DIE FURCHE · 4 2 Das Thema der Woche „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse …“ 26. Jänner 2023 Die größte Demokratie der Welt, die höchste Bevölkerungsdichte, das vom Klimawandel mit am meisten betroffene Land, Massenmigration – 75 Jahre nach Gandhis Tod gibt es in seiner Heimat viele Gründe für eine Renaissance seiner Ideen. Innen- und Außenansichten einer Weltmacht. Redaktion: Brigitte Quint und Martin Tauss Von Martin Tauss Ein magerer, kahlköpfiger Pilger schreitet voran, gefolgt von einer Gruppe teils bloßfüßiger Männer und Frauen. Spärlich eingehüllt in traditionelle Tücher, marschiert er mit Stock und Sandalen. Die monumentale Skulptur in Neu-Delhi erinnert an den „Salzmarsch“, eine Protestaktion, die Mohandas Karamchand Gandhi 1930 weltweite Aufmerksamkeit bescherte. Sie richtete sich gegen die Kolonialsteuern aus dem britischen Salzmonopol in Indien. Gandhi hatte seinen Landsleuten erklärt, dass Salz so lebensnotwendig sei wie Luft und Wasser. Somit müsse jeder Inder und jede Inderin das Recht haben, dieses selbst herzustellen – steuerfrei. Der Fußmarsch führte rund 400 Kilometer von Gandhis Aschram in Sabarmati zum Küstenort Dandi am Arabischen Meer. In den Dörfern auf dem Weg wurden der Freiheitskämpfer und seine 78 Begleiter begeistert empfangen; immer mehr Menschen schlossen sich an. Bei der Ankunft war der damals 60-Jährige von zehntausenden Anhängern umringt. Indem er aus dem Meerwasser salzhaltigen Schlamm siedete, forderte er die Massen auf, es ihm gleichzutun. Die Aktion wurde zu einem PR-Coup, wie man heute sagen könnte. Das amerikanische Time-Magazine machte Gandhi 1930 zum „Mann des Jahres“. Bewegung der Verwundbaren Sein Auftreten war bereits damals ein Markenzeichen: Dass der Rechtsanwalt in Sandalen ging, sich das Kopfhaar schor und sich in simpelsten Stoff hüllte, war geschickte Strategie und politisches Statement. Der Mann mit den selbstgesponnenen Baumwollkleidern gab sich bescheiden und verletzlich und unterlief die Klischees antikolonialer Anführer, die sich zu jener Zeit meist modern, maskulin und soldatisch in Szene setzten. Er exponierte sich und präsentierte eine äußere Schwäche, die in Wirklichkeit innere Stärke war. Denn er wusste: Verzicht macht unbestechlich. Mit seiner asketischen Selbstdarstellung konnte sich die ärmere indische Bevölkerung identifizieren; „zudem ließ sie Repressionen gegen seine politische Bewegung als Tyrannei gegen die Bescheidenen und Verwundbaren erscheinen“, bemerkt der Historiker Andreas Eckert in der aktuellen Ausgabe des Geschichtsmagazins Damals. „Churchills spätere berüchtigte Denunzierung Gandhis als ‚halbnackter Fakir‘ war daher nicht nur rassistische Rhetorik, sondern drückte auch Frustration über die politischen Schwierigkeiten aus, die Gandhi seinen politischen Opponenten mit seiner Erscheinung bereitete.“ Gandhis Weltbild formierte sich im globalen Dreieck zwischen England (wo er studierte), Südafrika (wo er Karriere machte) und Indien (wo er seine politischen Ideen realisierte). Die Philosophie des gewaltlosen Widerstands hatte Gandhi zur Zeit des „Salzmarsches“ bereits zusammengebraut: „Satyagraha“ bedeutet „Festhalten Foto: imago / United Archives International „ Gandhi exponierte sich und präsentierte eine äußere Schwäche, die in Wirklichkeit innere Stärke war. Denn er wusste: Verzicht macht unbestechlich. “ „Die geistigen Triebkräfte im Werk Gandhis“: Johannes Thauren am 12.2.1948 zum Tod des „Wahrheitssuchers“, auf furche.at. Er war der Vater der indischen Unabhängigkeit und erscheint heute als das Gesicht einer anderen Globalisierung: zum 75. Todestag von Mahatma Gandhi. Ein planetarer Gentleman an der Wahrheit“ und bezieht sich auf ein Programm der „Nichtzusammenarbeit“ gegenüber ungerechten Autoritäten. Diese hatte Gandhi am eigenen Leib erfahren, als er in Südafrika binnen Kurzem aus einem Gerichtssaal, einem Zug und einem Hotel verwiesen wurde. Solche Schlüsselerfahrungen führten während seines 20-jährigen Aufenthalts