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DIE FURCHE 26.01.2023

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DIE FURCHE · 4 12 Gesellschaft 26. Jänner 2023 Von Victoria Schwendenwein Ein Ort im südlichen Niederösterreich: In den vergangenen Jahren wurde massiv in den Infrastrukturausbau inves tiert. Die Folge: Zuzug. Der ÖVP- Bürgermeister zeigt sich stolz auf ein reges Gemeindeleben vom Sport verein über Konzerte bis zum neu gegründeten Bauernmarkt. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion wird die Frage diskutiert: Ist die Gemeinde das Fundament der Gesellschaft? Der Bürgermeister zeigt sich überzeugt: „Eine Gemeinde kann nie genug Angebot für ihre Bürger haben.“ Der ehemalige burgenländische SPÖ-Landeshauptmann Hans Niessl, der als Gastredner angereist ist, gibt ihm recht. Die Schlüssel für gelebte Gemeinschaft sieht er in Anreizen für das Ehrenamt sowie Angeboten, welche die Gemeinde zu einem Rückzugsort machen – als Gegenpol zur Globalisierung. Zur selben Zeit finden sich im besagten Ort – wie in vielen anderen Orten in Österreich – diese Bilder: aufgegrabene Straßenränder, Erdbewegungen, Baustellen. Vom Boden- bis zum Neusiedlersee werden im länd lichen Raum gerade Glasfaser kabel verlegt. Die Arbeiten prägen den Alltag der Menschen. Gegraben wird vor Privathäusern ebenso wie vor öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Gemeindeämtern oder Kirchen. Und jede(r) muss selbst die Ärmel hochkrempeln, will er oder sie auf dem eigenen Grundstück Anschluss ans schnelle Internet erhalten. Foto: Victoria Schwendenwein Gegen Landflucht Der Breitbandausbau soll Lebensqualität auf dem Land sichern. Vielerorts wird die Digitalisierungsoffensive derzeit mit Baggern und Grabungsarbeiten assoziiert. Lesen Sie dazu auch Davina Brunnbauers Interview „Helfen im digitalen Zeitalter“ mit Rot-Kreuz-Kommandant Karl- Dieter Brückner auf furche.at. Der Breitbandausbau soll den ländlichen Raum vernetzen und der Landflucht entgegenwirken. Ein Forschungsteam aus Linz untersucht, ob das überhaupt möglich ist – und wie sich Corona darauf ausgewirkt hat. Das Netz der Gemeinden Milliarden für schnelles Internet Die Pandemie hat viele Digitalisierungsvorhaben rasant vorangetrieben. Tirol und Niederösterreich gelten als jene Bundesländer, in denen der Ausbau am weitesten vorangeschritten ist. Seit gut zehn Jahren wird auf politischer Ebene von der „Digitalisierungsoffensive“ gesprochen, um strukturelle Nachteile des Landes auszugleichen und auf lange Sicht der Landflucht entgegenzuwirken. Die „Breitbandmilliarde“ des Bundes soll vor allem dorthin fließen, wo sich der privatwirtschaftliche Ausbau wie etwa in Städten nicht rechnet. Zuletzt hat das Finanzministerium 1,4 Milliarden Euro dafür freigemacht, bis 2026 sollen weitere 400 Millionen Euro für diese Projekt zur Verfügung gestellt werden. Bislang haben von der Digitalisierung laut Städtebund vor allem jene Gemeinden besonders profitiert, die im Umland von Städten liegen und schon zuvor in die In frastruktur investiert haben. Vielfach sind das dieselben Orte, in denen der Breitbandausbau weit fortgeschritten ist. Ob die Digitalisierung auch zu mehr sozialer Vernetzung beiträgt, hängt aber vielfach vom individuellen Engagement einzelner Gemeinden ab. Zum Ausdruck kommt das in Foren und sozialen Netzwerken: Zufrieden mit dem Breitbandausbau zeigen sich vor allem jene, in deren Wohnort sich ein besonders hoher Prozentsatz für einen Glasfaseranschluss entschieden hat. Jene, die in Gemeinden ohne hohe Zustimmung leben, beschreiben oft ein mühsames Vorankommen im Digitalisierungsprozess. Für Rita Phillips, Sozialpsychologin an der Universität Linz, ist das wissenschaftlich begründbar. „Gemeinden als Institutionen strukturieren das Zusammenleben für eine ganz klar abgegrenzte Population“, sagt sie. Je nach eigenen Interessen könne man sich als Individuum als Teil davon identifizieren oder nicht. In Bezug auf die Digitalisierung im ländlichen Raum greifen die di- „ Digitale Kommunikation