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DIE FURCHE 25.10.2023

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DIE

DIE FURCHE · 43 18 Literatur 25. Oktober 2023 Von Maria Renhardt Allein mit der „Maasdam“ nach New York, um ihrem Mann zu folgen, der dort als Anästhesist eine einjährige Ausbildung absolvieren möchte. Eine neuntägige anstrengende Schiffsreise, um die Ehe zu sichern oder vielleicht doch gar zu retten, während das gemeinsame fünfjährige Kind bei den Großeltern in Österreich zurückbleiben muss. Mit dieser Ausgangssituation rückt die österreichische Autorin Evelyn Schlag in „Please Come Flying“ aufs Erste einen radikalen Liebesbeweis in den Brennpunkt und widmet sich fortan einmal mehr dem vielschichtigen Thema Beziehungen. Hinter der Romanidee steckt zum Teil auch eine persönliche Geschichte, über die sie in ihren Innsbrucker Poetik-Vorlesungen „Literatur und Fotografie“ Auskunft gibt. Denn auch ihr Vater, ein Chirurg, hat eine Ausbildung zum Anästhesisten in New York gemacht; ihre Mutter ist ihm ohne Kind für acht Monate gefolgt. „Ich, die Autorin, würde mir meine Mutter aus den gestohlenen acht Monaten zurückholen, eine Engführung eines Abschnitts meiner Kindheit mit dem Schmerz meiner Mutter um die zurückgelassene Tochter.“ Neben einer Recherchereise nach New York zu den alten Schauplätzen, um sich das Setting besser vergegenwärtigen zu können, hat sie auch Diaaufnahmen aus dieser Zeit, die ihr Vater gemacht hat, digitalisieren lassen. Die Handlung spielt im Herbst und Winter 1957/58, genau zur selben Zeit, als ihre Eltern vor Ort waren. Damals ‒ mitten im Kalten Krieg ‒ sind die Wunden noch keineswegs vernarbt. Erinnerungen an die Bombenangriffe, an die Alliierten in Österreich ziehen sich durchs kollektive Gedächtnis und daneben wachsen Schweigen und Traumata derjenigen, die an der Front waren. Wie sensibel dieses Terrain ist, spiegelt sich in zahlreichen Rückblenden wider, die Schlag als Reflexionsspuren in die einzelnen Gespräche webt. Neuer Ort, neue Welt Für Lisa, die Protagonistin, ist der Aufbruch nach New York zweischneidig. Einerseits kann sie sich noch gar nicht vorstellen, wie sie dieses Jahr ohne ihre kleine Tochter verbringen wird. Andererseits beschließt sie, „sich der Wucht dieser Stadt auszuliefern, sich [im] Rausch des Neuen zu verlieren“. Da ihr Mann nur ein kleines Gehalt bekommt, arbeitet sie bei einer New Yorker Familie, bei der sie auch wohnt, als Nanny. Besonders schmerzhaft ist für sie, dass ihre Tochter im gleichen Alter wie Suzy ist, mit der sie hier in der Ferne ihre Zeit verbringt. Doch zum Glück hat sie eine Rolleiflex. An den freien Tagen zieht sie mit ihr allein oder manchmal auch gemeinsam mit Suzy durch die unterschiedlichsten Viertel. Foto: IMAGO / SKATA Hochkarätig Das Werk der 1952 in Niederösterreich geborenen Autorin Evelyn Schlag umfasst Erzählungen, Romane und Lyrik. 2015 wurde sie mit dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur ausgezeichnet. In ihrem neuen Roman „Please Come Flying“ spürt Evelyn Schlag einem bewegten Aufenthalt im New York der 1950er Jahre durch die Linse der Straßenfotografie nach. Die Rolleiflex im Gepäck „Diese Stadt war ein Bild nach dem anderen, immer noch eine Szene, noch ein Bild.