in Afrika dazu, dass sich der schüchterne Anwalt zum charismatischen Kämpfer gegen Rassismus und Diskriminierung entwickelte. Er war geprägt vom Leben in Johannesburg, das afrikanische und chinesische Bergarbeiter, britische Beamten und Handwerker, indische und litauische Händler, Buren und amerikanische Ingenieure zusammenführte. Ebenso kosmopolitisch war sein Denken, das nicht nur auf hinduistische, sondern auch auf christliche, jüdische, muslimische sowie moderne philosophische Ideen zurückgriff. Nicht zuletzt spielte auch der Jainismus eine Rolle, dessen Vertreter dafür bekannt sind, im wahrsten Sinne des Wortes keiner Fliege etwas zuleide zu tun. Mahatma Gandhi Die politische Ethik des indischen Rechtsanwalts erscheint gerade in polarisierter Zeit brandaktuell. Am 30.1.1948 wurde Gandhi im Garten seiner Unterkunft in Neu-Delhi von einem Hindu- Nationalisten ermordet. Indien ist ein Kosmos für sich, und auch die erwähnte Skulptur in Neu-Delhi enthält eine kosmopolitische Vision: Die Figuren, die dem Mahatma („große Seele“) auf seinem Weg folgen, stehen symbolisch für die zahlreichen Ethnien und religiösen Gruppen am Subkontinent. Gandhi zwang die britischen Kolonialherren letztendlich in die Knie; doch seine Ambition, die Diversität friedlich unter dem großen Dach einer freien Nation zu vereinen, scheiterte. Aus der britischen Kolonie entstanden 1947 mit Indien und Pakistan zwei neue Staaten, deren Teilung für massive Fluchtbewegungen sorgte. Gandhis Ruf nach Gewaltlosigkeit verhallte; geschätzt gab es bis zu zwei Millionen Todesopfer. Am 30. Jänner 1948 wurde „Bapu“, der Vater der Nation, in Neu-Delhi von einem Hindu-Nationalisten mit drei Schüssen ermordet. Der 1949 hingerichtete Attentäter nannte Gandhis Naivität gegenüber den Muslimen, die den Hindus historisch „unermessliches Leid“ zugefügt hätten, als Grund für seine Tat. Heute ist Indien zur Weltmacht aufgestiegen und strotzt vor kollektivem Selbstbewusstsein. Doch mit Gandhis Visionen hat die größte Demokratie der Welt nur noch wenig gemein. Unter dem Hindu-nationalistischen Premierminister Narendra Modi verbinden sich digitaler Kapitalismus und exzessiver Traditionalismus. Unter der glänzenden Oberfläche des Subkontinents, fernab von mystischer Verklärung und dem bunten Flimmern Bollywoods, liegt eine Atmosphäre des Misstrauens, die sich in religiöser und politischer Ausgrenzung niederschlägt. Der betont jovial auftretende Modi verfolgt eine revanchistische Strategie gegenüber den Muslimen, die während des Mogulreichs (16. bis 19. Jahrhundert) über eine mehrheitlich hinduistische Bevölkerung geherrscht haben. Gerade in seinem Heimatland wird Gandhis Erbe heute unterschiedlich ausgelegt. 2014 kratzte eine weltberühmte Schriftstellerin am globalen Heiligtum: Mahatma Gandhi sei nicht der Held der Gewaltlosigkeit, für den die Welt ihn halte, meinte die Booker-Preis-Trägerin Arundhati Roy in einem Essay, an dem sich eine hitzige Debatte entzündete. Vielmehr sei er „bedingungsloser Verfechter einer der gewalttätigsten Gesellschaftsformen der Welt“ gewesen: des Kastensystems. Mit ihrer Forderung, die Mahatma-Gandhi-Institutionen umzubenennen, stieß sie auf heftigen Widerspruch bei jenen, die den „Vater der indischen Nation“ als Idol der weltweiten Friedensbewegung und als Vorbild für Martin Luther King und Nelson Mandela in Erinnerung behalten. Ziviler Ungehorsam, damals und heute Vandana Shiva hingegen hat sich stets an Indiens Freiheitskampf und Gandhis Lehren orientiert. Die Umweltaktivistin sieht auch heute „Muster der Kolonialisierung“ und kämpft gegen die Konzern-gesteuerte Globalisierung, die das „Land der kleinen Bauern und Händler“ in den Würgegriff nimmt – mit Fast Food, Gentechnik und Pestiziden, Wegwerfkleidung und einer fremdgesteuerten „digitalen Diktatur“. Ihre Inspiration sind Gandhis Prinzipien der Selbstbestimmung, Selbstversorgung und des kreativen zivilen Ungehorsams (siehe auch S. 15). „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“, betonte der Mahatma. Heute klingt dieser Satz wie die Maxime für eine andere Art der Globalisierung, getragen von Diversität, Klimaschutz und Gewaltfreiheit. Gandhi könnte so wieder zur Galionsfigur werden – als planetarer Gentleman.