ist nicht nur ein technisches Problem, sondern ein soziales. Emotionalität spielt beim Erlangen digitaler Fähigkeiten eine bedeutende Rolle. “ gitale und die analoge Welt ineinander, so Phillips. Etwas, das ihr zufolge nur funktionieren kann, wenn es auch im analogen Leben Gemeinschaft gibt. Letztere hat in ländlichen Regionen in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Im letzten Jahrhundert drückte sich Gemeinschaft durch die Abgeschiedenheit von Ortsgemeinschaften, Familienstrukturen, ortsgebundene Netzwerke wie Arbeitskolleg(inn)en oder Freundeskreise oder auch Freizeitaktivitäten aus. Die gesteigerte Mobilität hat die Lebensumwelten vergrößert, gleichzeitig aber zu einer Anonymisierung innerhalb von Ortsgemeinschaften beigetragen. Das führt zu einer sozialen Abgrenzung. „Hier könnten digitale Kommunikations- und Koordinationswerkzeuge eine Möglichkeit bieten, um den Zusammenhalt wieder zu stärken,“ sagt Phillips, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Digitalisierung und sozialer Zusammenhalt im ländlichen Raum“. Dabei wird in verschiedenen Gemeinden untersucht, ob etwa die Nutzung von Onlineplattformen oder Social-Media-Gruppen den sozialen Zusammenhalt unterstützen können. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Erfahrungen während der Lockdowns: Diese hätten zwar die Entwicklung digitaler Formen beschleunigt, doch welches Potenzial die Digitalisierung in Bezug auf die Unterstützung von Freiwilligen- und Gemeinschaftsarbeit habe, müsse laut Phillips noch erforscht werden. Genutzt wird, was nützlich war Erste Ergebnisse hätten gezeigt, dass es unabhängig von der Altersgruppe zunächst sogenannte digitale Routinen gebe, die essenziell seien und erweitert werden müssten. Zudem müsse man darauf achten, was in der Pandemie überhaupt digitalisiert worden sei: Innovationen zur Erhaltung von Tradition und zur Förderung von bestehenden Gemeinschaften; etwa wenn es um organisatorische Aspekte von Vereinen oder aber auch die Serviceleistungen von Ämtern ging. Davon behalten wurde nur, was nützlich war, wie etwa Videotelefonate zur schnellen Informationsübermittlung. „Digitale Kommunikation ist nicht nur ein technisches Problem, sondern eigentlich ein soziales“, erklärt Phillips. Wenn es darum gehe, digitale Fähigkeiten zu erlangen, spiele Emotionalität und soziale Verbundenheit in der Vermittlung des neuen Wissens eine wesentliche Rolle. Als weniger wichtig stellten sich dagegen Personen heraus, die als externe Hilfestellung zum Einsatz kommen. Anfänglich sei dieser „externe Support“, der via Telefon technische Hilfeleistung angesagt hat, hochgelobt gewesen, meint Phillips. Im Zuge ihrer Forschung sei er aber vernachlässigbar. „Digital allein ist nicht genug“ Die Erhebungen des Linzer Instituts für Soziologie werden noch bis Frühjahr 2024 laufen. Am Ende soll ein Katalog mit Best-Practice-Maßnahmen stehen, den man in Gemeinden des ländlichen Raumes diskutieren und umsetzen möchte. Den zwischenzeitlichen Erkenntnissen zufolge kommt es bei der Umsetzung solcher Projekte vor allem auf eines an: Es muss Spaß machen! Zudem empfiehlt die Forschungsgruppe von Sozialpsychologin Rita Phillips, dass Teams, die digitale Initiativen betreuen, unterschiedlich sind. Durch verschiedene Fähigkeiten, Einstellungen und Lebenserfahrungen würden unterschiedliche Ängste und Bedürfnisse widergespiegelt. Das sei wichtig, um die „offline sozialen Netzwerke“ in den „online sozialen Netzwerken“ repräsentieren zu können. „Dadurch wird deutlich, dass das nicht etwas ist, das für ,die anderen‘ gemacht wird, sondern ,von uns für uns‘“, erklärt Phillips. Wie im analogen Leben dürfe auch für digitale Initiativen der Input nicht „von oben“ kommen, sondern aus der Gesellschaft selbst. So könne man verhindern, Mitglieder zu verlieren. Der ehemalige burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl sieht an dieser Stelle die Gemeinden als Institutionen in der Verantwortung. Seit zwei Jahren ist er Sport-Austria-Präsident. In dieser Zeit habe er erlebt, wie Vereinsmitglieder aufgrund der sozialen Distanz verlorengegangen seien. Das betreffe vor allem das Freiwilligenwesen, für das er auch finanzielle Anreize empfiehlt. Für ihn ist das eine Rückkehr ins Analoge. Digitalisierung und die Rückkehr ins gesellschaftliche Leben nach Corona stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Im Finanzministerium sieht man im schnellen Internet eine Infrastruktur, auf die in den nächsten Jahrzehnten aufgebaut werden könne. Rita Phillips ergänzt das: „Wenn es um den Zusammenhalt geht, ist digital allein nicht genug.“

