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DIE FURCHE 25.10.2023

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DIE FURCHE · 43 20 Film 25. Oktober 2023 Das Gespräch führte Matthias Greuling Für Wim Wenders und seine Künstlerbiografie „Anselm“ gab es bei der Premiere in Cannes heuer im Mai stehende Ovationen. Das Porträt des deutschen Künstlers Anselm Kiefer ist geradezu prädestiniert, das 3D-Kino in allen Facetten auszureizen: Schließlich sind Kiefers Kunstwerke oftmals hoch wie ein Haus und breit wie ein Boulevard - all das kann Wenders mit seiner Kamera einfangen. DIE FURCHE: Warum haben Sie sich für den Künstler Anselm Kiefer entschieden? Wim Wenders: Wir hatten schon lange vor, einen gemeinsamen Film zu machen. Ich war immer beeindruckt von der immensen Bandbreite seines Werks, das tief in die Geschichte, Astronomie, Philosophie, Biologie, Physik und Mythen hineinreicht. Seiner Palette und seiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wie kein anderer, den ich kenne, ist er in der Lage, die „Zeit“ in sein Werk einzubeziehen und ihre Spuren sichtbar zu machen. Als ich schließlich das riesige Atelieranwesen, das er in Südfrankreich in Barjac geschaffen hat, besuchte und die neuen Arbeiten in seinem Atelier in Croissy bei Paris sah, wusste ich, dass die Zeit gekommen war, den Film zu machen. DIE FURCHE: Kennen Sie die Künstler, die Sie filmen, persönlich? Wenders: Das ist nicht meine Priorität. Ich hatte die alten kubanischen Musiker des Buena Vista Social Club nie getroffen, bevor wir mit den Dreharbeiten begannen. Auch nicht Sebastião Salgado oder Papst Franziskus. Ich kannte Pina Bausch, sie war eine gute Freundin, und ich kenne Peter Zumthor (vgl. S. 17) seit Jahren, über den ich gerade einen Film entwickle. DIE FURCHE: Welchen Blickwinkel haben Sie gewählt, um Kiefers Karriere zu beschreiben? Kiefers Werk Installationen in der Landschaft visualiert Wim Wenders in „Anselm“ ebenso wie die größtformatigen Bilder des mittlerweile 78-jährigen Künstlers. In „Anselm“, dem Dokumentarfilm über den deutschen Künstler Anselm Kiefer, frönt Wim Wenders einmal mehr seiner Leidenschaft für 3D. „Ich habe jede Sekunde genossen“ Wenders: Es ist das Werk selbst, das den Film antreibt; es ist eine Biografie seiner Kunst. Mit Hilfe von 3D - die Technik ist heute viel fortschrittlicher als zu der Zeit, als wir „Pina“ mit einem Prototyp gedreht haben - konnte ich den Zuschauern ermöglichen, tatsächlich in Barjac zu sein, die unterirdische Welt und die Krypta, die er dort geschaffen hat, sowie die anderen erstaunlichen Orte zu erleben und wirklich in das Universum „ Als ich jetzt ‚Anselm‘ drehte, war ich mit der Technologie im Reinen. 3D gab mir eine reichhaltige Palette an Möglichkeiten, dass ich sie voll ausschöpfen wollte. “ von Anselm Kiefer einzutauchen. Sie können seine überwältigende Ausstellung im Palazzo Ducale in Venedig besuchen. Sie können die verschiedenen Stationen seines Lebens besuchen. Es gibt Sequenzen mit einem jungen Schauspieler, der Kiefer im Alter von zehn Jahren spielt, und seinem eigenen Sohn, der ihn in seinen Vierzigern spielt. Wenn man aus diesem Film kommt, kann man sagen: „Ich war in Anselms Welt“. Foto: Polyfilm DIE FURCHE: Das 3D-Kino scheint in der Krise zu stecken. Nicht mehr viele Filme kommen in diesem Format heraus. Warum glauben Sie immer noch daran? Wenders: Zwischen meinem letzten 3D-Film „Die schönen Tage von Aranjuez“ (2016) und „Anselm“ habe ich zwei Kurzfilme gedreht. Der eine war eine Installation über das Werk von Edward Hopper. Letztes Jahr habe ich eine 30-minütige Installation über die französische Künstlerin und Bildhauerin Claudine Drai mit dem Titel „Présence“ gemacht. Schon der Titel sagt: 3D ist Präsenz. Das hat man in einem 2D-Film nicht. Ich habe lange an diesen beiden Kurzfilmen gearbeitet, und als ich jetzt „Anselm“ drehte, war ich mit der Technologie im Reinen. Sie hat einen so großen Sprung gemacht, 3D gab mir