DIE FURCHE · 30 20 25. Juli 2024 Illu: RM Von Manuela Tomic Spinnlein MOZAIK Seit Wochen beäugt mich morgens beim Kaffeetrinken ein herrisches Spinnlein. Über dem kleinen Ecktisch in meiner Küche hat es eifrig sein tückisches Netz gesponnen und hält Wasserkocher, Küchenrolle und das Glas mit den Frühstücksflocken gefangen. Mit einem Bücherstapel konnte ich gerade noch meine Festung auf der anderen Seite des Tisches sichern. „Bis hierher und nicht weiter, mein Liebchen!“ Das achtäugige Haustier lässt sich weder von gedruckten noch gemurmelten Worten einschüchtern. Haben Spinnen Ohren? Regungslos wartet das Tierlein auf kleine Fliegen, die ihm unverhofft in sein gespenstisches Wunderwerk flattern. Letzte Nacht hat es sich sogar in meine Träume geschlichen: Ich trank Kaffee und wollte mich gerade aufrappeln. Doch unsichtbare Fäden hielten mich fest. Beim Frühstück las ich ein Gedicht von Ernst Herbeck, dem genialen Gugginger Sprachkünstler: „Die Sinne auf uns gerichtet. / Verkehrt im Netz. / Die Spinne webt den Tag. / Die Arbeit ruft zur Nacht / und schläft. Die Augen offenbart.“ Ein Augenöffner. Ein achtfacher Espresso. In der Ecke mein vervielfältigtes Frauchen. Ich krabbele ins Arbeitszimmer und mache mich ans Schreiben. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Von Manuela Tomic Am 30. Jänner 2023 herrscht im Betriebsbüro der Volksoper Wien Unruhe. Am morgigen Dienstag soll eine Vorstellung von „Orpheus in der Unterwelt“ stattfinden. Doch: Der Tenor, der den Orpheus spielt, ist erkrankt und sein Ersatz auch. Die Mezzosopranistin Katia Ledoux, die in diesem Stück die Venus spielt, sitzt an diesem Abend vor der Regiekanzlei, dem Herz der Oper, während die Kollegen im Büro überlegen. Verzweifelt diskutiert das Team, wer so spontan in die Hauptrolle des Orpheus schlüpfen könnte. Währenddessen blättert Ledoux in den Noten des Stücks. Die Töne sind nicht zu hoch, denkt sie, und mit Orpheus ist Venus nie gleichzeitig auf der Bühne. Ledoux steht auf, platzt ins Meeting und sagt: „Theoretisch könnte ich das machen.“ Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Stille. Als alle begriffen hatten, dass ihr Angebot ernst gemeint und kein schlechter Scherz war, machten sie sich an die Arbeit. Kostüme und Perücken mussten angepasst, die Stücke geprobt und die Nerven bewahrt werden. Am Tag nach der Vorstellung wird Ledoux, die als erste Frau und Sopranistin für einen Mann, einen Tenor, eingesprungen ist, zum Weltstar. Geschichte der Diskriminierung „Dieser Abend war verrückt. Ich habe von der Vorstellung nichts mitbekommen“, erzählt Ledoux. Die gebürtige Pariserin erklärt ihren damaligen Eifer, beide Rollen in kürzester Zeit einzustudieren, so: „Ich befand mich gerade in der Scheidung von meiner Frau und musste mich ablenken.“ Ledoux erzählt, dass sie den Abend ohne das großartige Team der Volksoper nie geschafft hätte. Die 34-Jährige gehört zur neuen Generation von Opernsängerinnen. Sie spricht unverblümt über ihre Branche und den Alltag, über psychische Probleme und über Politik. Leidenschaftlich erzählt sie von der „Black Opera Alliance“, die sich 2020 im Zuge der „Black Lives Matter“-Demonstrationen rund um die brutale Ermordung des Afro amerikaners George Floyd gegründet hat. „Als Schwarze Opernsängerinnen und Opernsänger haben wir uns weltweit zusammengetan und ausgetauscht“, erinnert sich Ledoux, „und wir haben gemerkt, dass wir ähnliche Probleme haben.“ Und das, obwohl die Opernhäuser in Wien, Seattle, Kingston, Paris oder Johannesburg so unterschiedlich seien. „Ein Thema, das uns im Alltag begleitet, sind Haare und Make-up“, sagt Ledoux. „Als ich im Opernbusiness angefangen habe, gab es keine Stylisten, die mit meiner Haarstruktur umgehen konnten.“ Da habe sich jetzt viel getan. An der Volksoper etwa gebe es nun Workshops, um mit unterschiedlichen Haartexturen umzugehen, erklärt die Mezzosopranistin. Ledoux geht es um Aufklärung. Sie erzählt gerne von Schwarzen Opernstars aus der Geschichte. Eine davon ist die US-Amerikanerin Marian Anderson. Im Jahr 1939 verhinderte die konservative Frauenvereinigung „Daughters of the American Revolution“ („Töchter der Amerikanischen Revolution“) aufgrund ihrer Hautfarbe einen geplanten Auftritt von Anderson in der Constitution Hall in Washington, D.C. Aus Protest gegen diese Diskriminierung trat Eleanor Roosevelt, die Ehefrau des da- Foto: Toni Suter „ Dieser Abend war verrückt. Ich habe von der Vorstellung nichts mitbekommen. “ Früher Start Schon mit sechs Jahren nahm Katia Ledoux im Schubertchor der Wiener Sängerknaben Unterricht. In der nächsten Saison ist die Mezzosopranistin Katia Ledoux die neue „Carmen“ in der Volksoper Wien. Wie ein Auftritt ihr Leben veränderte und was Kebab für eine Opernsängerin bedeutet. „Schwarze Vorbilder in der Oper hat es immer gegeben“ maligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, aus der Organisation aus. In der Folge organisierten die Roosevelts am Ostersonntag, dem 9. April 1939, ein Open-Air-Konzert mit Anderson vor dem Lincoln Memorial, an dem rund 75.000 Menschen teilnahmen. „Schwarze Vorbilder in der Oper hat es schon immer gegeben“, sagt Ledoux: „Wir sind bei weitem nicht die erste Generation, die sich engagiert.“ Ihr großes internationales Debüt hatte Ledoux als Geneviève in „Pelléas et Mélisande“ an der De Nationale Opera Amsterdam, in einer Produktion des französischen Regisseurs Olivier Py. Auftritte absolvierte sie aber auch im Opernhaus Zürich und im Londoner Royal Opera House. Der Alltag gestalte sich aber nicht immer so einfach, erzählt Ledoux. Man arbeite sechs Wochen intensiv mit einer Gruppe von Menschen zusammen. „Jeden Tag proben wir Stücke, in denen es um tiefste menschliche Emotionen geht, um Tod, um Liebe, um Verrat, um Krankheit“, erzählt Ledoux. „Dann kommt die Premiere, danach hat man ein Hochgefühl, wird vom Publikum mit Applaus und Komplimenten überschüttet und freut sich, Teil von so etwas Großem gewesen zu sein“, sagt Ledoux. „Und irgendwann an diesem Abend fährt man spätnachts mit der U-Bahn zurück in sein schäbiges Hotel und isst bei dem Kebab stand, bei dem man schon die ganze Woche gegessen hat, weil nichts anderes in der Nähe ist oder offen hat.“ Danach liege man allein im Hotel und wisse, dass man die Kolleginnen, mit denen man so intensiv zusammengearbeitet habe, wahrscheinlich nie wieder sehen werde, sagt die Sängerin. All das müsse die Psyche erst verkraften. Doch Ledoux liebt die Oper. Daran besteht kein Zweifel. Im Alter von nur zwei Jahren steht die kleine Katia vor dem bunten Röhrenfernseher in ihrer Pariser Wohnung. Ihre Mutter filmt mit, wie die Zweijährige im rosa Bademantel zum ersten Mal eine „Carmen“-Aufführung sieht. Ledoux blickt mit großen Augen auf den Bildschirm und bewegt sich nicht mehr vom Fleck weg. Die Stimme, die aus dem Fernseher kommt, paralysiert sie. 2023 postete sie das Video auf Instagram. In den 90er Jahren zog ihre Familie wegen des Jobs des Vaters nach Wien. Ledoux besuchte das renommierte Lycée français de Vienne, die französische Auslandsschule in Wien. Ihre Eltern zeigten ihr Videos von Sissi und den Wiener Sängerknaben, damit sie sich auf Österreich vorbereiten kann. Mit nur sechs Jahren nahm sie bereits in Wien im Schubertchor der Wiener Sängerknaben Gesangsunterricht. „Carmen“ auf VHS „Alle Kinder sind von sich aus Performer“, sagt Ledoux, „doch die Erwachsenen sagen ihnen dann, sie sollen nicht so laut singen, ruhig und brav sein.“ Sie habe großes Glück gehabt, erzählt die Französin. „Erwachsene können Kinderträume zerstören oder fördern, und meine Eltern haben nie gesagt, dass ich falsch oder zu laut singe. Sie waren immer so stolz auf alles, was ich gemacht habe, und haben mich jedes Mal, wenn Gäste bei uns waren, vor ihnen auftreten lassen.“ Ledoux will die Oper zu einem zugänglicheren Ort machen. Sie dreht TikTok-Videos in ihren Opernoutfits, tritt morgens in der Volksoper vor Kindern auf und hat sich ihre Offenheit bewahrt. In der nächsten Saison spielt sie in der Volksoper die Carmen – in jenem gleichnamigen berühmten Stück, das sie als Kind zum ersten Mal auf VHS erblickte.
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