichtlichen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verbeißen könnte. In der letztwöchigen FURCHE warnte Aurelius Freytag an dieser Stelle die ÖVP vor den Gefahren, die durch ein Zusammengehen der ÖVP mit der radikalisierten FPÖ dräuen. Ein luzider und punktgenau treffender Kommentar. Vorangestellt wird ihm freilich folgender Satz: „Die FPÖ des Jahres 2024 ist nicht die NSDAP von 1933.“ Das stimmt zwar in abstrakt-historischer Betrachtung, denn 2024 ist ganz einfach nicht 1933. Aber mittlerweile bedienen sich Kickl und Co zur Untermauerung ihrer politischen Botschaften derart ungeniert aus den Setzkästen der Nationalsozialisten, dass es keine Frage mehr ist, auf welcher Ideologie diese Partei fußt, auch wenn ihre Vertreter im Zweifelsfall Kreide gefressen haben. zentrationslager lächerlich zu machen und herunter zuspielen. Klar ist, dass die FPÖ den mühsam errungenen gesellschaftlichen Grundkonsens verlassen hat: Die Zweite Republik wurde auf den Trümmern des Nationalsozialismus, aber auch der Ersten Republik gebaut, die bekanntlich im Ständestaat geendet hatte. Der Wiederaufbau war eine gemeinsame Anstrengung der politisch relevanten Kräfte; aber es dauerte bis in die 1990er Jahre, dass auch die Einsicht in die Mitverantwortung für die Ereignisse zwischen 1938 und 1945 Teil des Grundkonsenses wurde. ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Herbert Kickl kann relevante Institutionen unter seine Kuratel bringen – den ORF quasi mit einem Federstrich. “ Dazu gehört(e) das Bekenntnis zu einem „Nie wieder!“, das natürlich auch das Ächten von NS- Sprache und NS-Gedankengut beinhaltete. Natürlich gibt es diesbezüglich den Versuch, dies legistisch durchzusetzen (Verbotsgesetz …). Dass nun eine Partei reüssiert, die sich gerade nicht an derartige Ächtung hält und im Gegenteil die längst vergangen geglaubten Geister wieder ruft, ist eine der bedrückenden Dia gno sen des aktuellen Zustandes der Gesellschaft. Es bleibt in dieser Lage nichts anderes übrig, als diesen Grundkonsens zu beschwören und vor den Verächtern desselben zu warnen. Da- FPÖ hat Grundkonsens verlassen Der zu Ende gehende Wahlkampf hat weitere Masken fallengelassen: Wenn sich der Parteivorsitzende als „Volkskanzler“ plakatieren lässt, so ist dies weit mehr als eine Provokation gegen „politische Korrektheit“. Wer mit der einstigen Bezeichnung für Adolf Hitler zu reüssieren sucht, zeigt, mit welchem Geist er diese Gesellschaft vergiftet. Die Saat solcher Sprache – „Lügenpresse“, „Systemparteien“, „Volksgemeinschaft“ etc. – treibt mittlerweile hässliche Blüten. Man muss auch daran erinnern, dass Herbert Kickl schon einmal gefordert hat, Flüchtlinge in Lagern „zu konzentrieren“, womit er längst bewiesen hat, dass er durch diese Anspielung nicht einmal vor den größten Menschheitsverbrechen haltmacht. Es gehört zur Rhetorik des Rechtsextremismus, die Erinnerung an die Konzu gehört auch, sich einmal mehr mit den Mechanismen des Aufstiegs der NSDAP 1933 auseinanderzusetzen. Dass dieser Aufstieg ohne tätige wie unfreiwillige Mithilfe der Konservativen nicht möglich gewesen wäre, hat sich leider nicht in alle bürgerlichen Kreise – die heute wieder eine Zusammenarbeit mit dieser FPÖ für möglich halten – herumgesprochen. Es läuft einem schon kalt über den Rücken, wenn man beim Presse-Leitartikler Klaus Knittelfelder liest: „Die FPÖ soll ruhig scheitern dürfen“, man solle ihr „die Chance geben, bei einer Regierungsbildung krachend zu scheitern. Alles andere würde nur zur weiteren Radikalisierung einer Großpartei führen.“ Ein Blick in die Geschichtsbücher über den Jahreswechsel 1932/33 hätte genügt, um zu sehen: Auch damals hatte eine gängige bürgerliche Einschätzung zu Adolf Hitler und Co gelautet, man müsse die Nazis nur in die Mühen der Regierungsarbeit zwingen, dann würden sie binnen weniger Wochen weg vom Fenster sein. Den ORF zurechtbiegen In den letzten Tagen wurde in den Medien auch die Frage erörtert, ob Herbert Kickl bei einem Wahlsieg tatsächlich die Demokratie gefährden könnte. Er kann, wenn es ihm gelingt, relevante Institutionen unter seine Kuratel zu bringen. Ein Szenario wäre etwa der ORF, der das weitaus größte Medienunternehmen im Land darstellt. Kickl muss es nur gelingen – analog zur Dominanz bestimmter Landeshauptleute auf die Regionalberichterstattung –, die Österreichebene zu beeinflussen. Dann ist im ORF das Wort „Klimakrise“ nicht mehr zu hören oder wird nicht mehr über Impfprogramme berichtet werden. Dafür werden Beiträge über die Tagesaktivitäten von FPÖ-Ministern zu sehen sein. Herbert Kickl müsste also den ORF gar nicht abschaffen, sondern ihn „nur“ für seine Zwecke zurechtbiegen. Das geht legistisch quasi mit einem Federstrich. Man kann sich weitere Szenarien ausmalen, die einer freien, liberalen, demokratischen Gesellschaft den Garaus machen. Es geht an diesem 29. September also wahrlich um viel. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Pyrotherapie Sämtliche Sanktionen wie Geisterspiele, bessere Absperrungen oder strengere Kontrollen wurden nach den Derby-Randalen vom Sonntag als zu mild vom Ideentisch gefegt. Die Bundesliga fährt nun passend zum Delikt harte Geschütze auf: Am Ort des Geschehens sollen die 50 rabaukigsten Hooligans von Rapid und Austria ihre Gefühle konstruktiv aufarbeiten. „Jubel ohne Trubel“ prangt auf dem Schild vor der Generali-Arena, rundherum wurden grüne und lila Herzen gekritzelt. Die ersten Hooligans treffen bereits ein und hüpfen bedröppelt im Slalom um die Brandlöcher im Kunstrasen zum Mittelpunkt, wo die Sozialarbeiterin einen Sesselkreis aufgebaut hat. Im ersten Schritt wird aktives Zuhören geübt. „Ich kann das alles nicht mehr. Ein Böller hat meinen Sohn knapp am Ohr verfehlt“, weint ein Rapidler und schnäuzt sich in seinen grün-weißen Schal mit der beliebten Aufschrift „Tod und Hass dem FAK“. „Danke, dass du das mit uns teilst“, skandieren die restlichen 49 Teilnehmer brüllend. „Bevor sie uns das Bier abdrehen, vertrag ma si lieber”, sagt sein lila vermummter Sitznachbar und hält ihm versöhnlich die Hand hin. Als dieser sie ergreift, zieht er ihn nahe an sich und flüstert leidenschaftlich: „Hau i da halt in da U-Bahn in de Goschn.“ Isabel Frahndl PORTRÄTIERT Dem Alter und der Hetze eine Finte schlagen werde ich bejubelt, manchmal ausgepfiffen. Am besten ist es, man fantasiert weiter und schreibt das nächste „Manchmal Stück“, resümiert Peter Turrini, der am kommenden Donnerstag seinen 80. Geburtstag feiert. Der 1944 im Lavanttaler Wolfsberg geborene Schriftsteller wurde 1971 schlagartig mit dem mittlerweile legendären Stück „Rozznjogd“ bekannt. Am Volkstheater uraufgeführt, geriet Turrinis dramatischer Erstling rund um ein junges Paar, das sich auf einer Müllhalde von allen gesellschaftlichen Zwängen befreien möchte, zu einem veritablen Theaterskandal. Um soziale Gerechtigkeit geht es in dem Volksstück „Sauschlachten“, einer Parabel über die Geschichte eines Außenseiters. Seinen Sinn für Gerechtigkeit und sein Gespür für Dramaturgie hat er auch von seiner Mutter, die ihm stets Geschichten erzählte, in welchen „gute Taten – auch wenn sie im Verborgenen blühten – ihren gerechten Lohn erhielten und schlechte Taten immer entdeckt und bestraft wurden.“ Lust an der Provokation, die Entlarvung zweifelhafter Moralwerte und heimatlicher Idylle brachten Turrini den Ruf eines zynischen Bürgerschrecks ein. Seit über einem halben Jahrhundert zeichnet er ein kritisches Bild Österreichs, das er u.a. in den Fernsehserien „Alpensaga“ (1976–80, mit Wilhelm Pevny) und „Arbeitersaga“ (1985–1991) drastisch zuspitzte. Unter Claus Peymanns Burgtheaterdirektion feierte Turrini bemerkenswerte Uraufführungen, 1990 „Tod und Teufel“, 1993 „Alpenglühen“ oder 1997 „Endlich Schluss“. 2006 fand Turrini am Theater in der Josefstadt ein neues Bühnen-„Zuhause“. Hier wurden auch seine dramatischen Auseinandersetzungen mit anderen Autoren uraufgeführt, etwa „Mein Nestroy“ oder „Der Diener zweier Herren“ sowie „Die Wirtin“ (beide nach Carlo Goldoni). Zu seinem 70. Geburtstag ließ Turrini in „C’est la vie“ sein Leben Revue passieren; in seinem jüngsten Stück „Es muss geschieden sein“ (2024) schreibt er über die Märzrevolution und verleiht den vielen politisch Ermordeten eine Stimme. Aufgrund seiner klaren politischen Haltung gegen Fremdenhass, Frauenfeindlichkeit und Opportunismus wurde Turrini immer wieder diskreditiert. Hetzkampagnen begegnet er mit satirischer Kraft, über das Gefühl der Angst reißt er Witze. Das Altern sieht er als komische Katastrophe, der er mit Sprache und Feder eine Finte schlägt, weiterhin produktiv und leidenschaftlich „dem verpflichtet, was er für die Wahrheit hält“. (Julia Danielczyk) Foto: APA / Gert Eggenberger Lesen Sie dazu von Julia Danielczyk auch „Peter Turrini: Hommage an den Haus- und Komödiendichter“ (6.2.2009) auf furche.at. „Ein Gespenst geht um in Europa. Nichts Unmenschliches ist ihm fremd“, sagte Peter Turrini 2018 zur türkis-blauen Koalition. Am 26. September, kurz vor der Wahl, wird er 80.
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