“ An solchen Stellen gelingt Schlag eine besonders eindringliche Darstellung des moralischen Dilemmas, vor dem die Protagonistin steht. Minutiös und voller Intensität beschreibt sie das pulsierende moderne Leben, in dem soziale Welten auseinanderklaffen, in seiner permanenten Bewegung. „Weil das Leben unaufschiebbar“ ist. Lisa lässt sich treiben und beginnt spontan mit großem Interesse das urbane Alltagsleben „ ‚Please Come Flying‘ ist ein Roman voller Träume im Spiel mit Konventionen, Rollenklischees und Ausbrüchen. “ zu fotografieren. Dabei richtet sie das Objektiv auf Zufälliges, am Rand Liegendes, Weggeworfenes, auch Hässliches. Noch ohne viel darüber zu wissen, betreibt sie in diesem Festhalten des Unscheinbaren, Banalen eine Form von Straßenfotografie. Vorbild für Lisas Leidenschaft sind die Arbeiten der amerikanischen Fotografin Vivian Maier, deren Werke heute, wie Schlag in ihren Poetik-Vorlesungen bemerkt, vermutlich in dieser Zufälligkeit aus Datenschutzgründen nicht mehr möglich wären. Lisa spürt das Besondere an dieser Art von Fotografie zwischen Dokumentarcharakter und fast fließender Grenze zu beginnendem Voyeurismus, vor allem, wenn sie Menschen in ihrer Versehrtheit bildlich festhält. Dann sind es aber auch zufällige Gemälde, die sich aus dem Farbenspiel der Gebrauchsgegenstände ergeben. In Harlem hat sie einmal den Eindruck, dass hier alles Fotografie sei: „Man müsse dieses lustvolle Leben für einen Moment anhalten, um es einzufangen.“ Bald nach den ersten Zusammenkünften mit ihrem Mann Julian im Hospital merkt sie, dass er sie wieder betrügt. Anders als zu Beginn ihrer Beziehung wird ihr mehr und mehr bewusst, dass er ein patriarchales, konservatives „Erziehungsprogramm“ mit ihr gestartet hat. Sie sehnt sich nach Unabhängigkeit, nach eigenem Geld und einem Beruf. New York gibt ihr eine Ahnung davon, das steht aber Julians Frauenbild diametral gegenüber: „Du darfst nie zu viel arbeiten ‒ ich möchte Dich immer hübsch und lieb haben. Die viele Arbeit macht eine Frau nervös, und die Folge ist, dass sie sich vernachlässigt.“ Der gemeinsame Besuch der „West Side Story“, die damals gerade uraufgeführt wird, wühlt sie auf; die „Wucht der Rhythmen“, die Rasanz des Tempos und plötzlich im Kontrast dazu die „Weichheit der Melodie“ machen ihr geradezu bewusst, wie sehr sie sich eine Beziehung voller Leidenschaft wünscht. Neue Chance? Einen großen Wendepunkt in ihrem Leben stellt die Begegnung mit dem Fotografen John dar, den sie bald nach ihrer Ankunft auf einer ihrer Touren durch New York zufällig kennenlernt. Mit ihm besucht sie Fotoausstellungen in Museen. An seiner Seite schwebt sie und verspürt Energie, bald schon Leidenschaft. Er eröffnet ihr neue künstlerische Welten, in denen sie versinkt, weil sie es großartig findet, Menschen kennenzulernen, „für die es keine Entsprechung zuhause gab“: „Dieser Mann, der auf jedes Spiel von ihr einging, dessen Fantasie keine Grenzen kannte, der mehr Charme hatte, als alle ihre Bekannten zuhause.“ Sogar hierzubleiben, ist plötzlich eine Option für sie. Mit Leichtigkeit und Poesie zeichnet Evelyn Schlag ein grenzenlos aufregendes Leben im New York der späten 1950er Jahre als Fluidum verschiedenster Kulturen, Schichten, Sprachen und künstlerischer Ebenen. Darüber liegt wie ein Film eine zartbittere Liebesgeschichte, der sie das Aroma von Freiheit einschreibt. „Please Come Flying“ ist ein Roman voller Träume im Spiel mit Konventionen, Rollenklischees und Ausbrüchen. „Der letzte Ort / in meinem Leben / Das ist alles / rundherum New York.“ Please Come Flying Roman von Evelyn Schlag Hollitzer 2023 358 S., geb., € 24,00 WIEDERGELESEN Wie sich zwei kurzerhand Wirklichkeit erfinden Von Anton Thuswaldner Er ist ein Singulär in der polnischen Literatur, Witold Gombrowicz (1904–1969), der im Alter von 34 Jahren den Roman „Ferdydurke“ vorlegte, der als Schlüsselwerk der polnischen Moderne beurteilt wird. Dass ihn die Nazis ebenso wie die Kommunisten verbieten ließen, spricht für seine Qualität. Aus einer dem Landadel angehörenden Familie entstammend, musste sich Gombrowicz um sein Fortkommen wenig Gedanken machen. Das änderte sich, als er auf einer Schiffsreise nach Buenos Aires vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erfuhr. Das veranlasste ihn dazu, die nächsten 24 Jahre in Argentinien zu bleiben, was ihn vom Geldhahn zu Hause abschnitt. 