DIE FURCHE · 4 26. Jänner 2023 Das Thema der Woche „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse …“ 3 Indien blickt auf ein nation building der Superlative zurück. Doch seit Premier Narendra Modi von der hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei an der Macht ist, haben die autokratischen Tendenzen zugenommen. Demokratie im Druckkochtopf Digitales System Seit 2004 werden in Indien nur noch elektronische Wahlmaschinen eingesetzt (Bild: Inderinnen im Bundesstaat Bihar mit ihren ID-Wahlkarten, Patna 2021). Foto: imago / Hindustan Times Von Christian Wagner Im Frühjahr 2019 fand in Indien die bis dahin größte demokratische Wahl der Menschheitsgeschichte statt. 875 Millionen Wahlberechtigte konnten zwischen 8251 Kandidatinnen und Kandidaten aus 464 Parteien wählen. Aus Sicherheitsgründen gab es sieben Wahlphasen in einem Zeitraum von sechs Wochen. Da Indien seit 2004 nur noch elektronische Wahlmaschinen einsetzt, waren die Wahlergebnisse in kurzer Zeit ausgezählt. Das einfache Mehrheitswahlrecht in den insgesamt 543 Wahlkreisen sichert zumeist klare Mehrheitsverhältnisse. Angesichts der Größe des Landes, seiner gesellschaftlichen Vielfalt, der Ungleichheit zwischen den Kastengruppen und der weitverbreiteten Armut war der Aufbau der indischen Demokratie nach der Unabhängigkeit 1947 das vermutlich anspruchsvollste Projekt des nation building in der Geschichte des 20. Jahrhunderts: Nach der Unabhängigkeit lebten circa 80 Prozent der 340 Millionen Menschen in Armut; die Alphabetisierungs rate lag nur bei zwölf Prozent. Modis klares Mandat In Indien gibt es sechs Weltreligionen, von denen vier im Land entstanden sind. Die circa 80 Prozent Hindus teilen sich auf schätzungsweise 3000 bis 4000 Kasten auf. Die Muslime haben einen Bevölkerungsanteil von circa 14 Prozent. Indien ist damit mit knapp 200 Millionen Muslimen auch eines der größten muslimischen Länder. Teile der Stammesbevölkerung folgen eigenen religiösen Traditionen und stehen außerhalb des Kastensystems. Es gibt mehrere hundert Sprachen, von denen 22 einen Rang in der Verfassung haben. Selbst die größte Sprache, Hindi, wird nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen. Die im Jänner 1950 in Kraft getretene Verfassung schuf die Grundlage für die erste Wahl im Winter 1951/52. Die zahllosen Verteilungskonflikte zwischen den Kasten-, Religions-, Sprach- und Stammesgruppen konnten im demokratischen Rahmen beigelegt werden. Mit der Reorganisation der Bundesstaaten seit Mitte der 1950er Jahre erhielten dominante Sprachgruppen eigene politische Einheiten. Separatistische Aufstandsbewegungen, vor allem im Nordosten, konnten durch die Schaffung neuer Bundesstaaten teilweise befriedet werden. Die indische Interpretation von Säkularismus sicherte den verschiedenen Religionsgruppen staatliche Unterstützung und eigene Rechtsbereiche. Die unteren Kasten- und Stammesgruppen erhielten als Ausgleich für ihre soziale Diskriminierung eigene Quoten für Bildung, Beschäftigung und politische Vertretung. Militante kommunistische Aufstandsbewegungen, die erstmals in den 1950er Jahren aufflammten, konnten durch polizeiliche und entwicklungspolitische Maßnahmen eingedämmt werden. Die Parteienlandschaft wurde bis Ende der 1980er Jahre von der Kongresspartei unter der Führung der Nehru-Gandhi-Familie geprägt. Allerdings ging deren Dominanz in den Bundesstaaten seit den 1960er Jahren zurück. Die Regionalparteien, die teilweise aus der Kongresspartei entstanden waren, wurden in den 1990er Jahren zu einer immer wichtigeren Kraft für Koalitionsregierungen auf nationaler Ebene. Die wirtschaftliche Liberalisierung seit 1991 und die neue, städtische und gut ausgebildete Mittelklasse haben zum Aufstieg der hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) beigetragen. Narendra Modi gewann 2014 eine absolute Mehrheit und erhielt damit für seine Ideen eines neuen Indien, das die Interessen der Hindu-Mehrheit in den Mittelpunkt rückt, ein klares Mandat. Seit 2014 haben aber auch die autokratischen Tendenzen zugenommen. Die Auseinandersetzungen berühren auch die Grundlagen der Verfassung und der Demokratie. Die Regierung geht seitdem verstärkt gegen kritische Stimmen in den Medien und der Zivilgesellschaft vor und beschränkt die Rechte der religiösen Minderheiten, vor allem der Muslime. Mit ihren Versuchen, die Kompetenzen der Bundesstaaten zu beschneiden und politischen Einfluss auf die Ernennung von Richtern zu nehmen, untergräbt die Regierung die Gewaltenteilung. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass Indien in internationalen Demokratie-Indices wie „Freedom House“ herabgestuft wurde. Ungeachtet dieser Entwicklungen wurde Modi 2019 mit einer noch größeren Mehrheit im Amt bestätigt. Er und die BJP haben mittlerweile vermutlich sogar eine stärkere Stellung als einst die Kongresspartei. So ist Modi der mit Abstand beliebteste Politiker. Sein Narrativ der Wiederherstellung einer starken Hindu-Nation ist für viele Wählerinnen und Wähler attraktiv. Seine Partei verfügt dank der engen Zusammenarbeit mit dem nationalen Freiwilligenkorps „Brände in Indien“: Carl Peez berichtet am 18.9.1947 über Indiens blutigen Weg nach der Unabhängigkeit; auf furche.at. „ 2019 gab es in Indien die größte demokratische Wahl der Menschheitsgeschichte: 875 Millionen konnten zwischen 8251 Kandidaten aus 464 Parteien wählen. “ (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS), aus dessen Reihen auch Modi kommt, landesweit über die besten organisatorischen Strukturen. Durch die Änderung der Parteienfinanzierung erhält die BJP jetzt auch den größten Anteil an Zuwendungen. Modi profitiert auch davon, dass die Opposition schwach und zersplittert ist. Trotz der enormen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten konnte die Demokratie in Indien nach 1947 Fuß fassen. Abgesehen vom Ausnahmezustand unter Premierministerin Indira Gandhi von 1975 bis 1977 hat die Verfassung über mehr als 70 Jahre den Bestand der Demokratie und die territoriale Einheit des Landes gesichert. Nur wenige andere Staaten im globalen Süden können eine solche Bilanz aufweisen. Die elektorale Seite der indischen Demokratie hat sich bewährt. Bis 2019 gab es insgesamt 17 Wahlen zum Parlament, mit einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von über 60 Prozent. Zwischen 1984 und 2014 wurden nur wenige Regierungen auf nationaler Ebene im Amt bestätigt. Auch bei Wahlen in den Bundesstaaten können Landesregierungen nur selten vom Amtsbonus profitieren. Die hohe Wahlbeteiligung, das große Ansehen der Verfassung und ihrer Institutionen unterstreichen die Legitimität der indischen Demokratie. Erfolge und Defizite Diese Demokratie weist aber auch Defizite auf. Wahlen in Indien werden wie in anderen Ländern auch über Geld entschieden. So war die Wahl 2019 teurer als die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016. Weiterhin gibt es Mängel bei öffentlichen Gütern wie Sicherheit, Bildung und Gesundheit. Trotz des hohen Wirtschaftswachstums seit der Liberalisierung nach 1991, der Erfolge bei der Verringerung der Armut in den 2000er Jahren und neuer Sozialprogramme der Modi-Regierung belegte Indien 2022 nur Rang 132 von 191 Staaten auf dem „Index der menschlichen Entwicklung“ der Vereinten Nationen. Nicht zuletzt: Modis neues Indien stellt in vielen Bereichen die Grundlagen und Errungenschaften der indischen Demokratie nach 1947 infrage. Abzuwarten bleibt, ob und inwieweit Indiens zweite Republik in der Lage sein wird, die damit entstehenden Konflikte auch weiterhin im demokratischen Rahmen zu lösen. Der Autor ist Experte für indische Außenpolitik und Demokratisierung an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
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