DIE FURCHE · 30 14 Literatur 25. Juli 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 13 darauf ausruhen kann, denn der zweite Gedanke zielt auf gleiche Macht: dass man niemals, solange man lebt, diese Ungerechtigkeiten als gegeben hinnehmen darf, sondern mit aller Kraft bekämpfen muss. Der Kampf beginnt allerdings im Herzen, und nun war mir auferlegt, mein Herz frei zu halten von Hass und Verzweiflung. Diese Weisung machte mir das Herz schwer, und nun, da mein Vater unwiderruflich gegangen war, wünschte ich, er wäre an meiner Seite, damit ich in seinem Gesicht Antworten fand, die mir jetzt nur noch die Zukunft bringen konnte.“ „Von einem Sohn dieses Landes“, dieser Text von wenigen Seiten, zeigt, was sich wie ein roter Faden durch Baldwins Werke zieht: der Blick auf den einzelnen Menschen und sein Leben, der Blick auf die Bedingungen und Umstände, in denen dieses Leben stattfindet; das Verständnis dafür, wie die Umstände explodieren müssen und der Unmut sich ergießen muss, und gleichzeitig die nimmermüde werdenden Versuche, einen Weg zu finden, der ohne Verteufelung des Gegenübers und ohne Gewaltanwendung auskommt. Es geht doch gerade darum: die anderen eben nicht als Teufel zu sehen. Gegen Verteufelung Dass Baldwin, der Bürgerrechtler, daher die Ansichten und Vorgangsweisen der Black Muslims, der „Nation of Islam“, nicht teilt, liegt auf der Hand. Für sie wären die Weißen Teufel, meint Baldwin, er hingegen schaut darüber hinaus. Wichtig wäre es, herauszufinden, warum es überhaupt diese Erfindung Rassismus braucht, warum es das braucht, dass Menschen andere als weniger wertvoll einstufen. Ohne das zu wissen, könne es nicht anders werden. Und schon gar nicht wird es anders, wenn man die Hierarchien einfach umgekehrt. Diese Abwertungen und Kategorien selbst sind das Problem, sei es begründet mit Hautfarbe oder mit Sexualität. Auch diesbezügliche Diskriminierungen sind dem homosexuellen Autor bekannt. Vor dem Rassismus in den USA rettet er sich nach Paris, wo er als amerikanischer Staatsbürger anders behandelt wird als etwa Algerier, die um die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen. Von 1948 bis 1957 lebt Baldwin in Frankreich, wo er auch einige seiner Bücher schreibt. In Paris hungert er erst eine Weile, wie er schreibt, aber er lernt vor allem etwas: Er verliebt sich und erkennt die Liebe als seine Möglichkeit, als Schlüssel zu seinem Leben und zum Leben an sich. Die Liebe „half mir, mich aus der Hautfarbenfalle herauszuschälen, denn Menschen verlieben sich nicht nach Hautfarbe (…). Nacktheit kennt keine Farbe: Das wiederum kann nur jenen neu sein, die noch nie jemanden mit ihrer Nacktheit bedeckt haben oder von jemandem bedeckt wurden.“ Wahlrecht für alle: James Baldwin nach der Teilnahme am Protestmarsch von Selma nach Montgomery im März 1965. Anton Thuswaldner am 25.6.2020: „‚Giovannis Zimmer‘: Der Kampf um Freiheit beginnt immer wieder neu“, auf furche.at. Im Schweizer Ort Leukerbad schreibt James Baldwin seinen ersten Roman fertig. Er ist damals wohl der erste Schwarze überhaupt in diesem Bergdorf, eine Erfahrung, die er 1953 im Essay „Ein Fremder im Dorf“ festhält. Auch sein erster Roman „Go Tell It on the Mountain“ erscheint 1953 (deutsch neuübersetzt mit dem Titel „Von dieser Welt“), eine Familiengeschichte, die zugleich die Geschichte afroamerikanischen Lebens in den USA erzählt. Baldwin thematisiert darin auch Heuchelei der Kirche, Machtmissbrauch und Spiritualität. Meist wird der Roman (reduziert) autobiografisch gelesen, als Geschichte der Emanzipation eines Jugendlichen vom Vater und seiner Religion. Das ist er auch, aber eben nicht nur. Unschöne Verblendung 1956 erscheint Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“. Hier scheint bei nur oberflächlichem