DIE FURCHE · 4 4 Das Thema der Woche „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse …“ 26. Jänner 2023 Von Brigitte Quint Die Demografie-Abteilung der UNO schätzt, dass rund um den 14. April 2023 der Zeitpunkt erreicht ist, an dem Indiens Bevölkerung erstmals jene Chinas zahlenmäßig übersteigen wird. Das Datum stellt mehr eine Landmarke dar denn eine konkrete Prognose, meint Rolf Bauer, Gastprofessor am Institut für Südasienkunde der Universität Wien. Andernfalls müsste man alle Todesfälle und Geburten exakt vorhersagen – naturgemäß ein Ding der Unmöglichkeit. Von einer Bevölkerungsexplosion will Bauer indes nicht sprechen. Vielmehr ginge es um ein lineares Wachstum, das in den letzten Jahren sogar abgeflacht ist. Der Höhepunkt dieses Zuwachses soll noch Mitte dieses Jahrhunderts erreicht werden. Die Zahl der Inderinnen und Inder klettert rund um das Jahr 2060 auf 1,7 Milliarden, so Indien-Experte Bauer. „Von da an wird dieses Wachstum wieder abflachen. Denn die Frauen in Indien bekamen vor ein paar Jahrzehnten noch sechs Kinder pro Kopf, was die gegenwärtige Entwicklung be feuerte, jetzt aber liegt die Geburtenrate bei zwei Kindern pro Kopf. Das entspricht dem globalen Trend.“ 828 Einwohner pro Quadratkilometer Wer die Gründe für das gegenwärtige Bevölkerungswachstum wissen will, muss allerdings tiefer in die Strukturen der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt (vgl. Seite 3) einsteigen. Indien – dessen Fläche den größten Teil des indischen Subkontinents umfasst – ist nicht gleich Indien. Der Staat ist administrativ in 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien unterteilt. Hauptstadt ist Neu-Delhi, Teil der Metropole Delhi. Die einwohnerstärkste Stadt und zugleich das Wirtschafts- und Finanzzentrum ist Mumbai. Weitere Ballungsräume sind Kolkata (ehemals Kalkutta), Chennai, Bengaluru, Hyderabad, Ahmedabad und Pune. In puncto Bevölkerungswachstum gilt es hier, schwerpunktmäßig die Region Uttar Pradesh aufzuzeigen: Mit rund 220 Millionen Menschen macht diese Region 16,2 Prozent von Indiens Gesamtbevölkerung aus (durchschnittlich 828 Personen pro Quadratkilometer) und ist damit nicht nur einer der am dichtesten besiedelten Staaten des Landes, sondern auch weltweit. Auch die Wachstumsrate der Einwohner(innen) war in den vergangenen Jahren deutlich höher als im restlichen Indien. Forscher wie Rolf Bauer führen das auf die große Anzahl von Menschen (schätzungsweise 59 Millionen), die unterhalb der Armutsgrenze leben, zurück. Laut Weltbank ist und war das Tempo der Armutsbekämpfung in Uttar Pradesh auch deutlich langsamer als im Rest Indiens. Insbesondere die zentralen und Foto: APA / AFP / Arun Sankar In wenigen Wochen wird Indiens Bevölkerung jene Chinas zahlenmäßig übersteigen – und bis zum Jahr 2060 weiter auf 1,7 Milliarden anwachsen. Über ein Massenphänomen. Kinder als Altersvorsorge östlichen Distrikte weisen eine sehr hohe Armutsquote auf. Zudem liegt die Alphabetisierungsrate in Uttar Pradesh unter dem nationalen Durchschnitt von 74 Prozent (67,7 Prozent sind es hier – bei Frauen 59 Prozent, bei Männern 79 Prozent). Armut und Bevölkerungswachstum bedingen einander, erklärt Bauer. „Wer keinen Zugang zu gutem öffentlichem Gesundheits- oder Pensionssystem hat, etwa „ Es ist unbestreitbar, dass sich künftig immer mehr Bewohner des indischen Subkontinents gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Kaum eine andere Gegend spürt die Klimakrise stärker. “ Rolf Bauer, Forscher am Südasien-Institut der Uni Wien Demografie Mehr als 1,4 Milliarden Menschen leben gegenwärtig in Indien, binnen eines Jahres hat sich die Zahl der Bewohner um rund zehn Millionen erhöht. Lesen Sie aus dem Jahr 1957 den Text von Ram Panjabi und Tehri Kothi „Ein Volk blickt auf das Spinnrad“ auf furche.at. weil er ein Leben lang im informellen Sektor gearbeitet hat, der oder die ist darauf angewiesen, dass man im Alter von den eigenen Kindern versorgt wird. Das wiederum ist ein Anreiz, mehr Kinder zu bekommen – die wiederum oftmals keine Schule besuchen, sondern von klein auf zum Haushaltseinkommen beisteuern müssen.