4 Das Thema der Woche Das Spiel mit dem Feuer DIE FURCHE · 30 25. Juli 2024 Hunderte Millionen schalten bei Olympia den Fernseher ein. Warum fasziniert uns Sport so? Und welche philosophischen Perspektiven gibt es auf ihn? Sportethiker Paul Tarmann über Fairness und Spielfluss. „Der Videoschiedsrichter widerspricht dem Sportgeist“ FORTSETZUNG VON SEITE 3 zweitmeisten Medaillen gewonnen. Nach der Zahl der Goldmedaillen lag Russland hinter Österreich auf dem neunten Platz. So eine Propaganda würde Putin bei jedem Sporterfolg unverändert betreiben. Selbst wenn alle Russen nackt statt in Nationaldressen starten müssten. Das einzige Regulativ, um das zu verhindern, ist banaler: Man hat mit der Zulassung russischer Athleten geschickt so lange gewartet, bis in vielen Sportarten eine Qualifikation schwierig bis unmöglich war. „ Olympia von Nichtdemokratien zu befreien, würde die Heimschickung einer klaren Mehrheit der Teilnehmerländer bedeuten. “ Der Aktivismus des IOC für die eigenen Ziele beschränkt sich daher im besten Fall auf allgemeine „Bitte kein Krieg!“-Bekundungen. Warum es nicht besser wird? In Wahrheit befinden sich das IOC und alle Nationalen Olympischen Komitees in einem Dilemma. An den Spielen nehmen über 200 Länder teil. Es gibt jedoch auf der Welt je nach Strenge der Definition nur bis zu höchstens 70 oder 80 Demokratien. Den olympischen Sport von Nichtdemokraten zu befreien, würde nicht bloß das Spektakel der Spiele verunmöglichen, sondern die Heimschickung einer klaren Mehrheit der Teilnehmerländer bedeuten. Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Karl Franzens-Universität Graz und der Universität für Weiterbildung Krems. Olympia Die Spiele als Bühne für Sport und Politik Von Peter Filzmaier. Brandstätter 2024 184 S., geb., € 25,95 Nächste Woche im Fokus: Das Gespräch führte Philipp Axmann Bloß aus Liebhaberei sollen wir Sport treiben. Das fordert der Philosoph und Sportethiker Paul R. Tarmann. Im Gespräch erklärt er, warum Gladiatorenkämpfe kein Sport sind, warum wir ihn nicht weiter digitalisieren sollten und was am „Sieg um jeden Preis“ problematisch ist. DIE FURCHE: Was untersucht die Sportethik? Paul R. Tarmann: Sie verbindet Disziplinen wie Sport-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft bis hin zur Juristerei. Der Untersuchungsgegenstand sind einerseits die Sportler, Teams, Trainer und Betreuer, andererseits auch die Vereine, die Medien und die Fankultur. Wir können sportethische Überlegungen auf zwei Ebenen ansiedeln: individualethisch, wenn wir etwa die einzelne Sportlerin ins Zentrum rücken, oder sozialethisch, wenn wir uns Systeme als Ganze ansehen. Ganz grundlegend beginnt die Sportethik mit der Frage: Was ist überhaupt Sport? DIE FURCHE: Und was ist er? Tarmann: Sport ist auf der einen Seite Spiel und auf der anderen Seite Kampf. Den Spielcharakter erhält er durch die klaren Regeln. Wir können uns ja auch kein Brettspiel vorstellen, das keine Regeln hat. Außerdem gehört es zum Wesen des Sports, dass er prinzipiell folgenlos für Leib und Leben sein soll. Ein Gladiatorenkampf ist kein Sport mehr. Natürlich kann aber auch bei unserem Sport etwas passieren, das ist aber eben nicht Ziel des Sports. Dazu kommt beim Sport noch eine gewisse Forderung nach Chancengerechtigkeit und Fairness. DIE FURCHE: Immer wieder ist, etwa im Fußball, von der „Spielphilosophie“ eines Trainers die Rede. Was ist das? Tarmann: Das ist meist eher enttäuschend. Wenn wir uns die Homepage eines beliebigen Unternehmens ansehen, finden wir dort auch oft eine „Firmenphilosophie“. Das ist aber meist nicht mehr als eine bloße Strategie, um konkrete Ziele zu erreichen. Bei Fußballvereinen ist es ähnlich. Philosophisch würde man eher fragen: Wie soll