Blick die Frage von Schwarz und Weiß keine Rolle zu spielen (doch prägt sie auch hier), eine andere Kategorisierung und Ausgrenzung rücken in den Fokus. Ein homosexueller Amerikaner verleugnet seine Liebe zu einem Barkeeper, mit tragischen Folgen. In den USA wüten inzwischen die Protagonisten der heute so genannten McCarthy-Ära gegen den Kommunismus, was Baldwin als „Vorwand“ bezeichnet; „ich fragte mich, wie die Rechtfertigung unverhohlener, blindwütiger Tyrannei auch nur entfernt der Freiheit dienen konnte, und fragte mich außerdem, welche unausgesprochenen Bedrängnisse diese Menschen in derart unschöne Verblendung trieben. Was war ihnen menschliches Leben, fragte ich mich, denn sie erstickten ja förmlich in Phrasen und schienen jede Verbindung zum Leben verloren zu haben.“ Sein Band „Von einem Sohn dieses Landes“ erscheint 1955, gerade als der Busboykott von Montgomery beginnt. Schwarze dürfen „ Es war ihm, schreibt er in ‚Kein Name bleibt ihm weit und breit‘, als wäre er in die Hölle geraten. Er hört auf seiner Reise Menschen zu, interessiert sich für ihr Leben, er schreibt als Zeuge. “ nur bestimmte Sitzreihen in Bussen benutzen und müssen aufstehen, wenn für Weiße nicht genug Platz ist. Rosa Parks weigert sich aufzustehen, wird festgenommen – und eine Welle zivilen Widerstands bricht aus. „Ich konnte einfach nicht länger in Paris herumsitzen und über das Problem Algeriens und das der schwarzen Amerikaner debattieren. Alle anderen trugen ihren Teil bei, es war höchste Zeit, dass ich meinen beitrug.“ 1957 kehrt James Baldwin in die USA zurück. Er reist in die Südstaaten und berichtet 1961 in seinem zweiten Essayband „Nobody Knows My Name: More Notes of a Native Son“ von den Protesten. Das Entsetzen über das unglaubliche Ausmaß des Kummers im blutgetränkten Land thematisiert er auch 1972 in „No Name in the Street“ („Kein Name bleibt ihm weit und breit“). Es war ihm, schreibt er, als wäre er in die Hölle geraten. Er hört auf seiner Reise Menschen zu, interessiert sich für ihr Leben, er schreibt als Zeuge. Und er trifft auf Reverend D., den Ersten, der ihm die Idee der Gewaltlosigkeit wirklich nahegebracht hat: „Denn hier wurde sie zu einer individuellen und vor allem persönlichen Entscheidung, und ich erkannte zum ersten Mal, wie schwer so eine Entscheidung sein kann.“ LEKTÜRETIPPS James Baldwins Werke, neu übersetzt Foto: Getty Images / Robert Abbott Sengstacke „ Ich konnte einfach nicht länger in Paris herumsitzen ... Alle anderen trugen ihren Teil bei, es war höchste Zeit, dass ich meinen beitrug. James Baldwin “ Baldwin wird zu einer öffentlichen Person, einem Sprachrohr für die vielen, die mutig an vielen Orten Widerstand leisten. 1962 räumt ihm der New Yorker Platz für einen ausführlichen Essay ein – Hannah Arendt lobte ihn als „politisches Event höchster Ordnung“. 1963 hebt ihn das Time-Magazin als ersten Schwarzen Schriftsteller auf die Titelseite. Doch die Hoffnung wird hart auf die Probe gestellt. 1963 wird Medgar Evers, 1965 Malcolm X und 1968 Martin Luther King ermordet. „Seit Martins Tod in Memphis und dem ungeheuerlichen Tag in Atlanta hat sich etwas in mir verändert, etwas ist verloren gegangen“, wird Baldwin später festhalten. 1970 verlässt er die USA wieder Richtung Frankreich. „Dieses Buch wurde durch Prozesse, Mordanschläge, Beerdigungen und Verzweiflung immer wieder aufgeschoben“, schreibt Baldwin im Epilog zu seinem Buch „No Name in the Street“. „Die Krise Amerikas, Teil einer globalen, historischen Krise, wird sich auch nicht so bald lösen. Eine alte Welt liegt im Sterben, und eine neue, strampelnd im Bauch ihrer Mutter, der Zeit, kündigt sich an, bereit, geboren zu werden. Es wird keine leichte Geburt werden, und viele von uns werden wohl oder übel erkennen müssen, dass wir nicht zur Hebamme taugen. Macht nichts, solange wir unsere Verantwortung für das Neugeborene annehmen: Die Verantwortung anzunehmen ist der Schlüssel zu den erforderlichen Fertigkeiten.