“ Einmal mehr zeige sich auch, dass der Bildungsgrad der Frauen Einfluss auf die Anzahl ihrer Kinder habe. Bei einem niedrigen Bildungsstand sei die Geburtenrate dementsprechend höher. Eine weitere Region, die in puncto Bevölkerungswachstum eine Rolle spielt, ist Bihar, der ärmste und sozioökonomisch am schlechtesten entwickelte Bundesstaat Indiens. Dabei konzentriert sich ein großer Teil der Bevölkerung auf die ländlichen Gebiete: Der Urbanisierungsgrad (11,3 Prozent) ist damit einer der niedrigsten des Staates. Tatsächlich werden auch viele Naturkatastrophen, etwa die jährlichen Überschwemmungen, auf die dichte Besiedelung der Region zurückgeführt. Mitnichten die einzige Erklärung für Dürren und Hochwasser, die gewisse Gebiete Indiens komplett austrocknen lassen und Landwirtschaft verunmöglichen. „Kaum eine andere Gegend der Welt spürt die Klimakrise stärker“, so Rolf Bauer, der sich in seinen Forschungen auf die Kolonialgeschichte Indiens fokussiert. „Die Indus trialisierung des Westens beruht auf einer mindestens zwei Jahrhunderte andauernden Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und Arbeitskräften. Dennoch geht die Angst um, dass eine wachsende asiatische Bevölkerung dafür sorgen wird, dass noch mehr Ressourcen aufgebraucht werden – etwa durch die langsam wachsende Mittelschicht, die sich nun einen Kühlschrank oder ein Motorrad leisten kann. Das ist sowohl unethisch als auch unbegründet: Der Pro-Kopf-Verbrauch (etwa CO₂) Indiens liegt noch immer weit unter dem der europäischen oder US-amerikanischen Bevölkerung.“ Österreich gilt als Transitland Und eine weitere Debatte in Bezug auf Indien wird in der (westlichen) Öffentlichkeit verhandelt: Inder(innen), die im Zuge der Flüchtlingsbewegungen verstärkt nach Europa kommen (vgl. Seite 5). Auch Österreichs Außenminister, Alexander Schallenberg, sorgte im vergangenen Jahr für Schlagzeilen, als er von 18.000 sogenannten illegalen Migrant(inn)en aus Indien sprach, die aufgrund der (damals) visafreien Einreise nach Serbien über Ungarn nach Österreich kamen. Freilich stellten die wenigsten der von der Polizei Aufgegriffenen hierzulande einen Asylantrag. Österreich gilt für die meisten als Transitland. Der Indien-Forscher Bauer ergänzt zudem: „Es ist unbestreitbar, dass sich immer mehr Bewohner des indischen Subkontinents künftig gezwungen sehen werden, ihre Heimat zu verlassen: einerseits aufgrund der extremen Armut – wobei meist gerade dieser Gruppe die Mittel für die Migration fehlen; andererseits durch die Klimakrise. Viele werden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Zudem erklärt die hindu-nationalistische Regierung immer öfter Oppositionelle zu Terroristen, was diverse politische Fluchtgründe bedingen kann.“ Ethik in der Wirtschaft FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic spricht mit Oliver Picek vom gewerkschaftsnahen Momentum Institut über ein faires Wirtschaftssystem, die Teuerung und die Rolle des Staates in einem Wirtschaftskrieg. Welche Vorbilder gibt es für eine gerechte Wirtschaftspolitik innerhalb der EU? Und welche Maßnahmen lassen sich rasch und einfach umsetzen? furche.at/chancen
DIE FURCHE · 4 26. Jänner 2023 Das Thema der Woche „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse …“ 5 Dass im Vorjahr 18.000 indische Migranten in Österreich registriert wurden, sorgte für Irritation. Doch das sei nichts im Vergleich zur indischen Binnenwanderung, meint Migrationsforscherin Paula Banerjee. Ein Gespräch über Klimaschäden und die prekäre Lage der Frauen. „Es sind Millionen unterwegs“ Das Gespräch führte Ralf Leonhard Die indische Wissenschafterin Paula Banerjee wurde durch ihre Forschungsarbeiten über Frauen in Grenzgebieten und das Thema „Frauen und erzwungene Migration“ international bekannt. Sie ist Professorin an der Abteilung für Süd- und Südostasienstudien an der Universität Kolkata und