n DIE FURCHE · 4 26. Jänner 2023 Bildung 13 Die Studien des „Schul-Barometers“ zeigen dringenden Unterstützungsbedarf für Schulen mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine. Die Herausforderung: Wie sollen sie deutschsprachigem Unterricht folgen, wenn die Gedanken zu Hause sind? Ein Gastkommentar. Die Bedürfnisse Geflüchteter hören Von Stephan Gerhard Huber Die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat weit über die ukrainische Landesgrenze hinweg Folgen. So waren vor fast einem Jahr Schulen in Österreich, und auch in vielen anderen Ländern, die Geflüchtete aufnahmen, herausgefordert, mit dem Thema Krieg und resultierenden Fragen umzugehen. Eine der drängendsten: Kann Putin die ganze Erde zerstören? Kinder und Jugendliche hatten, so zeigten erste Befunde des „Schul-Barometers“ im Frühjahr 2022, Angst um direkt vom Krieg Betroffene, aber auch vor einem Krieg im eigenen Land. Eltern und Lehrkräfte waren gefordert, auf vielfältige Sorgen und Nöte einzugehen: Was sind die Ursachen, Hintergründe und Folgen des Krieges? Warum will Putin die Ukraine? Wer und was ist Gut und Böse? Wann kommt der Frieden wieder? Mehrfachbelastung und Ressourcennot Bald darauf kamen Menschen aus der Ukraine, die in Österreich und vielen anderen Ländern Schutz suchten. Laut österreichischem Integrationsfonds wurden 90.000 ukrainische Geflüchtete erfasst, davon 16.000 Kinder und Jugendliche. Es wird berichtet, dass rund 13.000 davon an das österreichische Schulsystem angebunden sind. Für diese geflüchteten Kinder und Jugendlichen wurden in Österreich zusätzlich Lehrpersonen eingestellt, davon auch einige mit ukrainischen Wurzeln. Eine Fragebogenstudie des „Schul-Barometers“ hat 2022 die Erfahrungen von 1158 schulischen Mitarbeitenden (1085 Lehrkräften und 73 Schulleitungen) im Umgang mit den Auswirkungen des Kriegs erfasst. Die Ergebnisse dieser und einer weiteren Studie mit ukrainischen Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern, überwiegend Müttern, zeigen: Viele Schulen sind aufgrund der Ausstattungssituation in einer angespannten Lage, zum Beispiel sind räumliche Kapazitätsgrenzen erreicht oder überschritten, oder es fehlen digitale Endgeräte. Nahezu alle Schulen verzeichnen einen Personalmangel. Mit Aufnahme und Anbindung ukrainischer Schülerinnen und Schüler erfährt die ohnehin angespannte Situation in den Schulen eine merkliche Verschärfung. In der „Schul-Barometer“-Studie zeigen sich die beteiligten Kinder und Eltern als sehr dankbar für vieles, was ihnen in Österreich an Unterstützung widerfährt. Gleichzeitig erfahren ukrainische Kinder und Jugendliche hohe Belastungen. Sie müssen Foto: imago / snapshot eine Situation bewältigen, geflohen in ein für sie neues Land, mit Sorgen um die Menschen daheim, Gedanken an das Kriegsgeschehen, stark veränderten Sozialbeziehungen, Sprachbarrieren. Aus der Teilstudie geht zudem hervor, dass es ukrainische Kinder und Jugendliche als belastend erleben, neben Sprachlernkursen, zum einen dem regulären Unterricht an ihrer österreichischen Schule sowie zum anderen dem Online-Unterricht aus der Ukraine zu folgen. Dazu kommen die Hausaufgaben. Gerade ältere Schüler möchten alle Qualifikationen verfolgen, da der Zeitpunkt einer Rückkehr ja noch ungewiss ist. Es ist etwa auch eine Chance für Branchen mit Personalmangel, wenn sich im Übergang von Schule zu Beruf Schüler in Österreich engagieren können. Die Ungewissheit