eine reichhaltige Palette an Möglichkeiten, dass ich sie voll ausschöpfen wollte. Ich finde, dass das Ergebnis gut ist, und dass diesem 3D-Kino noch lange nicht die Luft ausgeht. DIE FURCHE: Wie kann man als Filmemacher in der Bilderflut der heutigen Zeit noch Bilder machen, die eine Haltbarkeit haben? Wenders: Das Schlimme an der Flut ist die Beliebigkeit, die in ihr steckt. Wenn man ihr also etwas entgegensetzen will, dann muss man Bilder mit einer gehörigen Portion Zuneigung, Liebe und Sorgfalt machen. Nur, wenn ich selbst etwas investiert habe, kann das Resultat für andere einen Wert darstellen. Eine andere Chance hat man nicht. DIE FURCHE: Sie sind dieses Jahr mit dem Spielfilm „Perfect Days“ und eben mit dem Dokumentarfilm „Anselm“ bei der Viennale vertreten: Welcher künstlerische Prozess hat Ihnen am meisten Spaß gemacht? Wenders: Die Dreharbeiten zu „Anselm“ dauerten mehr als zwei Jahre, und ich habe jede Sekunde genossen. Der andere Film, „Perfect Days“, ist sehr spontan entstanden, da ich ein Zeitfenster in der langen und komplexen Postproduktion von „Anselm“ hatte. Wenn Sie beide Filme sehen, werden Sie feststellen, dass es schwer ist, sich zwei unterschiedlichere Filme vorzustellen. Aber beide entspringen der gleichen Quelle: meiner Liebe zur Kunst und zu den Orten. Ich habe ein großes Bedürfnis, die Kunst besser zu verstehen. Das ist meine große Leidenschaft. Foto: Peter Lindbergh KRITIK ZU „ANSELM – DAS RAUSCHEN DER ZEIT“ Weiteres Beispiel, was 3D im Kino kann Bei guten Filmen und anspruchsvollen Diskussionen bietet die Viennale die Möglichkeit, die eigene Gedankenwelt zu erkunden. Entdecken Sie neue Zusammenhänge und Perspektiven - heute bei der Viennale und gerne auch ab morgen in Ihrer FURCHE. JETZT 4 WOCHEN GRATIS LESEN furche.at/abo/gratis Alle Artikel seit 1945 im FURCHE- Navigator Dass Anselm Kiefer in der kommenden Saison den eisernen Vorhang in der Wiener Staatsoper gestalten wird, wurde just zur Österreich-Premiere von Wim Wenders „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ bekannt gegeben (mehr dazu in der nächstwöchigen FURCHE). Kiefer wird also hierzulande noch eine ganze Weile im Gespräch sein. Der deutsche Monumentalkünstler musste – das wird man Wim Wenders gewiss konzedieren müssen – mittels eines monumentalen Films im Kino gewürdigt werden. Und – was bei einem Dokumentarfilm ja eher ungewöhnlich ist – wurden auch die Familien von Regisseur und Protagonist zu schauspielerischen Hilfsdiensten verpflichtet: Anton Wenders, Großneffe des Regisseurs, mimt ihn als Buben, Daniel Kiefer spielt Anselm in seinen Vierzigern, wobei der Vater nichts von des Sohnes Beteiligung wusste, wie Kameramann Franz Lustig auf der Viennale erzählte. Nicht chronologisch, aber die künstlerischen Stationen von Anselm Kiefer darstellend, bewegt sich Wenders durch den Kiefer’schen Kosmos – von der Zusammenarbeit mit Joseph Beuys bis zu den archi- tektonischen Kunstinterventionen in die Landschaft Südfrankreichs, wo Anselm Kiefer bis vor Kurzem vornehmlich lebte und arbeitete. Seit 1991 habe er mit Kiefer die Idee eines Films gewälzt, so Wenders, und schon die Anmutung eines 30-jährigen Schaffensprozesses gibt vor, dass am Ende nur etwas Monumentales, wenn auch wirklich Beeindruckendes herauskommen kann. Für Wenders gehört dazu auch die aufwändige 3D-Technik, ohne die er Kiefer gar nicht hätte darstellen können oder wollen. Das mag man unterschiedlich sehen – im Vergleich zu „Pina“, dem ersten 3D-„Kunstfilm“ überhaupt, wo Wenders 2011 die Tanzideen von Pina Bausch durch die 3D-Technik im Kinosaal Wirklichkeit werden ließ, wäre Kiefer wohl auch mit 2D beizukommen gewesen. Aber Wenders, der sich seit zehn Jahren als Prophet des 3D-Films gebärdet, gelingt mit „Anselm“ doch ein weiteres Beispiel dafür, was die Technik kann. (Otto Friedrich) Anselm – Das Rauschen der Zeit D 2023. Regie: Wim Wenders. Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders. Polyfilm. 93 Min.