Senior Researcher zu Migration und Zwangsmigration bei der „Calcutta Research Group“. Auf Einladung des Wiener Instituts für Entwicklung und Zusammenarbeit (VIDC) war sie in Wien und hat mit der FURCHE über die Probleme gesprochen, die in Indien aufgrund des Klimawandels entstehen – und die Konsequenzen, die zu ziehen sind. DIE FURCHE: In Österreich sorgt man sich, dass der Wintertourismus unter dem Klimawandel leidet. Wie sieht man die Klimakrise in Indien? Paula Banerjee: Sie ist eine Herausforderung für die Ressourcen, für die Gesundheit, für Gerechtigkeit und Frieden. Die Auswirkungen sind schon deshalb enorm, weil Indien eine riesige Bevölkerung hat. Allein 34 Millionen laufen Gefahr, wegen der enormen Hitze von ihrem Zuhause wegziehen zu müssen. Ich komme aus der Region Bengalen, die gleich neben Bangladesch liegt. Bengalen ist die Reiskammer Südasiens. Durch die große Hitze vergangenen Sommer ist die Reisernte zu 90 Prozent im Wachstum beeinträchtigt worden. Und als im Oktober die Zeit der Ernte kam, wurden wir von einem gewaltigen Zyklon und Überschwemmungen überzogen. Das heißt, dass nur die Reichen sich Reis von guter Qualität leisten können. Man kann das Inflation nennen, aber es ist weit mehr als das für Menschen, deren Einkommen mit ihrer Leistung nicht mithält. Gleichzeitig ist es eine Genderfrage, denn wenn es zu Hause eine Schüssel Reis gibt, dann bekommen die Männer und die Buben etwas zu essen, und für die Frauen bleibt nichts übrig. DIE FURCHE: Ist das ein innenpolitisches Problem Indiens oder ein internationales? Banerjee: Natürlich ist das ein internationales Problem. Es ist nie ein inneres sozialpolitisches. Klimawandel ist im gängigen, auf Wachstum orientierten Entwicklungsparadigma angelegt. Auch die Frage der Ungerechtigkeit ist ein internationales Problem. Bei der Klimakonferenz COP in Ägypten wurde über die Klimaschäden debattiert. Österreich hat 40 Millionen Euro für die Reparatur dieser Klimaschäden zugesagt, nächstes Jahr werden es 60 Millionen sein. Aber das ist keine milde Gabe, es ist eine Reparationszahlung. Wir haben ein Recht darauf. Ganz egal, ob wir vom Norden oder vom globalen Süden sprechen: Bei den Armen bekommen immer die Frauen am wenigsten zu essen. Die armen Gemeinschaften in der Bronx sind genauso betroffen wie die armen Gemeinschaften in Indien. Foto: Ralf Leonhard Foto: imago / zuma Press DIE FURCHE: Wenn Sie von Ernteschäden in Bengalen sprechen: Sind das zyklische Phänomene oder permanente Schäden, die den Betroffenen kein Leben mehr ermöglichen? Banerjee: Einige werden auswandern, aber nicht viele. Es ist seltsam, dass international die Auswirkungen des Klimawandels auf den Süden immer in Zusammenhang mit Migrationsströmen in den Norden gesehen werden. Dabei ist der Norden selten das Ziel von Wanderbewegungen. Wenn das Leben in einer Region nicht mehr möglich ist, so ist das nicht nur dem Klimawandel zuzuschreiben, sondern auch dem Entwicklungsparadigma, das diesen Ländern aufgezwungen wird. Dieses Paradigma hat in gewisser Weise mit dem Kapitalismus zu tun. Die Industrien, deren CO₂-Emissionen den Klimawandel mit verschulden, werden privilegiert. Man muss das immer zusammen denken. Man versucht, das zu trennen und jedes Problem in eine eigene Schublade zu stecken, um zu zeigen, dass das nichts miteinander zu tun hat. DIE FURCHE: Braucht Indien ein großes Umsiedlungsprogramm? Oder welche Lösung sehen Sie für zukünftige klimabedingte Migrationsbewegungen? Banerjee: Indien ist nicht nur ein Ursprungsland für Migration, sondern auch ein Zielland. Wenn ich über Klimamigration spreche, dann geht es nicht um Menschen, die Indien verlassen. Wenn ich sage, 34 Millionen werden wandern, dann meine ich, dass die meisten sich in einer anderen Region niederlassen werden. Indien ist riesig. Und die Menschen aus Nepal und Bangladesch, sehr viel kleineren Ländern, werden nach Indien kommen. Wenn in einer Familie mit fünf Kindern zwei verhungern, kann man nicht von Wirtschaftsmigration