1963 kehrte er nach Europa zurück, als Schriftsteller hatte er sich bereits eine sichere Basis verschafft, er war sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen. Der Beginn seines berühmten Tagebuchs steht für das literarische Programm: „Ich. Ich. Ich.“ Das ist der Nachweis dafür, dass sich einer ausschließlich auf sich selbst als kritische Instanz verlassen will. Für seine Literatur bedeutete das die Absage an Ideologien und alle tradierten Normen. Also pflegte er einen spielerischen Umgang mit traditionellen Formen, die er nur aufgriff, um sie einem Verwandlungsprozess durch eigenwillige Umgestaltungen zu unterziehen. Der Roman „Kosmos“ von 1965 ist an den Kriminalroman angelehnt, parodiert ihn aber. Ein Spatz wird gefunden, erhängt mit einem Draht. Das ist nur eines der seltsamen Ereignisse, welches Witold und Fuks, den beiden Antihelden des Buches, unterkommt. Was hat es gemeinsam mit einer verletzten Lippe und einer toten Katze? Die beiden torkeln durch ein Indiziengewirr ohne konkreten Fall. Es ist sehr witzig zu verfolgen, wie die beiden angestrengt Wirklichkeit aus voneinander unabhängigen Begebenheiten konstruieren: die Welt, reines Fake. Das Schöne an Gombrowicz ist, wie er sich ohne sich um Vorgaben und Erwartungen zu scheren, auf den Weg macht, seine eigenen Erfindungen zum Maß aller Dinge zu erklären. Als „Versuch, das Chaos zu organisieren“, bezeichnet er selbst den Roman. Und dazu kommt eine Sprache, die sich weit entfernt vom Erzählrealismus, der gewöhnlich wenig Individuelles aufweist: „Schweiß, Fuks geht, ich hinter ihm, Hosenbeine, Absätze, Sand, wir schleppen und schleppen uns, Erde, Wagenfurchen, Schollen …“ Wäre Literatur ein Wettbewerb, Witold Gombrowicz würde an Originalität und Witz so ziemlich alles schlagen, was heute erstaunenswert ist. Kosmos Roman von Witold Gombrowicz Aus dem Polnischen von Olaf Kühl Kampa 2023, 256 S., geb., € 25,70

DIE FURCHE · 43 25. Oktober 2023 Musik 19 Von Walter Dobner Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien Manche Vorstellungen bleiben noch nach Jahrzehnten in lebhafter Erinnerung. Das wird auch bei dieser Wiederaufnahme der „Frau ohne Schatten“ so sein. 2019 feierte diese Staatsopernproduktion ihre umjubelte Premiere. Das Haus am Ring beging damit sein 150-jähriges Bestehen. Bekanntlich ist es die einzige Oper von Richard Strauss, die hier ihre Uraufführung erlebt hat. Auch diesmal war es eine besondere Aufführung. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass unter den Besuchern gleich drei Staatsoperndirektoren zugegen waren: der jetzige, Bogdan Roščić, und seine beiden Vorgänger, Ioan Holender und Dominique Meyer. Aus gutem Grund: Am Ende der Vorstellung versammelten sie sich auf der Bühne, um gemeinsam mit den Ensembles des Hauses den Dirigenten des Abends, Christian Thielemann, für die ihm vom Bundesminister verliehene Ehrenmitgliedschaft der Wiener Staatsoper zu feiern. Mit so persönlichen Worten die neue Kultursektionsleiterin diese Ehrung auch vornahm, wäre es doch die vorrangige Aufgabe des Ministers oder der Staatssekretärin gewesen, diese selten vergebene Würdigung persönlich vorzunehmen. In einem Kulturstaat, als den man sich hierzulande gerne versteht, sollte das selbstverständlich sein. Christian Thielemann und das von ihm mit einer Autorität sondergleichen geführte, zu Höchstleistungen animierte