DIE FURCHE · 43 24 Wissen 25. Oktober 2023 Von Anton Grabner-Haider Aus heutiger Sicht haben jüdische Psychologen und Philosophen nach dem Schock der beiden Weltkriege und der Schoa wesentlich zum geistigen, moralischen und sozialen „Wiederaufbau“ in der westlichen Welt beigetragen. Der „Abbau“ der Moral- und Kulturwerte hatte mit dem Kriegsbeginn 1914 seinen Anfang genommen. Nach 1945 waren es vor allem jüdische Denker und Therapeuten, die nach neuen Methoden zur Heilung der seelischen Verletzungen suchten. Denn die Überlebenden des Holocaust waren zutiefst verunsichert und seelisch ausgesetzt. Daher entstanden in den USA und in England mehrere Schulen der Humanistischen Psychologie („Human Potential Movement“), die humanistische Moralwerte mit den Methoden der Therapie verbinden wollten (Abraham Maslow, Charlotte Bühler). Und es wurde viel über das autoritäre Denken und Handeln und die psychische Struktur von Massenmördern geforscht. Ein Schwerpunkt der Forschung lag fortan in der experimentellen Sozialpsychologie (William Stern, Fritz Heider). Von der Psychoanalyse zum Psychodrama Daher befasst sich eine Tagung „Jüdische PsychologInnen und Mediziner im 20. Jahrhundert“ im Wiener Otto-Mauer-Zentrum am 5. November ausführlich mit den großen Schulen der Psychologie, die zum Teil in Wien ihren Ausgang nahmen. Dargestellt werden in Zusammenarbeit mit der Sigmund Freud Privatuniversität die Grundideen von Sigmund Freud und von Alfred Adler. In den Blick kommt auch die große Schule der „Logotherapie“ von Viktor Frankl, aber auch die Methoden des „Psychodrama“ von Jakob Moreno oder die wegweisenden Studien zur psychischen Situation von Arbeitslosen von Marie Jahoda. Genauer beleuchtet werden u.a. die Methoden von Salomon Asch, der mit einem Experiment den „Konformitätsdruck“ erhellte, oder die Thesen des Analytikers und Sozialpsychologen Erich Fromm über Lebensorientierungen am „Sein oder Haben“. Dann geht es um die Experimente zum blinden Gehorsam unter Gruppendruck, die Stanley Milgram durchgeführt hat. Vorgestellt werden auch die Studien über psychische Dynamiken in Wirtschaftsprozessen, wie sie der US-israelische Psychologe Daniel Kahnemann analysiert hat. Foto: Getty Images / Hulton Deutsch Foto: picturedesk.com / APA-Archiv / Barbara Gindl Berühmte Köpfe Psychoanalytiker Sigmund Freud, Kinderpsychologin Charlotte Bühler, Sozialpsychologin Marie Jahoda (u.), Logotherapeut Viktor Frankl (u.). Angesichts aktueller Kriege ist an eine lange Reihe jüdischer Psycholog(inn)en und Mediziner zu erinnern. In ihrem Lebenswerk finden sich wertvolle Impulse der Humanität. Fundamente des Friedens „ Jüdische Psychologen, Therapeuten und Philosophen tragen global zu einer Kultur der persönlichen Verantwortung und vernünftigen Kooperation bei. “ Zum Schluss wird noch an einige jüdische Mediziner erinnert, die Wesentliches zur klinischen Forschung beigetragen habe. Paul Ehrlich etwa gilt als der Begründer der Chemotherapie, seine Forschungen galten den Erregern von Milzbrand, Tuberkulose und Diphterie. Für seine Arbeiten zum Immunsystem erhielt er den Nobelpreis. Magnus Hirschfeld war ein Initiator der Sexualforschung und befasste sich mit der biologischen Veranlagung von homosexuellen Menschen. Paul Zoll leistete wertvolle Beiträge zur Kardiologie, etwa bei der Erfindung des Herzschrittmachers und des Defibrilators. Jonas Salk und Albert Sabin entwickelten nicht nur Impfstoffe gegen Enzephalitis und die Kinderlähmung, sondern leisteten auch wertvolle Beiträge für die Krebsforschung. Stanley Cohen wiederum erforschte die Kommunikation der Nervenzellen, wobei er hauptsächlich zu den Ursachen von Alzheimer-Demenz und Depressionen forschte. Bis heute sind jüdische Wissenschaftler(innen) in der medizinischen Forschung führend tätig. Zudem ist auffallend, dass viele jüdische Psychologen und Therapeuten schon in ihrer Jugend ein starkes soziales Engagement zeigten; die Stärkeren sollten den Foto: Getty Images / ullstein bild Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Archiv Setzer-Tschiedel Siehe dazu auch „Es begann mit dem geistigen Wiederaufbau“ (25.4.2023): Anton Grabner- Haider über jüdische Philosophie im 20. Jahrhundert, auf furche.at. Schwächeren bei der Entfaltung ihres Lebens helfen (Alfred Adler, Viktor Frankl). Dies dürfte eine Wirkung der religiösen Sozialisation sein, auch wenn die Jugendlichen nicht mehr religiös gebunden waren. Zum andern fällt auf, dass jüdische Psychologen und Mediziner einen starken Bezug zu humanistischen Philosophen zeigten, etwa zu Hans Jonas oder Emmanuel Levinas. Viele von ihnen wollten dazu beitragen, dass möglichst viele Menschen lernen, autonom zu denken und zu handeln, blinden Gehorsam zu überwinden und soziale Verantwortung für konkrete Mitmenschen zu übernehmen. Aggressive Ideologien im Vormarsch Damit tragen jüdische Psycholog(inn)en, Therapeut(inn)en und Philosoph(inn)en heute global zu einer Kultur der persönlichen Verantwortung und der vernünftigen Kooperation bei. Freilich konnten sie nicht verhindern, dass in den letzten Jahrzehnten in vielen Regionen der Erde wieder hoch aggressive Ideologien und Kriegslehren entstanden sind und sich verbreiten. Aber für die westlichen Kulturen haben diese Denker und Therapeuten einen gewichtigen Beitrag geleistet zu einer relativ friedvollen Zivilisation seit fast 80 Jahren. Daran zu erinnern gewinnt angesichts der rezenten kriegerischen Konflikte dringend an Aktualität. Der Autor ist Kulturwissenschaftler und war Prof. für Religionsphilosophie an der Universität Graz. Veranstaltungshinweis: Jüdische PsychologInnen und Mediziner im 20. Jahrhundert. Tagung im Otto-Mauer-Zentrum, 1090 Wien. Mit Vorträgen von A. Grabner-Haider, Bernd Rieken etc., So 5. 11., 11 bis 18 Uhr Gebühr: € 40,– (ganztags) bzw. € 20,- (halbtags) Infos: www.kav-wien.at - Im Rahmen der Bedenkwoche Mechaye Hametim (S. 3 dieser FURCHE). Dynamik der jüdischen Philosophie Von den Anfängen bis zur Gegenwart Von Anton Grabner-Haider Verlag Dr. Kovač 2023 122 S., kart., € 65,80 Weiter denken DER FURCHE PODCAST „Bin als Jüdin tief erschüttert“ Für Liliane Apotheker, Präsidentin des Internationalen Rates der Christen und Juden, der weltweiten Dachorganisation christlichjüdischer Dialog-Vereinigungen, beutet das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober eine Zäsur. Im FURCHE-Gespräch thematisiert sie ihre Sprachlosigkeit angesichts des Terrors, aber auch ihre Hoffnungen – trotz allem. furche.at/podcast
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