“ Nachdem Baldwin am 1. Dezember 1987 im französischen Saint-Paul-de-Vence gestorben ist, wird Toni Morrison eine Trauerrede halten. „Du hast uns uns selbst geschenkt, damit wir über uns selbst nachdenken, uns selber schätzen lernen“, sagt Morrison und betont Baldwins Sprache, Mut und Zärtlichkeit. Die He rausforderungen, die Baldwin an sie gestellt habe, waren unmissverständlich, bezeugt die afroamerikanische Schriftstellerin und spätere Nobelpreisträgerin: „dass ich beim Denken und Arbeiten mein Bestes gebe; dass ich fest auf dem Boden der Moral stehe, mir aber zugleich bewusst bin, dass dieser Boden auch mit Gnade beackert werden muss; dass ‚die Welt vor mir liegt und ich sie nicht so nehmen oder gar hinterlassen soll, wie ich sie bei meiner Ankunft vorgefunden habe‘.“ Tipp: „Ich glaube, dass Menschen besser sein können als angenommen“ Brigitte Schwens-Harrant zum 100. Geburtstag von James Baldwin Gedanken für den Tag 29.7. bis 3.8.2024 Ö1, jeweils 6.57 Uhr Schwarz und Weiß werden in diesem Beitrag großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um konstruierte Zuordnungsmuster handelt. Die Zitate wurden wörtlich übernommen. Bei dtv erscheinen seit einigen Jahren James Baldwins Werke in deutscher Neuübersetzung von Miriam Mandelkow. Wer den brillanten Essayisten kennenlernen will, dem seien jedenfalls „Nach der Flut das Feuer“(dtv 2019; „The Fire Next Time“, 1963) und „Von einem Sohn dieses Landes“ (dtv 2022; „Notes of a Native Son“, 1955) empfohlen. Zudem dann noch die persönliche Chronik „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ (dtv 2024; „No Name in the Street“, 1972). Wer sich für den Literaten interessiert, kann mit Baldwins Roman „Von dieser Welt“ (dtv 2018; „Go Tell It on the Mountain“, 1953) und „Giovannis Zimmer“ (dtv 2020; „Giovanni’s Room“, 1956) beginnen. Neu übersetzt sind auch die Romane „Beale Street Blues“ (dtv 2018; „If Beale Street Could Talk“, 1974), „Ein anderes Land“ (dtv 2021; „Another Country“, 1962), und soeben erschien „Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort“ (dtv 2024; „Tell Me How long the Train’s Been Gone“, 1968). René Aguigah hat mit „James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt“ (C. H. Beck 2024) eine gut erzählte, vielschichtige Biografie vorgelegt, die den Schriftsteller, Essayisten und Aktivisten vor allem anhand seiner Texte erkundet. Interviews mit dem Schriftsteller aus vielen Jahren kann man nun auf Deutsch hier nachlesen: „James Baldwin: Ich weiß, wovon ich spreche. Ein Leben in Gesprächen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Künne, Cornelius Reiber und Monika Kulow. Zusammengestellt von Lena Riebl und Sarah Altenaichinger (Kampa 2024). Last not least bietet der Film von Raoul Peck nach einem Text von James Baldwin, „I Am Not Your Negro“, eine berührende Erinnerung an die drei ermordeten Bürgerrechtler Medgar Evers, Malcom X und Martin Luther King und dichte Einblicke in James Baldwins Haltung. (Brigitte Schwens-Harrant)
DIE FURCHE · 30 25. Juli 2024 Literatur 15 Mit seinem Roman „Mittellage“ schuf William H. Gass ein fulminantes Spätwerk: einen Bildungsroman voller Skurrilitäten und eine Satire auf die Provinz und die Universität. Zum 100. Geburtstag des Großmeisters der amerikanischen Erzählkunst. Die Welt kippt aus der Mittellage Von Oliver vom Hove Der etwas altehrwürdige Begriff „Bildungsroman“ birgt gemeinhin eine doppelte Bedeutung. Erzählt wird nicht nur, wie einer das wurde, was er ist, wie er sich „herangebildet“ hat. Dieses Coming-of-Age-Narrativ enthält zumeist auch den aufklärerischen