Sport aussehen, wie nicht? DIE FURCHE: Haben Sie Vorschläge? Tarmann: Wir können etwa die Frage nach dem Geld im Sport stellen: FIFA-Präsident Gianni Infantino meinte, es gehe dem Fußball so gut wie noch nie, weil jetzt so viel Geld im Spiel sei. Doch tut das dem Sport wirklich gut? Das Geld führt auch dazu, dass es immer mehr um einen Sieg um jeden Preis geht statt um spielerischen Wettkampf. Teil des Problems ist auch der Singulärsiegerkult, also dass es einen – auch finanziell – riesigen Unterschied zwischen dem ersten, zweiten oder gar dem zehnten Platz in einem Turnier gibt. DIE FURCHE: Darf man nicht gewinnen wollen? Tarmann: Natürlich darf – ja soll – man sogar gewinnen wollen. Leistung ist ein zentraler Begriff im Sport. Erfolge sind ein legitimes Ziel. Und es macht die Faszination des Sports unter Wissenschaft, Politik, Medien: Sie ringen um Vertrauen, eine der wertvollsten und rarsten Ressourcen unserer Zeit. Warum fällt es Menschen immer schwerer, an das wohlwollende und aufrichtige Gegenüber zu glauben? Und welche Konsequenzen hat das kollektive Misstrauen für die Gesellschaft? DIE FURCHE: Kann Sport überhaupt fair sein, wo wir doch alle unterschiedlich talentiert sind? Tarmann: Niemand hat ein Anrecht auf den Sieg. Ich kann nicht sagen: „Ich fühle mich diskriminiert, weil jemand anderer schneller ist als ich.“ Die Niederlage ist ein wesentlicher Bestandteil des Sports, ja des menschlichen Daanderem aus, dass wir hier sehen, was für Menschen alles möglich ist, welches Potenzial wir haben. Das zeigen Verbiegungen in der Akrobatik, Laufleistungen, Weitsprünge. Das olympische Motto lautet citius, altius, fortius, also etwa „schneller, höher, stärker“. Das ist ein schönes und beachtenswertes Ziel für die persönliche Entwicklung des Einzelnen. Da sind wir aber noch weit entfernt von Extremen und Sensationsgier. DIE FURCHE: Gibt es eine Philosophie des Sports? Tarmann: Was es gibt, ist ein Sportgeist. Wir sprechen da von der Eigenwirklichkeit, der Selbstzweckhaftigkeit des Sports. Natürlich kann es im Sport politisches und wirtschaftliches Interesse geben, aber er ist eben auch Selbstzweck: Sport um des Sports willen. Paul R. Tarmann ist Professor für Philosophie und Ethik an der KPH Wien/ Krems und Senior Research Fellow an der Uni Wien. „ Der Reiz des Sports ist, dass es klare Regeln und einen Schiedsrichter gibt, der Vergehen bestraft. Diese Sehnsucht haben wir in Zeiten von Krieg und Katastrophen auch im echten Leben. “ DIE FURCHE: Sie haben schon Chancengerechtigkeit angesprochen. Was ist überhaupt fair? Tarmann: Fairness beginnt bei der Regeleinhaltung. Aber auch das ist schon umstritten, denn wenn etwa jemand im Fußball eine gelbe Karte dafür bekommt, beim Torjubel sein Trikot ausgezogen zu haben, können wir schon fragen: Ist diese Regel wirklich sinnvoll? Über die formelle Fairness hinaus gibt es noch die informelle Fairness, das ist das „Mehr an Menschlichkeit“, das über die Regeln hinausgeht. Zum Beispiel wenn bei einem Radrennen jemand stürzt und ein nachfahrender stehen bleibt und damit seine eigenen Siegeschancen aufs Spiel setzt. Außerdem geht es dabei um Respekt, etwa sich die Hand zu geben vor dem Spiel. Foto: Tarmann seins. Erst durch Niederlagen finde ich heraus, worin ich gut bin, wo meine Nische sein könnte. Natürlich haben Topathleten großartige körperliche Voraussetzungen, aber auch sie haben Schwächen. Usain Bolt – der den Weltrekord im Sprint über hundert Meter hält – ist 1,95 Meter groß. Der Marathonweltrekordhalter Eliud Kipchoge misst gerade einmal 1,67 Meter. Keiner von ihnen hätte in der Disziplin des anderen eine Chance. Ich finde das nicht unfair. DIE FURCHE: Beim Fußball haben wir einen Videoschiedsrichter (VAR), beim Fechten wird