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DIE FURCHE 25.10.2023

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DIE FURCHE · 43 14 Diskurs 25. Oktober 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Zwei oder drei, die zueinander finden Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Glauben heißt für mich Vertrauen auf Gʼtt – und ich verwende hier bewusst die jüdische Schreibweise in Solidarität mit meinen jüdischen Verwandten. “ Auch mich hat Ihr letzter Brief in einer Situation erreicht, die mich erschreckt, nein entsetzt und dann unfassbar wütend gemacht hat. Als ich das Display meines Laptops öffnete, knallten mir zwei Gestalten in die Augen, mit Sturmgewehren und Accessoires, wie es martialischer nicht geht. Welcher Teufel von Algorithmus hat mir diese abgrundtief zynische Werbung für ein Terrorismus-Videospiel zugespielt? In diesen Tagen – und überhaupt! Wo sitzt der Mensch, der letztlich dafür verantwortlich ist? Oder gibt es den gar nicht? Auch das, was uns sonst ganz alltäglich widerfährt, ist für mich zunehmend unerträglich: dass – so scheint es mir – in alle Inhalte, ob Nachrichten oder ein Symphoniekonzert, ständig Werbeclips hineingezwängt werden. Süße Babykost vor schrecklichen Terrorbildern. Ja, es ist Zwang, dem ich mich ausgesetzt fühle. Und ich weiß: Werbung steht nicht zur Disposition. Manchmal könnte ich mich vielleicht frei kaufen davon, also mit Schutzgeld, wie bei der Mafia. Aber das werde ich nicht. Lieber übe ich Abstinenz und begnüge mich mit Schimpfen und Seufzen. Oh, wie oft bin ich ohnmächtig und überfordert in dieser brave new media-world! Ihr Brief, liebe Frau Hirzberger, hat mich dann – Gott und Ihnen sei Dank – auf andere Gedanken gebracht. Sie schreiben, Glaube brauche keine Religion. Ich bin grundsätzlich – und etwas holzschnittartig – Ihrer Meinung. Vor allem, wenn ich unter Religion installierte Organisationen mit Machtstrukturen und als einen abgegrenzten Bereich von Frömmigkeit und elitärem Selbstbewusstsein erlebe. Es mögen mich alle Theologen und Theologinnen (na, die vielleicht eh weniger!) einen Ketzer nennen, wenn ich – wieder holzschnittartig – behaupte, dass Jesus von Nazaret gekommen ist, um diese Art von Religion abzuschaffen. Eine Religion, die stets auf ein dogmatisches Fundament verweist. – Wenn ich aber versuche, Religion als religio, also als Bindung an das Transzendente zu verstehen, dann spüre ich allerdings ein menschliches Grundbedürfnis darin. „Unruhig ist unser Herz…“, Sie wissen ja, wie der Satz bei Sankt Augustin vollendet wird. Es hat in meinem Leben eine Zeit gegeben, da habe ich mir ein „religionsloses Christentum“ nicht vorstellen können. Bis ich auf die Schriften und Briefe von Dietrich Bonhoeffer gestoßen bin. Er gehört zu den Menschen, die ihr Leben für eine geistige – heißt auch politische – Freiheit hingegeben haben. Sie sind mir kreditwürdig. Ihnen glaube ich. Bonhoeffer gehört dazu. Gott als Lückenbüßer für die rückhaltlosen Fragen, die ich jetzt noch nicht lösen kann, das hat Bonhoeffer als „Religion“ bezeichnet. Und abgelehnt. Glauben hingegen, recht verstanden, heißt für mich Vertrauen auf G’tt – und ich verwende hier bewusst die jüdische Schreibweise, in Solidarität mit meinen jüdischen Verwandten. Glauben heißt Lieben. Klingt zwar fromm, ist aber nur konsequent. Kirche ist dann kein Ort mehr des Dogmas, sondern der Begegnung und des miteinander Gehens. Wenigsten von zwei oder drei, die zu einander finden. Im Übrigen hat es mich sehr gefreut, dass Sie uns in unserer Korrespondenz „irgendwie ein Team“ genannt haben. Schöne Grüße aus dem Nebel! Von Heribert Schiedel Schon der historische Antikapitalismus war In FURCHE Nr. 45 Antisemitismus bis zu dem Moment, als er zur Kritik 3800 7.November 2002 der politischen Ökonomie systematisiert wurde. Subtiler Antisemitismus: „Nicht nur in der rechten Reichshälfte: So hört man heute die Parole ‚Kampf dem internationalen Finanzkapital‘ auf Neonazi-Kundgebungen ebenso wie bei den Demos der Globalisierungsgegner“, schrieb der Autor Heribert Schiedel in der FURCHE 2002. Sein Text über die historisch gewachsene Komplexität des Antisemitismus, der sowohl von links als auch von rechts kommen