DIE FURCHE · 43 25. Oktober 2023 Film 21 „Music“, ein Highlight der Viennale, kommt bald auch regulär ins Kino: Mythologie und Enigma pur. Und musikalische Betörung. Ödipus 2023 Barbara Albert verfilmt in „Die Mittagsfrau“ den gleichnamigen Roman von Julia Franck über eine Frau, die ihren Sohn zurückließ. Im Stich lassen? Er erschlägt seinen Vater, ohne zu wissen, wer dieser war. Er heiratet seine Mutter. Und er erblindet, als diese Familiengeschichte ihm offenbar wird. So lauten wesentliche Eckpunkte des Ödipus-Mythos, den die deutsche Filmemacherin Angela Schanelec zu ihrem assoziativen und langsamen Bilderreigen „Music“ fürs 21. Jahrhundert verfremdet. Bei der Berlinale bekam Schanelec’ forderndes Opus „Music“ dafür den Drehbuchpreis. Wobei „Ödipus meets Parzival“ die vielleicht bessere Charakteristik des Films ist, der sich erst nach und nach dem Zuschauer erschließt. Denn Ion, so heißt der Protagonist, Genau komponierte Bilder treiben eine Handlung weiter, die sich konventionellen Mustern verweigert. ist nicht der letztlich mit vielen Wassern gewaschene Königssohn der griechischen Mythologie, sondern ein reiner Tor, der in seine Schicksalsschläge inklusive Vatermord, Inzest und Erblindung vor allem hineinstolpert. „Music“ beginnt in Griechenland und endet in Deutschland und erzählt die Geschichte des Findelkindes Ion, das unglücklich einen Mord begeht und sich im Gefängnis in die Wärterin Iro verliebt, die schließlich und endlich das Schicksal des mythischen Vorbilds Iokaste teilt. Was Ion – trotz des Fortschreitens im Verlust des Augenlicht – aufrecht hält, ist sein Singen. Großartig ist das Schauspiel des Frankokanadiers Aliocha Schneider, der dem Ion auch in seiner Präsenz den Mythos, auf dem seine Figur fußt, vergegenwärtigt. Agathe Bonitzer gelingt in der Rolle der Iro Nämliches. „Music“ verweigert sich konventionellen Erzählmustern und verbindet archaische Bilder mit einem durch und durch enigmatischen Plot, der im Verlauf des Films mehr und mehr in den Bann zieht – und das im Verein mit der Betörung der Musik. „Music“, ein Highlight der Viennale, kommt bald danach auch regulär ins Kino. (Otto Friedrich) Music D/F/GR/SRB 2022. Regie: Angela Schalenec. Mit Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer. Filmgarten. 108 Min. Ab 2.11. im Kino. Barbara Albert erzählt in „Die Mittagsfrau“ das Zurücklassen des Sohnes aus Perspektive der Mutter. Dass eine Mutter ihr Kind als Fessel im Kampf um Selbstbestimmung empfindet, löst Unbehagen aus. „Die Mittagsfrau“ handelt davon. Seine Hauptfigur Helene überlässt Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Sohn Peter auf einem Bahnhof sich selbst. Jahre später sucht sie den jetzt 17-Jährigen auf dem Land bei seinem Onkel auf. Doch Peter hält sich versteckt. Barbara Alberts Adaption von Julia Francks gleichnamigem Bestseller erzählt in Rückblenden aus der Perspektive Helenes, wie sie zu der Frau geworden ist, die ihr Kind im Stich ließ. Mit seinem Auftakt akzentuiert der Film entgegen dem Roman nicht das traumatische Erleben des Sohnes; er rückt Helenes Beziehung zu ihrer Schwester Martha und deren Freundin Leontine in den Vordergrund. Mit weichem Ton fängt er die Sehnsucht der Jugend nach Nähe und sinnlichem Erlebnishunger ein. Indem Albert verdichtet, umdeutet und hinzu erfindet, konturiert sie noch stärker die Polarisierung von romantischer Liebe in Gestalt des Karl und der späteren Vernunftehe mit Wilhelm, der ihr im Nationalsozialismus zu einer ‚arischen‘ Identität verhilft. Dabei bietet der Film für das Berlin der Goldenen Zwanziger keine neuen Ansichten, sondern bedient sich gängiger Bilder. Kraftvoll und überzeugend malt er dagegen die Beziehung zu Wilhelm aus, die menschliche Kälte und das beschwerliche Dasein als Frau und Mutter werden lebendig. So erscheint es folgerichtig, wenn der Film Helene mit einem allerdings klischeehaften Schlussbild rehabilitiert. Im Roman hingegen ist die Verletzung des Sohnes zu tief. Er will nichts hören, sondern vergelten, und fällt so dem ‚Wiederholungszwang‘ anheim. Wie einst die Mutter verkennt der Sohn die Realität: „Er brauchte niemanden“. (Heidi Strobel) Die Mittagsfrau D/L/CH, 2023. Regie: Barbara Albert. Mit Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn, Liliane Amuat. Filmladen. 142 Min. Godot Jetzt hat gesagt, er kommt. Tickets sichern! buchwien.at/tickets 8.–12. November 2023 Messe Wien, Halle D

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