jeder Schlag elektronisch gemessen. Was sagen Sie ethisch zur Technisierung des Sports? Tarmann: Der VAR trägt definitiv zu mehr Fairness bei. Aber für den Spielfluss ist er schlecht. Vor allem aber widerspricht der VAR dem klassischen Sportgeist: Durch Digitalisierung wird versucht, alles noch mehr zu optimieren. Die Laufleistung jedes Spielers wird kontrolliert, jede Aktion wird zum Datensatz. Ursprünglich schätzen wir am Sport ja, dass der Mensch zu körperlichen Höchstleistungen motiviert wird, unabhängig von digitaler Optimierung. Außerdem kann sich nicht jedes Land, jeder Verein, jede Liga den VAR leisten. DIE FURCHE: Bei Olympia treten eigentlich einzelne Athleten an – trotzdem wird es oft als Kampf zwischen Ländern dargestellt. Ist das noch legitim? Tarmann: Es ist schön und legitim, sich mit dem Land zu identifizieren, aus dem man kommt oder in dem man wohnt. Das ist Patriotismus. Problematisch wird es beim Nationalismus, der nicht nur das eigene Land liebt, sondern andere schlechter macht und das eigene überhöht. Wir können bei Olympia hinterfragen, ob der ländervergleichende Medaillenspiegel noch sein muss. Ob die USA oder China mehr Goldmedaillen haben, macht keines zu einem „besseren“ Land. Als integratives Moment kann bei Olympia dafür dazukommen, dass Menschen mit Migrationshintergrund etwa für Österreich antreten – und ihnen das ganze Land die Daumen drückt. DIE FURCHE: Was ist die Philosophie von Olympia? Tarmann: Grundlegend ist der pädagogische Gedanke des „Höher, schneller, stärker“: an sich selbst zu arbeiten, an der Selbstvollkommnung. Zentral ist auch die sogenannte Amateurgesinnung. Das Wort „Amateur“ geht auf den „Liebhaber“ zurück. Sport sollen wir also aus Liebhaberei, aus Leidenschaft treiben – und nicht, weil wir um jeden Preis gewinnen wollen. Und letztlich haben die Spiele auch etwas Völkerverbindendes, bringen hunderte Länder zusammen, um den Sport zu feiern. Beim olympischen Frieden müssen wir natürlich kritisch hinterfragen: Warum halten sich dann nicht alle daran? Aber das entwertet ihn als Ideal nicht. DIE FURCHE: Hunderte Millionen haben die EM verfolgt, ebenso viele werden bei Olympia einschalten. Warum fasziniert uns Sport so? Tarmann: Weil es im Sport eine schöne, heile Welt gibt. Es gibt klare Regeln, und es gibt jemanden – den Schiedsrichter –, der für ihre Befolgung sorgt. Diese Sehnsucht haben wir ja auch im echten Leben, gerade in Zeiten von Kriegen und Katastrophen: Dass da jemand mit der Trillerpfeife steht und Vergehen bestraft, der gelbe und rote Karten verteilt. Das ist natürlich ein utopisches Ideal. Außerdem ist der Sport eine positive Zuflucht. Wir müssen momentan leider viele negative Nachrichten lesen, da kann es ein kleiner Glücksmoment sein, wenn mein Verein ein Spiel gewinnt. Insofern ist Sport ein Teil der Kultur, der wie die Kunst eine Zuflucht aus dem Alltag bietet.
DIE FURCHE · 30 25. Juli 2024 Politik 5 Collage: R M (unter Verwendung von Bildern von iStock/spastonov, /sasar, /JacobH, /Luftklick, / Ralf Geithe, /Alfonso Sangiao und /D-Keine) Von Ulrich Wagrandl Wenn wir von Demokratie reden, meinen wir nicht irgendeine, sondern unsere. Sie ist nicht durch ungebundene Mehrheitsherrschaft bestimmt, sondern durch Rechtsstaatlichkeit. Rechtsstaat bedeutet dabei nicht einfach law and order. Er richtet sich primär an den Staat selbst. Er verlangt, dass Staatsgewalt nur aufgrund der Verfassung und der Gesetze ausgeübt wird, dass dies von unabhängigen Gerichten kontrolliert wird und dass die Grundrechte aller Menschen eingehalten werden. Eine rechtsstaatliche Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes unter der Bedingung der Herrschaft des Rechts. Die ungewählten Richter Diese zwei Elemente stehen