kann, ist gerade jetzt wieder aktuell. Der Antisemitismus nach Auschwitz wird als einer ohne Juden und Jüdinnen analysiert. Damit wird auch der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis Rechnung getragen, wonach ein umgekehrter Zusammenhang besteht zwischen der Anzahl von Juden und Jüdinnen in der unmittelbaren Wohnumgebung und der Verbreitung von antisemitischen Ressentiments. Diese sind dort am verbreitetsten, wo deren Objekte nicht (mehr) leben, also in ländlichen Regionen. Die Empirie deckt sich hier mit der Theorie, wonach der Antisemitismus seine Ursachen eben nicht in der Anwesenheit der Juden und Jüdinnen oder in deren Eigenschaften und Verhalten hat. Vielmehr ist die Ursachenforschung zum und in das antisemitische(n) Subjekt zu verlegen. Zwischen den Zeilen [...] Aber auch der antisemitische Diskurs selbst kommt heute ohne direkt als solche bezeichnete Juden aus. Das Feindbild wird nicht mehr beim Namen genannt, sondern auf vielfältige Art und Weise umschrieben. Der Antisemitismus nach 1945 entwickelte eine spezifische Geheimsprache, ein System von Codes. [...] Das frivole Spiel mit „jüdischen“ Namen, welchen die Eigenschaft eines Stigmas zukommt, gehört zu den zentralen Elementen dieser Geheimsprache. Antisemiten pflegten etwa den damaligen Unterrichtsminister Rudolf Scholten „Pfefferkorn“ zu nennen. [...] Neben der neuerlichen Stigmatisierung durch die bloße Nennung von Namen haben wir hier fast alle Figuren des indirekten antisemitischen Diskurses vereint: Mit dem Adjektiv international soll ebenfalls auf die Fremdheit der ruhelos umherziehenden Juden und Jüdinnen verwiesen werden. Die stellvertretenden Bezeichnungen als Geldherren, Banker und Spekulanten knüpfen an die antisemitische Tradition der Identifizierung von Juden und Jüdinnen mit der Zirkulationssphäre an. [...] Auch Globalisierungsgegner Bis heute stellt sie den Kern eines Antikapitalismus von rechts dar. Tatsächlich kann man die Parole „Kampf dem internationalen Finanzkapital“ heute nicht nur auf linken Demonstrationen finden, auch deutsche Neonazis halten sie am 1. Mai hoch. Schon der historische Antikapitalismus war Antisemitismus. [...] Karl Marx selbst personifiziert diese Entwicklung: Zum Zeitpunkt der Foto: iStock/aluxum Abfassung seiner umstrittenen Schrift „Zur Judenfrage“ (1843) verfügte er noch nicht über das analytische und begriffliche Rüstzeug, um den Kapitalismus vollständig zu erfassen, und setzte statt dessen diesen mit dem „Judentum“ gleich. Heute, da diese Kritik des Kapitalismus als Strukturprinzip weitgehend ersetzt wurde [...] droht der Antikapitalismus wieder zu werden, was er war. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Philipp Axmann, Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. 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DIE FURCHE · 43 25. Oktober 2023 Diskurs 15 Der Linzer Moraltheologe Michael Rosenberger hat das neue Mahnschreiben Laudate Deum von Franziskus vorgestellt – dabei aber dessen scharfe Kapitalismuskritik ausgespart. Ein Gastkommentar. „Ein Papst schreit auf“ – und man hört nur partiell In der Darstellung des neuen Dokuments Laudate Deum (LD) von Papst Franziskus durch Michael Rosenberger, u.a. Umweltbeauftragter der Diözese Linz, ist besonders aufschlussreich, was nicht erwähnt wird: nämlich die klare Kritik des Papstes an der Logik der dominierenden ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung, des Kapitalismus (vgl. FURCHE Nr. 41, Seite 9). Diese Kritik setzt die Linie des Vorgängerdokuments Laudato si’ und anderer Erklärungen fort, ja verschärft sie. Papst Franziskus stellt sehr direkt fest: „Bedauerlicherweise ist die Klimakrise nicht gerade eine Angelegenheit, die die großen Wirtschaftsmächte interessiert, die sich um den höchstmöglichen Profit zu den geringstmöglichen Kosten und in der kürzestmöglichen Zeit bemühen.“ (LD 13) Und er bekräftigt seine Kritik am „technokratischen Paradigma“ in der Enzyklika Laudato si’, indem er das Dokument zitiert: Es bestehe darin, „so zu denken, ,als gingen die Wirklichkeit, das Gute und die Wahrheit spontan aus der technologischen und wirtschaftlichen Macht selbst hervor‘ (LS 105). ‚Von da aus gelangt man‘ – als logische Konsequenz – ‚leicht zur Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums, das die Ökonomen, Finanzexperten und Technologen so sehr begeisterte‘ (LS 106).