Orchester, das dementsprechend seine Meriten ausspielte, waren denn auch das Ereignis dieser neunten Aufführung in der das Geschehen plausibel illustrierenden, sich vorrangig auf die Hauptfiguren konzentrierenden Inszenierung von Vincent Huguet. Nicht ganz so fulminant wie bei der seinerzeitigen Premiere präsentierte sich das Sängerteam: mit Andreas Schager als kraftvollem Kaiser, Elza van den Heever als gleichfalls mit ihrer Stimmstärke prunkenden Kaiserin, der differenzierter gestaltenden Tanja Ariane Baumgartner als artikulationsklare Amme, vor allem Michael Volle und Elena Pankratova (beides Wiener Rollendebüts) als Färberpaar, wie man es gegenwärtig qualitätvoller kaum finden wird. Tadellos die übrigen Comprimarii. In andere Sphären entführte auch die Volksoper Wien mit ihrer jüngsten, ausdrücklich für Alt und Jung gedachten Produktion: Offenbachs Vierakter „Die Reise zum Mond“, 1875 in Paris unter dem Titel „Le Voyage dans la Lune“ uraufgeführt. Schon Zeitgenossen lobten die Munterkeit und Spritzigkeit der Musik, die dem Komponisten für die damals noch utopisch scheinende Reise eingefallen ist. Sie führt schließlich den ein desolates Land regierenden, amtsmüden Erdenkönig Zack und sein Königspendant auf dem Mond, Kosmos, nach allerlei Verwirrungen zusammen. Mit dabei Familienangehörige, von denen sich der Erdenprinz und die Mondprinzessin in eine romantische Liebesgeschichte verstricken. In der Pariser Opéra Comique war diese auf den märchenhaften Charme dieser Oper zielende, bunt ausgestattete Inszenierung von Laurent Pelly, der auch die fantasievoll-bunten Kostüme beisteuert, bereits zu sehen. Nun hat diese revueartige Arbeit, die gerade in Zeiten wie diesen daran erinnert, dass am Ende ein Miteinander immer möglich ist, den Weg ins Haus am Währinger Gürtel gefunden. Alfred Eschwé führte Orchester, Kinder- und Jugendchor der Volksoper mit Esprit durch das abwechslungsreiche musikalische Geschehen. Das Ensemble mit Carsten Süss als König Zack, Aaron Casey Gould als seinem so gar nicht an seiner Nachfolge interessierten Sohn Prinz Caprice, Jakob Loibl als ihrem skurrilen wissenschaftlichen Begleiter Mikroskop, Christoph Stocker als voluminös auftretendem Mondkönig Kosmos und Sofia Vinnik als seiner sich nach mehr Zuneigung sehnenden Frau Popotte warf sich mit Verve in seine Aufgaben, überzeugte vor allem schauspielerisch. Alexandra Flood als deren ebenfalls plötzlich von Liebe erfüllte Tochter Prinzessin Fantasia sorgte für vokale Glanzlichter. „Die Frau ohne Schatten“ wieder an der Wiener Staatsoper, Offenbachs „Die Reise zum Mond“ an der Volksoper Wien und Händels Oratorium „Theodora“ szenisch im MuseumsQuartier. Unterschiedliche Sphärenklänge FEDERSPIEL Das Buch bleibt Die diesjährige Frankfurter Buchmesse hat wieder gezeigt: Das Buch bleibt. Vergeblich hatte man sich in den Jahren vor der Corona-Pandemie immer wieder darum bemüht, das Buch in eine Krise zu reden. Entweder wurde behauptet, das gedruckte Buch werde bald völlig rein elektronischen Formen weichen müssen. Das hat sich nicht bewahrheitet. Oder man hat das Überangebot an Büchern gegeißelt. Niemals werde jemand alle Bücher lesen können, die erscheinen, hieß es oft. Also ob das jemals irgendwer angenommen hätte! Noch nie habe ich vor einer Automesse gelesen, dass es zu viele Autos gäbe ‒ und das im Zeitalter des angeblichen Kampfes gegen die Klimakrise. Die Ökologie mag sich in einer Krise befinden, die Demokratie mag sich in einer Krise befinden, Friede und Gerechtigkeit mögen sich in einer Krise befinden ‒ aber nicht das Buch. Man konnte an der Frankfurter Buchmesse heuer bemängeln, dass das Gastland Slowenien im Vergleich zu früheren