Anspruch, eine gelungene Selbstformung vorzuführen. Aus solcherart „Bildungsgang“ soll gewissermaßen auch die Leserschaft ihren Nutzen ziehen. In seinem großangelegten Alterswerk „Mittellage“ (2013) stellte William H. Gass, der Großmeister der amerikanischen Postmoderne, diesen Doppelsinn eines Bildungsromans mit grimmigem Humor auf den Kopf. Sein Protagonist heißt Joseph Skizzen und hat sich durch allerhand Vortäuschungen und Betrügereien in einem langwierigen Karriereweg eine Musikprofessur an einem mittelmäßigen College im Mittleren Westen der USA, in Ohio, erschwindelt. Dort schwadroniert er, ohne überhaupt Noten lesen zu können, vor einer kleinen Schar ahnungsloser Studierender über Anton Webern, Arnold Schönberg und die Zwölftonmusik. Immerhin: „Er hatte Klavierspielen nach dem Gehör gelernt.“ Das Leben eines Schwindlers Doch siehe da: Die Vorträge des Autodidakten haben sogar Hand und Fuß. Denn – Höhepunkt von Gass’ sarkastischem Vexierspiel – dieser Joey Skizzen ist ein Österreicher. Und hat die Musik im Blut. Sein Vater, ein Katholik aus Graz, hatte sich 1938 als Jude ausgegeben, um mit dem Status eines Opfers aus der „Ostmark“ nach England emigrieren zu können. Als er in London durch eine Pferdewette unerwartet zu Reichtum kam, löste er alle Verbindungen und machte sich aus dem Staub. Die Familie musste sehen, wo sie bleibt, und wanderte in die USA aus. Der Sohn erinnert sich: „Als wir aus Graz weggegangen sind, haben wir unsere Bindungen gelöst; wir haben unsere früheren Ichs hinter uns gelassen wie alte, zu Lumpen verschleißende Kleider; wir sind zu den Besitzlosen gestoßen, dabei haben wir gar nicht zu ihnen gehört.“ In Amerika ließ sich die vater- und mittellose Familie im Mittleren Westen, dem sogenannten Bible Belt, nieder. Und findet sich prompt konfrontiert mit Kleingeist, Bigotterie und verstohlenem Hass. Später wird hier ein Trump-Stammland zu orten sein. Während die Mutter sich von all dem fernhält und lieber ihren Garten bestellt, infiziert sich der Sohn und entpuppt sich in seinem geheimen Leben als spätpubertärer Beschwörer des Weltuntergangs, angezogen von sämtlichen Erscheinungsformen und Zeugnissen des Verfalls. „ Die Absicht des Autors war es, nach dem kompositionellen Vorbild der Zwölftonmusik einer komplexen Wirklichkeit in ebenso irisierender wie verstörender Darstellung näherzukommen. “ Auf seinem Dachboden hat er nach und nach ein „Museum der Unmenschlichkeit“ eingerichtet: eine Unzahl von Gräuelbildern und Zeitungsartikeln über menschliche Untaten und Hasstiraden, quer durch die Weltgeschichte bis in die Gegenwart. Besessen von der Verderbtheit der Menschheit, wünscht er ihr unverhohlen die gänzliche Vernichtung. Überleben soll nur die Natur. Doch wie so viele von Selbsthass Foto: Wikipedia / David Shankbone (cc by 3.0) William H. Gass Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller war Gass (30.7.1924–6.12.2017) Universitäts professor für Philosophie. verführten Apokalyptiker verkennt er, dass Schönheit und Rang der Natur nur durch die Beachtung des Menschen ihren Sinn aufrechterhalten. Für Aufsehen gesorgt hatte Gass bereits 1995 mit seiner monumentalen Romandystopie „Der Tunnel“, in der ein US-Historiker, der sich mit deutscher Schuld im Dritten Reich beschäftigt, plötzlich den Faschisten in sich selbst aufspürt und seine Verdüsterung so weit treibt, einen Tunnel – Sinnbild seiner abgründigen Gefühlslage – durch seinen Garten zu ziehen. Heucheleien des akademischen Betriebs Das Spätwerk „Mittellage“ ist nebenbei auch einer der in Amerika so beliebten College romane. Die Mittelmäßigkeit des Provinzlebens findet sich in den „Heucheleien des akademischen Betriebs“ wieder, wie es wörtlich heißt. Hier bediente sich Gass möglicherweise manch eigener Erfahrung