bedeutet ein Bleiben auf gepackten Koffern: Viele wollen so bald wie möglich zurück, sind mental nur vorübergehend im Aufnahmeland; andere wollen in Österreich ankommen und gleichzeitig die Maturaprüfungen in der Ukraine online ablegen. Ukrainische Lehrpersonen möchten sich gern im Schulsystem engagieren und einbringen – und bedeuten vor dem Hintergrund des Personalmangels eine Chance für Österreichs Bildungssektor. Eine Zusammenarbeit mit pädagogischem (Fach-) Personal bietet besondere Chancen: Es braucht personelle Ressourcen. Aufgrund der Kenntnisse der Herkunftssprache können Sprachbarrieren schneller überwunden und eine rasche Integration der Schülerinnen und Schüler gefördert werden. Ukrainische Pädagoginnen und Pädagogen können eine gewisse Expertise hinsichtlich der Bedürfnisse mitbringen, die bei den Schülerinnen und Schülern aktuell im Fokus stehen. So kann eine Vertrauensbasis zu den Kindern und Jugendlichen geschaffen werden. Um Bedarfe und Bedürfnisse an den Schulen zu erfüllen, werden von Schulstandort zu Schulstandort unterschiedliche zusätzliche Ressourcen benötigt: Zeichen für den Frieden An vielen Schulen wird für die Geflüchteten aus der Ukraine gebastelt. Die Werke sind Symbole der Solidarität. Mehr zum Thema finden Sie auch in „Der Schulabschluss als das große Ziel nach der Flucht“ (22.10.2015) auf furche.at. „ Im Umgang mit den umfangreichen Anforderungen brauchen Schulen einen klaren Fokus in der Strategie und damit eine pädagogische Prioritätensetzung. “ personelle und finanzielle Aufstockungen, Materialien, Handreichungen, digitale Endgeräte und weitere Ressourcen (zum Beispiel Beratungsangebote). Schulleitungen und Schulen sind jetzt strategisch besonders gefordert in ihrer Prioritätensetzung. Dazu müssen pädagogische Überlegungen und Kriterien vor dem Hintergrund der schulspezifischen Rahmenbedingungen und personellen Situation ebenso wie der vorhandenen Kapazitäten und Motivationen eingeordnet und bewertet werden. Was ist machbar? Was ist realistisch? Dabei zeigt sich, dass die realen Möglichkeiten zwischen den vielfältigen Ansprüchen einerseits und den vorhandenen Ressourcen andererseits liegen. Zusätzliches Engagement geht für eine Weile, aber für eine nachhaltige Bearbeitung – vor dem Hintergrund der umfangreichen Anstrengungen der letzten Jahre vor allem in der Bewältigung der Corona-Pandemie – wird Unterstützung durch das Schulsystem benötigt. Wichtig ist nun auch, die speziellen Möglichkeiten, die sich je nach Schulsituation unterschiedlich gestalten, auszuloten und strategisch zu entscheiden. Eine strategische Herausforderung Die sehr heterogene Bedürfnislage zeigt: Für Kinder und Jugendliche sind neben den kognitiven Angeboten soziale, motivationale und emotionale ausgesprochen wichtig. Das gilt für alle Schülerinnen und Schüler, besonders aber für die geflüchteten. Gerade künstlerische und Sportangebote, generell Freizeitangebote sind hier wichtig. Sie bergen Potenzial für Spracherwerb, Integration und Freude. Die Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen wird als hilfreich erlebt. Bildung hat das Leben zum Gegenstand und bereitet auf das Leben vor. Sie basiert auf der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Situationen und Konstellationen. Von österreichischen Interviewpartnern wird betont, dass hier alle dazulernen. Unsere Schulen leisten viel, es gibt viele Herausforderungen: Umwelt, Demokratie, Krisen wie Covid und jetzt Krieg in Europa. Zugleich herrscht Personalmangel. Das Bildungssystem ist gefordert. Gerade im Umgang mit umfangreichen Anforderungen brauchen Schulen Unterstützung in Form von Ausstattung und Personal sowie einen klaren Fokus in der Strategie und damit eine pädagogische Prioritätensetzung. Der Autor lehrt Leadership, Quality Management und Innovation an der Johannes Kepler Universität Linz. 2020 gründete er das „Schul-Barometer“. VON HERZ ZU HERZ Freude schenken und Gutes tun! Jetzt bestellen: www.missio.at/herz

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