Gastlandauftritten kaum in den Vordergrund Mondreise Die Inszenierung von Offenbachs Werk überzeugt durch die Ausstattung und das Ensemble; mit Sofia Vinnik (Königin Popotte), Christoph Stocker (König Kosmos), Jaye Simmons (Flamma), Jugendchor. „ In andere Sphären entführte die Volksoper Wien mit ihrer ausdrücklich für Alt und Jung gedachten Produktion ‚Die Reise zum Mond‘. “ Am Sujet völlig vorbei Händels „Theodora“, im Original ein Oratorium, spielt vor dem Hintergrund der grausamen Christenverfolgung durch Kaiser Diokletian. Erzählt wird die Geschichte der zum Christentum konvertierten Titelheldin. Als Christin weigert sie sich, zu Kaisers Geburtstag Jupiter ein Opfer zu bringen, wohl wissend, dass sie deswegen mit einer Strafe rechnen muss. Der drohenden Prostitution kann sie entfliehen. Aber selbst das Angebot ihres Freundes Didymus, für sie in den Tod zu gehen, kann sie davor nicht retten. Im Gegenteil, am Ende werden sie beide ermordet. Hätten ernsthafte Diskussionen geholfen, diese Situation zu verhindern? Etwa geführt in einem Kaffeehaus, wo oft stundenlang unterschiedliche Auffassungen debattiert werden? Aus dieser Überlegung heraus hat Regisseur Stefan Herheim die Szenerie in das Ambiente des nachgebauten Wiener Café Central (Bühne: Silke Bauer) verlegt – der Name auch Synonym dafür, dass ein solches Geschehen überall denkbar ist –, hat die Personen, vom brutalen Statthalter Valens (wenig profund: Evan Hughes) abwärts, zum Kaffeehaus-Personal und den Chor zu Besuchern aus aller Welt umgedeutet. Eine weltliche, in die Gegenwart transferierte Sujet-Deutung mit einem unnötigen An- und Ausziehen-Ritual, woran sich auch die gewohnt exzellenten Mitglieder des Arnold Schoenberg Chors beteiligen müssen. Theodora kommt auf einem Billardtisch zu liegen. Am Ende werden Theodora und Didymus nicht ermordet, sondern vom Geschäftsführer (vulgo Statthalter) entlassen. Was aber hat diese verkopfte, unorthodoxe Lesart mit den Intentionen von Händels „Theodora“ zu tun? Und handelt es sich bei seiner Musik bloß um eine Aneinanderreihung von eintönigen Lamenti, wie es der als Opern dirigent debütierende einstige Countertenor-Star Bejun Mehta am Pult des wenig Glanz versprühenden La Folia Barockorchesters weismachen wollte? Die ausdrucksreiche Jacquelyn Wagner (Theodora) und der wendige Counter Christopher Lowrey (Didymus) dominierten das durchaus stimmig zusammengesetzte Solistenensemble. Und das Fazit? Was nützt eine noch so ausgeklügelte dramaturgische Absicht, wenn es nicht gelingt, sie auf der Bühne plausibel umzusetzen. So dringt man nie in die angestrebten neuen Sphären vor. Die Reise zum Mond Volksoper Wien, 1., 6., 14., 18.11, 7.12. Theodora MusikTheater an der Wien, 27., 29.10. gerückt wurde. Man konnte zurecht kritisieren, dass die Absage der Verleihung des LiBeratur-Preises an die Palästinenserin Adania Shibli ein falsches und rassistisches Signal war. Aber im Gesamten behauptet sich das Buch selbstbewusst und sicher. Während sich Zeitungen, Streamingdienste und die Musikindustrie in einer veritablen Krise befinden, verfügen Buch und Buchhandel nicht nur über einen gesunden Markt, sondern auch über jene Vielfalt, die den oben genannten Industrien fehlt. Und man freut sich doch, wenn man in dieser Welt, in der alles zusammenzubrechen scheint und sogar eine große Social-Media-Plattform durch die Raffgier eines einzigen Kapitalisten in den Abgrund gerissen wird, zu seinem Regal gehen kann, ein Buch herausnimmt und darin liest, wann und wo man will. Und das um wenig Geld. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser

DIE FURCHE 2024

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