“ (LD 20) Der Zwang zu ständigem Wachstum ist ein Kernprinzip des kapitalistischen Systems, das an die Grenzen der Belastbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch der sozialen Grundlagen des Zusammenlebens stößt. Dass die Grenzen bereits überschritten sind, wird am massiven Artensterben und am Kollaps des planetaren Klimasystems deutlich. Foto: Donau-Universität Krems DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Ernst Fürlinger „ Der größte Teil der katholischen Kirche ist nach wie vor nicht bereit, dem Papst zu folgen, der die Systemfrage stellt. “ keiten.“ (LD 22) Papst Franziskus wendet sich gegen eine solche Haltung: „Entgegen dieses technokratischen Paradigmas sagen wir, dass die Welt um uns herum kein Objekt der Ausbeutung, der ungezügelten Nutzung und unbegrenzter Ambitionen ist.“ (LD 25) Der Spaltung „Mensch“ und „Natur“ gegenüber wiederholt er die Tatsache, die sich bereits durch Laudato si’ gezogen hatte: „Alles ist miteinander verbunden.“ (LD 19) Die französischen Historiker Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz („The Shock of the Anthropocene“, 2016) haben herausgearbeitet, dass diese Reduktion, die künstliche Schaffung einer externen, passiven Natur, die ausgebeutet werden kann, von Vertretern des frühen Industrialismus gezielt intendiert war - als weltanschauliche Voraussetzung für den Aufschwung der kapitalistischen Wirtschaft. Naturverständnis und Wirtschaftsform sind also eng verzahnt. Papst Franziskus wiederholt den Befund aus Laudato si’, dass der Mensch der Macht, die mit dem Versuch der technologischen Naturbeherrschung verbunden ist, ethisch und kulturell nicht gewachsen ist. „Es ist nicht verwunderlich, dass eine so große Macht in solchen Händen in der Lage ist, Leben zu zerstö- Reduzierung der Natur auf ein Objekt Die kapitalistische Ordnung ist Teil des umfassenden Paradigmas, das sich in Europa entwickelt und von dort aus seinen weltweiten Siegeszug angetreten hat. Zu diesem Paradigma gehört die Reduzierung der Natur auf ein Objekt, auf eine Ressource, die nur der menschlichen Macht zu Diensten ist (vgl. LD 22). „Alles, was existiert, hört auf, ein Geschenk zu sein, das man würdigt, schätzt und pflegt, und wird zum Sklaven, zum Opfer einer beliebigen Laune des menschlichen Geistes und seiner Fähigren, während die Denkmatrix des technokratischen Paradigmas uns verblendet und uns nicht erlaubt, dieses äußerst ernste Problem der gegenwärtigen Menschheit wahrzunehmen.“ (LD 25) Diese Verblendung versucht der Papst zu durchbrechen, indem er auf die Tiefendimension der ablaufenden Katastrophe hinweist, u.a. auf die Folgen für die natürlichen Lebensgrundlagen: „Die Logik des maximalen Profits zu den niedrigsten Kosten, verschleiert als Rationalität, als Fortschritt und durch illusorische Versprechen, macht jede aufrichtige Sorge um das gemeinsame Haus und jede Sorge um die Förderung der Ausgestoßenen der Gesellschaft unmöglich.“ (LD 31) Ist Franziskus etwas „Anstößiges“ passiert? Auf diese Betonung der systemischen Ursachen der gegenwärtigen Katastrophen – die „Krisen“ zu nennen euphemistisch ist – läuft die Erklärung des Papstes hinaus. Genau diesen Punkt in einer Vorstellung des Textes zu übergehen – als wäre dem Papst da etwas Anstößiges, intellektuell Unredliches passiert, das man lieber verschweigt –, ist Teil des Problems: Der größte Teil der katholischen Kirche – nicht nur in Österreich – ist nach wie vor nicht bereit, hier der prophetischen Kritik ihres Oberhaupts zu folgen, der die Systemfrage stellt. Ja: „Ein Papst schreit auf“ – man hört jedoch nur einen Teil davon. Es wäre aber wichtig, dass gerade die Umweltbeauftragten der katholischen Kirche sich nicht mit einer ökologischen Modernisierung begnügen, die innerhalb des Wachstums-Paradigmas bleibt, sondern in dieser entscheidenden Frage mit Franziskus mitgehen. Es geht darum, allen Mut, alle Kreativität und allen Sachverstand zu mobilisieren, um seitens der Kirche im Austausch mit Wissenschaft und Transformationsbewegungen zur Beantwortung der drängendsten Frage unserer Epoche beizutragen: Wie könnte eine wirklich nachhaltige, gerechte, zukunftsfähige Marktwirtschaft und Gesellschaft im Rahmen einer demokratischen Ordnung und offenen Gesellschaft aussehen? Der Autor ist katholischer Theologe, Religionswissenschaftler und Mitarbeiter bei „Religions For Future Vienna“. ZUGESPITZT Krieg und Flöten Dieses Jahr bekommen burgenländische Zweitklässler vom Land (wieder) eine Gratis-Flöte geschenkt. Während die Lehrerinnen und Lehrer über den zusätzlichen „Mehraufwand“ jammern, sorgt sich die ÖVP im Burgenland um das Haushaltsbudget und fragt: „Geht sich das aus?“ Doskozil gebe viel Geld für Ankündigungen aus, etwa eine Flöte und ein Paar Schi für Kinder, obwohl das Land laut Landesrechnungshof 1,8 Milliarden Euro an Schulden habe, sagte ÖVP-Landesparteiobmann Christian Sagartz kürzlich bei einer Pressekonferenz. Dass man in Kinder investiert, ist tatsächlich ein Skandal! Doch schon die Geschichte beweist: Ein Landesfürst zeigt seine wahre Größe in seiner Leidenschaft für die Musik. Schon der Preußenkönig Friedrich der Große war ein begnadeter Flötist. Neben seiner bescheidenen Tätigkeit als König machte er seinen Hof trotz verschiedener Kriege zu einem der bedeutendsten Musikzentren seiner Zeit. Er komponierte mehr als 120 Flötensonaten und nahm sein Instrument sogar mit in die Schlacht. Auch in Zeiten des Krieges darf man die Hochkultur nicht vergessen, liebe ÖVP. Lieber flöten als flöten gehen. Manuela Tomic NACHRUF Umstrittener Diener nicht nur des Staates Wer Christian Pilnacek zuletzt zufällig in Wien auf der Straße begegnete, dem fiel die prall gefüllte, augenscheinlich schwere Aktentasche auf, die er regelmäßig mit sich trug. Als ob er immer noch die Strafgesetzgebung der Republik, die er „meine Heimat“ nannte und für die er dreißig Jahre im Justizministerium maßgeblich, leidenschaftlich und visionär reformerisch verantwortlich zeichnete, mit sich trüge. Der Mann trug auch schwer an seiner Suspendierung als Sektionschef, bekämpfte diese seit zweieinhalb Jahren mit der ihm eigenen Verve und juristischen Brillanz, die ihm selbst seine schärfsten Kritiker attestierten. Und war dabei teilweise erfolgreich, wie der Freispruch in einem Verfahren wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses zeigt. Sein Einsatz, wieder in „sein Amt“ zurückkehren zu können, wunderte niemanden, der Pilnacek noch als Chef seiner „Supersektion“ (Straflegistik und Fachaufsicht für alle Staatsanwaltschaften) bei Vorträgen oder Hintergrundgesprächen erlebte. Da staunte man über einen Vollblutjuristen, dem man gerne zuhörte und abkaufte, dass er „mit Herzblut“, wie er selbst sagte, „Praxisbezogenheit und Gesetzgebung“ unter einen Hut zu bringen versuchte. Die 2021 veröffentlichten Chatprotokolle seiner Handy-Korrespondenz zeichneten aber noch ein weiteres Bild von ihm. Statt des über den Parteien stehenden Spitzenbeamten zeigte sich Pilnaceks Parteilichkeit zugunsten türkiser Spitzenpolitiker. Die Allgemeinheit müsse darauf vertrauen können, so die Bundesdisziplinarbehörde, dass Beamte unparteiisch agieren. Pilnaceks Handlungen seien dazu geeignet gewesen, dieses Vertrauen zu erschüttern. Diese Verletzung der Dienstpflicht in Kombination mit versuchter Vetternwirtschaft und dem Abkanzeln von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs kosteten ihn sein Amt – und viel von seiner Reputation. Wer die Zeitungsartikel der letzten Jahre zur Causa Pilnacek, zu diesen und anderen Chatprotokollen liest, findet am Ende jedes Beitrags den Stehsatz: „Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.“ Einer dieser Genannten ist auch Altkanzler Sebastian Kurz. Der leitete den zweiten Tag des Strafprozesses gegen ihn am vorigen Freitag mit der Nachricht vom überraschenden Tod des 60-Jährigen ein und würdigte dessen Expertise, die Österreichs Justizsystem stärkte: „Er war ein wahrer Diener des Staates.“ Stimmt. Aber leider nicht nur. (Wolfgang Machreich) Foto: APA / Georg Hochmuth Christian Pilnacek (1962–2023) wurde Freitag vergangener Woche tot aufgefunden. Zur Klärung der Todesursache wurde eine Obduktion angeordnet.

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