in Spannung: Wenn Rechtsstaat die Begrenzung und Kontrolle von Herrschaft bedeutet, Demokratie aber Volksherrschaft meint, setzt sich der Rechtsstaat dem Vorwurf aus, undemokratisch zu sein. Nirgendwo ist das deutlicher als in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie kann es sein, dass nicht gewählte Richter Gesetze aufheben, die von einer Mehrheit beschlossen wurden? In einer rechtsstaatlichen Demokratie kann das sein, weil der demokratische Gesetzgeber an das Recht gebunden ist. Und doch ist es nicht verwunderlich, dass Höchstgerichte dafür kritisiert werden, „am Volk vorbei“ Politik zu betreiben. Der Verfassungsgerichtshof wird respektiert und meist verschont. Bei internationalen Gerichtshöfen, die weiter weg und unbekannter sind, (jenem der EU – EuGH; und jenem des Europarats – EGMR) wird der Ton rauer: Die Brexit- Kampagne sprach von der Herrschaft ausländischer Richter. Die Idee, aus der Europäischen Men Der Rechtsstaat gewinnt vielerorts an Macht, während der Wille des Volkes in den Hintergrund rückt. Illiberale Bewegungen nutzen dieses Ungleichgewicht für ihre Zwecke. Von Illusionen und Symbiosen schenrechtskonvention auszutreten, basiert auf dem Vorwurf, der EGMR interpretiere sie zu weit und schränke die Nationalstaaten ein. Die europafreundliche Judikatur des EuGH führe zu einer politisch kaum beeinflussbaren Bevorzugung des Unionsrechts, dessen Erzeugung schwächer demokratisch legitimiert ist als die des nationalen. Unsere rechtsstaatliche Demokratie wächst daran, diese Spannungsverhältnisse immer wieder auszutarieren. Es ist möglich, Demokratie ohne rechtliche Einhegung zu denken. Umgekehrt ist Rechtsstaat ohne Demokratie möglich: Die gerichtliche Kontrolle, ob der Staat die Gesetze einhält, hängt nicht davon ab, dass die Gesetze demokratisch beschlossen werden. So konnte man Österreich ab der Dezemberverfassung von 1867 als Rechtsstaat bezeichnen: Seit damals sind Grundrechte und Kontrolle der Staatsgewalt durch Gerichte garantiert. Den Namen Demokratie verdient Österreich erst mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918/19, als alle in gleicher Weise Teil des demokratischen Volkes wurden. Diese Entwicklung ist nicht unumkehrbar, wie man an der illiberalen Demokratie sieht. Nimmt man dieses Konzept ernst und tut es nicht als populistische Vernebelungstaktik ab, zeigt sich: Der demokratische Teil der rechtsstaatlichen Demokratie wird gegen ihren rechtsstaatlichen ausgespielt. Die rechtliche Begrenzung des Mehrheitswillens durch Verfassungen und unabhängige Gerichte, durch völkerrechtliche Verpflichtungen und Unionsrecht wird als undemokratischer Angriff auf die Volkssouveränität und den „wahren“ Willen des „wahren“ Volkes dargestellt. Die Verteidiger der rechtsstaatlichen Demokratie geraten in die Versuchung, ihrerseits den Rechtsstaat gegenüber der Demokratie zu überhöhen: Sie sehen von Populisten „verführte“ und von Hass getriebene Menschen, denen man Einhalt gebieten muss. Deshalb werden umso mehr Kompetenzen für EU-Organe, Verfassungsgerichte und unabhängige Behörden gefordert, die dem Mehrheitswillen nicht unterliegen. Das nehmen die Illiberalen als Beweis, dass die Liberalen diese Institutionen nur für ihre eigene Agenda benutzen. Daher wird versucht, diese Institutionen zu kapern, was man an der hyperpolitisierten Ernennung der Richter des US Supreme Court regelmäßig beobachten kann. Die Liberalen sehen im Angriff auf die zentralen Institutionen einen solchen auf die Demokratie selbst. Souveränität als Vorwand In dieser zugespitzten Situation müssen wir auf der Verbindung von Demokratie und Rechtsstaat bestehen, also eine unrechtsstaatliche Demokratie genauso ablehnen wie einen undemokratischen Rechtsstaat. Eine Demokratie