sprechen oder von Klimamigration, sondern das ist Migration aus höchster Not. Der Klimawandel macht die Menschen in den verarmten Gegenden der Welt extrem hungrig. Die Migration muss einfach als Möglichkeit gesehen werden, mit dem Klimawandel umzugehen. DIE FURCHE: Westbengalen ist eine heiße Region. Wie erlebt man den Klimawandel in den gebirgigen Bundesstaaten Indiens? Banerjee: Auch in Kaschmir kämpft man mit zunehmender Hitze. Die Obstproduktion und die Safranernte leiden darunter. Hier hört man oft, dass die Menschen in jenen Ländern widerstandsfähiger sind. Damit wird uns eine Last aufgebürdet. Es ist vielmehr so, dass wir Unterstützung bei der Anpassung an den Klimawandel brauchen. Hochwasser gab es nicht nur in Bengalen, auch in den südlichen Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu. Wenn es in den einen zu viel Wasser gibt, können Lesen Sie dazu auch das Interview von W. Machreich mit Klimaschützerin Brianna Fruean: „Unsere Inselheimat retten“(16.11.2022). „ Wenn jemand nach Europa kommt, um seine Lebensumstände zu verbessern, muss er dafür einen Preis zahlen. Dieser Preis heißt Selbstachtung. Der Rassismus lebt. “ Leben mit Dürre Im April 2019 war der ostindische Bundesstaat Odisha von extremer Trockenheit betroffen. Dazu kommen Zyklone und Überschwemmungen als Zeichen des Klimawandels. andere von Dürre betroffen sein, wieder woanders wüten Zyklone. Und das bringt wirtschaftliche Not und ökologische Verheerungen in Gebieten, die durch den Bergbau bereits besonders verletzlich gemacht wurden. Die Konsequenz sind auch steigende Preise. DIE FURCHE: Wie geht die Regierung von Narendra Modi mit der Binnenmigration um? Banerjee: Die Regierung bietet Lösungen an, die aber in der Regel von der Basisbewegung ausgehen. Zum Beispiel wurden während der Pandemie Züge für Arbeiter bereitgestellt, die sie zum Arbeitsplatz brachten. Das kam als Reaktion auf eine enorme Nachfrage. Anfangs tat die Regierung nichts. Dann verhängte sie den Lockdown, der innerhalb von vier Stunden in Kraft trat. Für 400 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter war das eine Katastrophe. Sie verloren ihr Einkommen, standen plötzlich ohne Nahrungsmittel da. Es war die Zivilgesellschaft, die aktiv wurde, und die Menschen überlebten. Social distancing ist in Indien nicht möglich. DIE FURCHE: Österreichs Innenminister betrachtet die Zuwanderung aus Indien als ernsthaftes Problem. Was weiß man über die Ursachen, dass sich zuletzt die Aufgriffe von indischen Staatsbürgern in Österreich so rasant vermehrt haben? Banerjee: Darf ich ganz ehrlich sein? Wenn jemand nach Europa kommt, um seine Lebensumstände zu verbessern, muss er dafür einen Preis zahlen. Dieser Preis heißt Selbstachtung, denn man wird anders behandelt. Der Rassismus lebt. Das Leben in Europa ist für Leute, die so aussehen wie ich, nicht einfach. Die Regierungen in Europa sind mehrheitlich weiß. Einige dieser Menschen, von denen wir sprechen, mögen aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Aber es handelt sich um verschwindend geringe Zahlen. DIE FURCHE: 2022 hat Österreich 18.000 „irreguläre Migranten“ aus Indien registriert... Banerjee: Es gibt sehr viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Wenn es sich um eine größere Anzahl handelt, dann muss man davon ausgehen, dass sie zu Hause nicht mehr leben können, sei es durch verschärfte klimatische Verhältnisse oder Ungerechtigkeiten der Ressourcenverteilung. Ich glaube aber nicht, dass Zuwanderung aus Indien hier wirklich ein Problem ist, sie wird nur als Problem dargestellt. In Indien sprechen wir von Millionen, die unterwegs sind. Nächste Woche im Fokus: Als die Universitäten gegründet wurden, zählte die Theologie zu den wissenschaftlichen Säulen dieser Institutionen. Heute nehmen die Studierendenzahlen in der Theologie rapide ab, und als Wissenschaft verliert sie gleichermaßen an Relevanz. Was kann Theologie heute (noch) leisten?
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