als langjähriger Universitätsprofessor für Philosophie an der Washington University in St. Louis, Missouri. Am 30. Juli wäre William H. Gass hundert Jahre alt geworden. Er starb 2017. Manchem mögen seine Romangerichte wie ein einziger großer Wortsalat vorkommen. Die Absicht des Autors war es indes, nach dem kompositionellen Vorbild der Zwölftonmusik einer komplexen Wirklichkeit in ebenso irisierender wie verstörender Darstellung näherzukommen. „Ich mache es meinen Lesern nicht leicht“, bekannte Gass einmal. Das trifft sowohl auf „Der Tunnel“ als auch auf „Mittellage“ zu. Die Literatur darf alles, auch und vor allem das Unwahrscheinlichste erfinden. Und anspruchsvolle literarische Werke bergen immerhin auch das Risiko, verstanden zu werden. Mittellage Roman von William H. Gass Rowohlt 2016, 605 S., nur mehr als E-Book erhältlich, € 9,99 WIEDERGELESEN Als das Schwarze Amerika schreiben lernte Von Anton Thuswaldner Mit diesem Buch, das jetzt wieder zugänglich gemacht wurde, leistete Stephan Hermlin Pionierarbeit. 1948, Deutschland war in Sektoren aufgeteilt, zwei deutsche Staaten sollten erst im Folgejahr gegründet werden, erschien eine Anthologie mit Lyrik aus den USA, verfasst ausschließlich von Schwarzen. Das war so kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein kühnes Unterfangen. Die deutsche Literatur, im Begriff, Anschluss an die Moderne zu finden, orientierte sich bevorzugt an Weißen Literaten. Hermlin trat mit dem Anspruch auf, den Gegenbeweis anzutreten, dass Schwarze Dichtung epigonal sei. Aus dem Exil zurückgekehrt stand er politisch links und forcierte eine Literatur mit emanzipatorischem Anspruch. Um dem Nachdruck zu verleihen, kommentierte er die Gedichte und las sie unter dem Zeichen der Widerständigkeit. „Der Adel des echten Leides hat diese stolze Dichtung geprägt, die Dichtung einer uralten Rasse, die ihrer selbst und ihres Sieges im Siege der ganzen Menschheit gewiss ist.“ Dass Hermlin zur Überhöhung neigt, zeigt sich in seinen Übersetzungen, die anders als die Originale von Pathos nicht frei sind. Mit George Moses Horton, 1798 in North Carolina geboren, findet jener Autor Eingang ins Buch, der als erster Afroamerikaner gilt, dem in den USA eine Publikation vergönnt war. Er war Nebenerwerbsdichter und schaffte es, sich aus der Sklaverei freizukaufen, um nach Liberia zu ziehen, wo er irgendwann nach 1883 verstorben sein soll. Lesen und Schreiben brachte er sich gegen alle Widerstände selbst bei. Und so spricht er auch im Gedicht „Ich“ von den Schwierigkeiten eines Menschen, dessen „Genius im Herzen“ es schwer gemacht wurde, sich frei zu entfalten: „War er doch, schwer in Fesseln, nie bereit / Zum großen Flug.“ Ist dieses Gedicht von der Trauer umflort, unter Einschränkungen verharren zu müssen, und setzt auf Gottvertrauen („Vielleicht hilft mir der Herr“), ist Hermlin daran gelegen, bevorzugt Stimmen des Kampfes und des Aufbegehrens zu versammeln. Zu den bekannteren Namen zählen Richard Wright und Langston Hughes. Hermlin griff, wie Eva Tanita Kraaz und Kai Sina, denen die Neuveröffentlichung zu verdanken ist, auf die Anthologie „Negro Caravan“, erschienen 1941 in New York, zurück, nur zwei Beiträge gehen als eigene Funde durch. Von achtzehn Dichterinnen und Dichtern sind insgesamt sechsunddreißig Texte abgedruckt, dazu kommen anonyme Folksongs aus der Überlieferung. Was einmal als mutige Entdeckungstour durch verdrängte Literaturgeschichte gegolten hat, nehmen wir heute wieder als notwendige Korrektur eingeschränkter Wahrnehmung. Und großartige Lyrik entdecken wir obendrein! Auch ich bin Amerika Lyrik Schwarzer Dichterinnen und Dichter Hg. von Stephan Hermlin Zweisprachige Ausgabe Wallstein 2024, 176 S., geb., € 25,70
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