ohne Verfassung, Gewaltenteilung, unabhängige Institutionen und Menschenrechte wäre eine Tyrannei der Mehrheit. Eine Tyrannei der Minderheit darf es aber ebenfalls nicht geben. Mit diesem Begriff haben Stephen Levitsky und Daniel Ziblatt beschrieben, wie „ Eine Demokratie ohne Verfassung, Gewaltenteilung, unabhängige Institutionen und Menschenrechte wäre eine Tyrannei der Mehrheit. “ vom Mehrheitswillen unabhängige Institutionen (Höchstgerichte, aber etwa auch zweite Parlamentskammern) zum Einzementieren nicht legitimer Herrschaftspositionen genutzt werden können. Die wiederkehrende, freie und gleiche Wahl ist ein Mittel gegen beide Arten der Tyrannei: Sie garantiert, dass sich Mehrheiten ändern und die Mächtigen kontrolliert werden können. Dafür muss die Wahl aber funktionieren, was nur mit den entsprechenden Institutionen gelingt. Nur Institutionen lassen Demokratie Wirklichkeit werden. In der Demokratie kann das Volk nicht selbst herrschen. Soll Volkssouveränität mehr sein als bloßer Vorwand für charismatische Anführer, kann das nur über rechtlich geregelte Organisationen Lesen Sie auch „70 Jahre Menschenrechtsgerichtshof“ (30.4.24) von Christoph Grabenwarter auf furche.at. funktionieren. Verfassungen sind damit nicht nur Grenze, sondern auch Grundlage demokratischer Herrschaft. Gäbe es keine Verfassung, die Wahlen vorsieht, die Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgane schafft und deren Aufgaben definiert, könnte sich der Volkswille nie in einer handhabbaren Weise äußern. Zudem garantiert die Verfassung Menschenrechte, ohne die Demokratie Illusion bliebe. Die Meinungs-, die Presse- und die Vereinigungsfreiheit verbieten dem Staat – das bedeutet: der jeweiligen Mehrheit –, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen. Besonders die politische Minderheit ist darauf angewiesen, um ohne Angst vor Verfolgung die Mehrheit herauszufordern und dafür werben zu dürfen, selbst zur Mehrheit zu werden. Ein Verfassungsgericht, das über all das wacht, wird damit zum Hüter der Demokratie. Unser Bundes-Verfassungsgesetz sieht diese Symbiose in Artikel 1 vor: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Demokratische Herrschaft muss rechtlich, damit rechtsgebunden sein, das Recht wiederum muss demokratisch entstehen. Dieser Konnex wird in Artikel 18 weiter entfaltet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden.“ Der Clou liegt im Wörtchen „aufgrund“, das einen Totalvorbehalt des Gesetzes meint: Die Verwaltung – kurz: der Staat – darf das und nur das, was ihr durch Gesetz erlaubt wurde. Damit sind die Gesetze des Parlaments, also demokratisch beschlossene, gemeint. Diese Gesetze müssen sich an der Verfassung messen. Wie die Verwaltung demokratischer Steuerung und rechtsstaatlicher Kontrolle unterliegt, ist auch die Gesetzgebung der Aufsicht darüber unterworfen, ob sie die Verfassung einhält, die selbst wiederum nur Ausdruck demokratischer Volksherrschaft ist. Anzeichen einer Gegenströmung Zwischen Demokratie und Rechtsstaat muss man nicht wählen; wir wollen und brauchen beides. Wo das Schwergewicht liegt, hat sich in den vergangenen Jahren verschoben: eher demokratischer Rechtsstaat als rechtsstaatliche Demokratie. Die Anzeichen einer Gegenströmung in Richtung illiberale Demokratie verdichten sich. Sie als Symptom einer „Entdemokratisierung der Demokratie“ zu verstehen, der wir ebenso begegnen müssen, wie der Politikwissenschafter Philipp Manow schreibt, könnte bei der unvermeidlichen Weiterarbeit an unserer rechtsstaatlichen Demokratie ein erster Anhaltspunkt sein. Der Autor ist Jurist und forscht an der Wirtschaftsuniversität Wien unter anderem zu Staats- und Verfassungsrecht.
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE