29 · 18. Juli 2024 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– flutungen zu wappnen. Man könnte dieses Maßnahmenpaket als Stressreduktionsprogramm für die ganze Gesellschaft bezeichnen. Und wer will schon mehr Stress? Man könnte daher meinen, dass dies im Interesse aller Bürger und Bürgerinnen wäre. Die Tragweite des Problems ist allerdings bei weitem noch nicht durchgedrun- Von Martin Tauss gen. Das gilt für die Ebene der Lokalpolitik, wo etwa noch kleinlich um PKW-Stellplätze ereinzelte Badetage gab es heuer bereits im April. Nun gilt es, Jahre überschritten. Das allgemeine Stress- wo die ÖVP das EU-Renaturierungsgesetz ziel) bereits innerhalb der nächsten zehn gestritten wird, bis hin zur Bundespolitik, sich auf längere Hitzephasen niveau in der warmen Jahreszeit wird also weiterhin torpediert und den nationalen einzustellen. Überraschend weiter steigen, und das bedroht zunehmend Energie- und Klimaplan auf die lange Bank kommt das nicht. Weltweit waren heuer extreme Temperaturen zu beobben rund um die Welt. Besonders gefährlerpartei gerne auf den „Hausverstand“, unsere Gesundheit – sowie Menschenle- geschoben hat. Man beruft sich in der Kanzachten: In Mittelamerika führten anhaltende Hitze und Dürren im Frühjahr zu Kleinkinder, chronisch Kranke und sozioschutz fehl am Platz. So merkt man es perdet sind vulnerable Personen wie Ältere, doch der ist gerade beim Natur- und Klima- schwerem Wassermangel und Dutzenden ökonomisch Benachteiligte, die sich keinen sönlich oft kaum, wenn man einen um ein Toten. Im saudi-arabischen Mekka kletterte adäquaten Hitzeschutz leisten können. Grad wärmeren Raum betritt; im Hinblick das Thermometer im Juni auf knapp 52 auf das globale Klima können schon Zehntelgrade über Leben und Tod entscheiden. Grad; bei der großen muslimischen Pilgerfahrt Hadsch starben mehr als 1300 Men- Extreme Hitze kann auch die Wirtschaft Es ist tragisch, dass diese ökosoziale Begrünung und Entsiegelung schen. Kaum weniger heiß war es in Kalifornien und Las Vegas oder in Pakistan und uns leiden an Leistungseinbußen“, sagt der sich alle Parteien verständigen können. Es schwächen. „Und selbst die Fittesten unter Stressreduktion noch kein Ziel ist, auf das Nordindien, wo man im April und Mai mit Umweltmediziner und Public-Health-Experte Hans-Petter Hutter von der Med-Uni doch so etwas erscheint nach der Erfahrung bräuchte einen nationalen Schulterschluss, hitzebedingten Stromausfällen und überfüllten Krankenhäusern zu kämpfen hatte. Wien zur FURCHE. Was es jetzt braucht? der Corona-Jahre nicht in Greifweite. Jedenfalls kann die Position der Parteien in Kli- Auch in Japan wurden im Juli Rekordtemperaturen registriert und großflächige Hitze- Ursachenbekämpfung (CO2-Reduktion), mafragen als essenzielles Kriterium für die „Energische Kreativität“, so Hutter, bei der warnungen ausgegeben. ebenso wie bei der Anpassung an die Klimakrise. Gute Ansätze gibt es hierzulande be- werden: Wer hier auf Relativierung, Ver- nächste Wahlentscheidung herangezogen Der heurige Sommer wird wohl als einer der heißesten in die Geschichte eingehen; reits, jetzt bedarf es der großflächigen Umsetzung: Etwa intelligente Architektur, die entweder noch immer nicht in der Lage, die drängung oder Bequemlichkeit setzt, ist zugleich könnte er aus einer künftigen Perspektive noch einer der kühlsten gewesen sich zum Beispiel von „lichtdurchfluteten“ Klimakrise intellektuell zu erfassen – oder sein. Denn die globale Durchschnittstemperatur steigt weiter, und so wie es derzeit und Entsiegelung, verkehrsberuhigte Stadt- kurzsichtig und verantwortungslos. Glaspalästen verabschiedet; Begrünung handelt aus opportunistischen Motiven aussieht, wird die avisierte Grenze von 1,5 viertel (Superblocks) sowie „Schwammstädte“, um sich auch gegen die häufigeren Über- Grad Erderwärmung (das Pariser Klima- martin.tauss@furche.at Der evangelische Theologe Ulrich Körtner plädiert angesichts zunehmender Bedeutung religiöser Kommunikation für eine neue Theologie der Medien. Seite 9 Was wäre gewesen, hätte man die umstrittene Linzer Gebärenden-Skulptur genutzt, um das Leben Marias zu meditieren? Fromme Wünsche zu „Crowning“. Seite 11 Mit „Wellness“ legt Nathan Hill einen amerikanischen Gegenwartsroman vor, der das übersteigt, was die herkömmlichen Great American Novels zu bieten haben. Seite 14 Das ORF-Funkhaus wurde an den neuen Eigentümer übergeben. Wo einst Radiogeschichte geschrieben wurde, entstehen nun hochpreisige Apartments. Seite 16 Josef Eisemann sorgte im Nachkriegswien mit seinen Auftritten für das ganz große Spektakel. Vor 75 Jahren bezahlte der Seiltänzer dafür mit dem Leben. Seite 20 @diefurche @diefurche @diefurche Die Furche Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 Das Gespräch führte Doris Helmberger s war 1999, als Othmar 1957 geboren, zog Karas für die ÖVP ins Othmar Karas Europa-Parlament einzog. Von seiner Partei ÖVP-Generalse- 1999 als damaliger hat er sich entfremdet , kretär erstmals für im Parlament avancierte er bis die Volkspartei ins zum Ersten Vizepräsidenten. Zum EU-Parlament ein. Abschied hat der 66-Jährige im Von 2006 bis 2009 Haus der Europäischen Union in sowie von 2011 der Wiener Wipplingerstraße mit bis 2019 leitete er der FURCHE gesprochen. die ÖVP-Delegation. Im Jänner 2022 DIE FURCHE: Herr Karas, rechte wurde Karas Erster Vizepräsident. Parteien waren die Gewinner der jüngsten EU-Wahlen. In vielen Trotz aller Konflikte sehe er „kein Staaten – darunter Frankreich – scheint die extreme Rechte zur Zerwürfnis“ mit neuen Volkspartei geworden zu der ÖVP, meinte er sein. Wie konnte es dazu kommen? am 16. Juni in der Othmar Karas: Dazu muss man „Pressestunde“. definieren, was man unter einer „Mitglied einer Partei zu sein, kann Volkspartei versteht. Nach meinem Politikverständnis ist eine ja nicht bedeuten, Volkspartei eine Integrationspartei, die den sozialen Zusammen- ausschaltet.“ dass man sein Hirn halt der Gesellschaft zum Ziel hat. In diesem Sinne können Extreme nie Volksparteien werden, sie sind vielmehr polarisierende Spaltungsparteien, weil sie nicht an Lösungen für die Probleme der Interessen zu vertreten. Außerdem gab es zwar schon bisher Blo- Menschen arbeiten, sondern sie nur benutzen. Insofern sind sie ckaden, dennoch haben wir in den leider immer auch ein Produkt vergangenen Monaten einstimmig 1,4 Milliarden Euro an Mili- des Versagens der Mitte. Auch Frau Le Pen, die ich aus tärhilfe für die Ukraine freigegeben. Und was die zersplitterten dem Europaparlament kenne, ist ein Produkt des gescheiterten Macronismus. Hier fällt mir noch dieser neuen „Allianz“ an- Rechtsparteien betrifft: Wer sich ein Spruch ein: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Man darf das nicht unterschätzen. schließt, kann man nicht absehen. Nur hat Herr Macron diese Grube Aber wenn Sie sich die Positionen der Europäischen Union als Ganzes gegraben. Und auch wenn der AfD ansehen, dann eint sie von Frau Meloni, Frau Le Pen und der Rechtsdurchmarsch nicht in vorerst nur eines: Sie wollen diese ganz Europa geglückt ist, so machen mir die Entwicklungen in zwar spalterisch, hat aber keine Europäische Union nicht. Das ist Frankreich, Deutschland, Österreich, Holland und der Slowakei im Europäischen Parlament. Mehrheit in der Bevölkerung und große Sorgen. Es liegt ausschließlich an der Mitte, sich nicht weiter DIE FURCHE: Orbáns Wahlspruch mit Einzelinteressen zu beschäftigen und nach rechts oder links schaftspolitische Auseinander- sind. Doch immer mehr Mitglied- Dauerblockade beziehungsweise pe Great Again“ – angelehnt an gen und grundsätzliche gesell- -populisten stärker geworden ropas“ vorgestellt. Steht uns eine lautet ausgerechnet „Make Euro- zu blicken, sondern wieder staatspolitisch das gemeinsame Ziel in mar Karas Ernst in den letzten Jahren nicht getan. nenpolitischen Profilierung und te bevor? kehr zuletzt deutlich wahrschein- 2011 löste Othsetzungen führen. Das haben wir staaten haben diese Frage zur in- die Vereinigung der rechten Kräf- Donald Trump, dessen Wieder- den Blick zu nehmen – und den Strasser als Schuldzuweisung genutzt. Jetzt Karas: Was die Rolle des Vorsitzes in der rotierenden, sechs- Karas: Mich wundert das nicht, licher geworden ist... VP-Delegationsleiter ab. Extremen damit den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Da Lesen Sie unter Parteien im Bereich Flucht und und Migrationspakt endlich gemonatigen Ratspräsidentschaft weil Steve Bannon, der einst DIE FURCHE: Was hätten die Mitte- haben wir mit dem neuen Asylhaben wir bisher in der Mitte versagt. Denn ein Großteil der Mendet den Bürger Karas: Sie hätten nicht neun Jahmen politischen Willen gibt. Aber digkeiten mit dem Vertrag von nun gerade eine viermonatige „Politik verwen- Migration konkret tun sollen? zeigt, dass es einen gemeinsa- betrifft, so sind hier die Zustän- Trumps Chefstratege war (und schen will ja nicht mit den Extremen ideologisch im Bett liegen, (5.5.2011) das päische Antwort auf die Migratisen, noch nicht umgesetzt. Daher den. Nicht zuletzt der Druck der nach seinem Ausscheiden aus als Ausrede“ re lang eine gemeinsame euro- dieser Pakt wurde erst beschlos- Lissabon stark abgespeckt wor- Haftstrafe angetreten hat, Anm.) sondern mit ihnen „gegen das Interview mit onskrise blockieren sollen. 2015 spürt man seine Wirkung noch anderen werden es Orbán schwermachen, ausschließlich nationale gekommen ist und Mastermind dem Trump-Team nach Europa Oliver Tanzer System“ protestieren. wurden uns die Augen geöffnet: nicht. Klar muss sein, dass es für auf furche.at. Es war klar, dass wir eine gemeinsame europäische Asyl- und Migliche rechtliche Grundlagen gibt. Asyl und Migration unterschied- DIE FURCHE: Aber Befragungen zeigen, dass es auch hinsichtlich der rationspolitik benötigen. Es gab Wir brauchen gemeinsame Asylverfahren – mit legalen Flucht- Ideologie dieser Parteien immer bereits unter Jean-Claude Juncker erste Vorschläge der Komrouten und einem innereuropäi- weniger Berührungsängste gibt, dass etwa viele längst offen eine mission, weil man gesehen hat, schen Solidaritätsmechanismus. „Festung Europa“ oder „Remigration“ wollen, auch wenn dies Eu- Arbeitsmigration, um personelle wie die Rechtsnationalisten und Zugleich brauchen wir gezielte ropäischem Recht widerspricht. Engpässe lösen zu können. Karas: Aber schauen Sie sich die Wahlergebnisse in Salzburg und DIE FURCHE: Seit 1. Juli gibt aber Innsbruck an: Da hatte der Protest andere Namen – und die FPÖ „innereuropäischen Solidarität“, der zentrale Quertreiber dieser hat nicht zugelegt. Daher bleibe Viktor Orbán, den Takt vor: Ungarn hat die Ratspräsidentschaft ich dabei: Ein großer Teil des Zuwachses der Rechten ist der Protest gegenüber dem „System“ und am vergangenen Wochenende mit übernommen. Zudem hat Orbán der mangelnden Lösungskompetenz der Mitte. Umso mehr schen Ex-Premier Andrej Babiš ei- Herbert Kickl und dem tschechi- muss man jetzt um Lösungen rinne neue Allianz der „Patrioten Eu- DIE FURCHE · 30 12 Diskurs 25. Juli 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Glasklar auf den Punkt Die Welt im Hitzestress Leitartikel Von Martin Tauss Nr. 29, Seite 1 Gratulation zu Ihrem jüngsten Leitartikel. Sie bringen die Problematik glasklar auf den Punkt. Chapeau! PD Mag. Dr. Ernst Fürlinger, via Mail Univ. für Weiterbildung Krems Danke! Die Welt im Hitzestress siehe oben Danke für die klare Meldung zum Klima in der FURCHE! Wenn die Mehrheit die Macht beschränkt „Mama, du hast Recht“ „Frag nichts. Sag nichts. Geh mit.“ Im dritten Teil der FURCHE-Sommerserie beleuchtet Barbara Bachler pflegt ihren Bruder und später ihre Hunderten Literaten, Künstlern und Intellektuellen Reinhard Heinisch, wie Demokratie-Unwissen radi- demente Mutter. In ihrem Buch fragt sie sich: Wie gelang über Marseille die Flucht vor den kale Positionen befeuern kann. · Seite 6 habe ich das geschafft? · Seite 7 Nationalsozialisten. · Seite 13 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Der Sommer war früher die schönste Zeit im Jahr. Mit steigenden Temperaturen wird er zur gefährlichsten Saison. Angesichts der Klimakrise braucht es einen nationalen Schulterschluss. Die Welt im Hitzestress V Österreichs Widerstand gegen den NS-Juliputsch jährt sich zum 90. Mal. Über den Dollfuß-Mythos, dessen Rolle im Geschichtsunterricht und historische blinde Flecken. Die Macht der Märtyrer „ In der ÖVP beruft man sich in Klimafragen gern auf den ,Hausverstand‘. Doch der ist gerade hier fehl am Platz. “ Petra Lex, via Facebook Diözese Graz-Seckau Hausverstand missachtet Die Welt im Hitzestress siehe oben Die eingangs geschilderten Tatsachen sprechen für sich. Versiegelungen und Entgrünungen sind meines Erachtens Ergebnis der Missachtung Foto: picturedesk.com / akg-images Foto: APA / AFP / Rebecca Droke Meeresschildkröten: das heißere Geschlecht Ob ein Tier männlich oder weiblich wird, bestimmt die Temperatur. Nun könnte das Geschlechterverhältnis aus dem Lot geraten. · Seite 18 Trump kapert Mandelas Faust Momente nachdem der Ex-Präsident angeschossen worden war, stand er auf und streckte seine Faust gen Himmel. Einmal mehr zeigte Trump sein Händchen für Symbolpolitik – und er scheute nicht davor zurück, eine universelle Geste zu instrumentalisieren. Seiten 5, 11 & 15 AUS DEM INHALT Wie kommuniziert Gott? Attacke des Antimodernismus Hypoaktive Beziehungsstörung Hier strahlt der Wohn-Luxus Der Fall des Herrn Eisemann GLAUBENSFRAGE Loslassen können Wenn Religionen davon sprechen, dass man erkennen muss, wann man sich für das Wohl der Gemeinschaft zurückziehen und entsprechend handeln muss, hört sich dies nach einem abstrakten Appell an, der mit unserer Lebenswirklichkeit wenig zu tun hat. Die Aufforderungen an den amerikanischen Präsidenten Biden, er möge seine Präsidentschaftskandidatur für eine erneute Amtszeit zurückziehen, der er dann nachgegangen ist, führt vor Augen, wie schwierig das Loslassen ist. Mir geht es hier nicht um eine Parteinahme für eine bestimmte Person im Kontext des amerikanischen Wahlkampfs, sondern um das Phänomen des Loslassens an sich. Dieses Phänomen ist oft mit der Abgabe von Macht und Kontrolle verbunden, weshalb wir uns damit oft schwertun. Was hat dies jedoch mit Religion zu tun? Für mich als Muslim steht fest, egoistische Motive gehören unbedingt entlarvt und beseitigt, vor allem dann, wenn sie den Interessen der Gemeinschaft schaden. Die Herausforderung bleibt jedoch, zu erkennen, wann egoistische Motive die Oberhand furche.at des sogenannten Hausverstandes. Wäre dieser berücksichtigt worden, gäbe es einen Großteil der nunmehrigen Probleme nicht. Hinsichtlich der Ablehnung der ÖVP des fraglichen EU-Renaturierungsgesetzes wären die diesbezüglichen Gründe in einer objektiven Betrachtung darzustellen. Die abschließende Empfehlung für die nächste Wahlentscheidung ist für einen objektiven Journalisten verantwortungslos, weil sie eindeutig gegen die ÖVP gerichtet ist. Fritz Veitschegger, 4786 Brunnenthal Anm. d. Red.: Im o. a. Leitartikel (ein Meinungsbeitrag) gab es keine Empfehlung für oder gegen eine bestimmte Partei. Lediglich wurde angemerkt, dass angesichts der Tragweite des Problems „die Position der Parteien in Klimafragen als essenzielles Kriterium für die nächste Wahlentscheidung herangezogen werden kann“. Klimaschonende Planung Faktencheck für Flugschämer Diesseits von Gut und Böse Von Peter Planyavsky Nr. 28, Seite 11 Bequem muss es schon sein, so lässt uns Peter Planyavsky wissen, da wird dann das Einbettabteil im Schlafwagen zu teuer, die Bahnfahrt zu lang, die Ankunftszeit zu unbequem – Gründe gibt es genug, wieder in den Flieger zu steigen, Klima hin oder her. In der Tat: Nach Buenos Aires muss man von Europa aus fliegen, nach Indien und China ebenso. Aber seit mehreren Jahrzehnten wissen wir, dass Flugreisen eine besonders schädliche Form des Reisens sind. Was tut Herr Planyavsky dagegen, wenn er denn schon viel fliegen will? Oder ist es ihm einfach gleichgültig, was aus dieser Erde wird? Auch ich bin beruflich viel um die Welt geflogen, aber als Kompensation habe ich seit vielen Jahren in Europa komplett aufs Fliegen verzichtet. Und das geht mit dem Zug wahrhaftig besser (...). Preislich, wenn man rechtzeitig plant und bucht, Sparpreise nutzt; dann geht sich auch die erste Klasse gut aus. Wien–München sowieso, da ist man fast genauso schnell wie mit dem Flieger, aber auch Wien–Zürich, Wien–Berlin oder auch Wien–Barcelona (nur einmal umsteigen: ein kreativer Zwischenstopp in Paris). Und eventuell hat man Einfluss auf Termine und kann eine Reise so legen, dass mehrere Orte hineinpassen, erst nach Hamburg, von da nach Bremen, dann Köln, zurück mit Stopp in München. Planung gehört dazu, aber vielleicht merkt auch der Vielflieger, wie viele Partner bereit sind, sich auf solche Terminargumente einzulassen. Die Reisezeit natürlich ist ein Gegenargument, es sei denn, man kann im Zug arbeiten, und das geht bei vielen Berufen. Ich treffe im Zug sehr viele arbeitende Menschen. Ich selbst lese unterwegs viel Fachliteratur, korrigiere Texte. Sogar manche Klavierspielerin lernt ihre Noten im Zug, vielleicht versucht es der Dirigent ja auch einmal (...). DIE FURCHE · 27 6 Politik 4. Juli 2024 E Othmar Karas, scheidender Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments, über den rechten Höhenflug, die Migrationsfrage, den Renaturierungs-Zwist und „mangelnde Ehrlichkeit“ seiner Partei. „Die Mitte hat versagt“ „ Die Mitte-Parteien hätten nicht neun Jahre lang eine gemeinsame Antwort auf die Migrationskrise blockieren sollen. “ Fotos: Mirjam Reither Gewissen & Reibebaum Was ist uns die Welt unserer Kinder und Enkelkinder wert, wie viel Verzicht auf totale Bequemlichkeit, wie viel Bereitschaft zur klimaschonenden Planung? Oder wir müssen den Kulturbetrieb, der diesen klimafeindlichen „Tourismus“ zur Folge hat, infrage stellen. Vorträge und Diskussionen sind auch per Teams oder Zoom möglich, da mögen sich bitte auch die anderen Professionen etwas einfallen lassen. „Weitgereist = viel geflogen“ ist jedenfalls keine Auszeichnung mehr. Wer sich nicht überzeugen lassen will, möge bitte weiter vielfliegen – aber sich dabei auch ordentlich schämen! em. o. Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm, via Mail Von Mouhanad Khorchide gewinnen. Denn wer würde dies für sich selbst einsehen oder feststellen können? Wir neigen vielmehr dazu, unsere Intentionen als rein für die Sache zu sehen, auch wenn dies objektiv gesehen nicht der Fall ist. Hier hilft nur die ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Intentionen und Beweggründen. Anders gesagt, hier ist viel Selbsterkenntnis gefragt. Sind aber nicht gerade religiöse Rituale, wie das Gebet oder das Fasten, solche Räume des Rückzugs, um in die Tiefen seines Ich einzutauchen, um sich im Angesicht Gottes mit sich selbst zu konfrontieren? Ist die koranische, aber auch die biblische, Rede vom Läutern des Herzens als Weg zur Gottesnähe nicht die Kernbotschaft der drei monotheistischen Religionen, die wir heute angesichts verschiedener Krisen in der Welt dringend benötigen? Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster. Terrorursachen in Nahost Interview mit dem jüdischen Historiker Michael Wolffsohn: „Es ist die Feigheit der Liberalen“ Von Philipp Fritz Nr. 26, Seiten 5–6 sowie Leserbrief dazu von Georg Haigermoser (Nr. 29) Leserbriefschreiber Georg Haigermoser kennt offenbar die seit 57 Jahren wütende alltägliche brutale Unterjochung der Palästinenser durch den israelischen Staatsterror im Detail und benennt sie sachlich. Viele wollen nicht wahrhaben, dass der Terror in Nahost durch den Zionismus entstanden ist, der durch Vertreibung und Terror ein „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ (© Theodor Herzl) schaffen wollte. Zur Lösung des Problems sollte der Teilungsplan der UNO 1948 dienen. Israel hat den Plan missbraucht, einen eigenen Staat ausgerufen und verhindert nachhaltig das Entstehen eines Palästinenser-Staates durch völkerrechtswidrige Besetzung und Besiedlung des Gebietes. Diese Tatsachen werden vielfach – auch von ehrenwerten Medien – nicht beachtet. Man ist geblendet von den spektakulären, letztlich aber vergeblichen Rache-Aktionen der Hamas. Die Existenz Israels ist rechtlich und praktisch hinreichend gesichert. Solange allerdings Israel seinen Staatsterror nicht aufgibt, werden immer wieder Raketen auf Israel niedergehen. Ein Abschlachten von Menschen, wie von Netanjahu und Putin jeweils unter einem anderen Vorwand betrieben, sollte man heutzutage eigentlich nicht mehr für möglich halten. Josef Ruffer, 2344 Maria Enzersdorf Heikles Thema Migration „Die Mitte hat versagt“ Interview mit Othmar Karas Von Doris Helmberger Nr. 27, Seiten 6–7 Sogar der profunde Europapolitiker Othmar Karas stellt kurz vor dem Ablauf seiner Funktionsperiode fest, „die Mitte-Parteien hätten nicht neun Jahre lang (!) eine gemeinsame Antwort auf die Migrationskrise blockieren sollen“. Diese Blockade ist noch immer wirksam, und selbst kleine konkrete Vorhaben in Richtung Problemlösung werden von einem Großteil der veröffentlichten Meinung mit der politischen „FPÖ-Keule“ in Österreich und der politischen „AfD-Keule“ in Deutschland zunichte gemacht. Dabei wären gerade zum Thema Migration längst deutliche Differenzierungen angebracht. Die politische Mitte wird aber nach wie vor zum Wegschauen ermuntert! Johann Obwaller, 2540 Bad Vöslau GESELLSCHAFT IN KÜRZE ■ Barbie mit Blindenstock „Alles Gute für Paris“ Die Österreichischen Lotterien wünschen als Premium Partner den Athlet:innen des Olympic Austria Teams viel Glück für die 33. Olympischen Spiele. Wenn am Freitag, den 26. Juli, die Olympischen Spiele in Paris beginnen, dann drücken auch die Österreichischen Lotterien als Premium Partner des Österreichischen Olympischen Comités symbolisch die Daumen. Denn, wie es Lotterien-Generaldirektor Erwin van Lambaart ausdrückt: „Die Österreichischen Lotterien identifizieren sich mit den universellen Werten der Olympischen Bewegung: Friede, Freundschaft, Fair Play, Völkerverbindung, Chancengleichheit und sauberer Sport – all das sind Dinge, für die wir zu jeder Zeit einstehen. Wir sind stolz auf diese Partnerschaft, sie ist eine Win-win-Situation, weil beide Seiten davon profitieren.“ Die Österreichischen Lotterien wünschen allen 81 Athlet:innen, die Österreich in Paris vertreten, alles Gute, viel Erfolg und das nötige Quäntchen Glück im Kampf um die Medaillen. „Sport und Bewegung sind wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit und damit für unser persönliches Glück. Erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler sind gute Vorbilder und animieren Kinder und Jugendliche, ihnen nachzueifern“, so van Lambaart. v.l.n.r. Die beiden Fahnenträger Felix Oschmautz (Kanu) und Michaela Polleres (Judo), sowie Elisabeth Straka (Bogenschießen) und Lukas Weißhaidinger (Diskus). Barbie gibt es nun mit einer Sehbehinderung. Der Spielzeughersteller Mattel setzt damit seine Bemühungen fort, ein breiteres Abbild der Gesellschaft zu zeigen. Die neue Puppe hat einen Stock und trägt eine Sonnenbrille, wie das Unternehmen mitteilte. Die Verpackung ist mit Blindenschrift versehen. Mittlerweile gibt es die Puppe mit verschiedenen Merkmalen, als Barbie im Rollstuhl oder mit Downsyndrom. MEDIEN/INTERNATIONAL ■ Sechseinhalb Jahre Haft für US-Journalistin Ein russisches Gericht hat die US-Reporterin Alsu Kurmasheva zu sechseinhalb Jahren Strafkolonie wegen angeblicher Falschmeldungen über die Armee verurteilt. Anlass war ihr 2022 veröffentlichtes Buch „Nein zum Krieg. 40 Geschichten von Russen, die sich gegen die Invasion der Ukraine wehren“. Erst kürzlich wurde der US-Journalist Evan Gershkovich in Russland verurteilt (siehe Seite 11). Foto: © ÖOC/Michael Meindl
DIE FURCHE · 30 25. Juli 2024 Literatur 13 Von Brigitte Schwens-Harrant Harlem, New York, 2. August 1924. James Arthur Jones wird geboren. Noch vor seinem siebten Geburtstag wird er die Polizeigewalt kennenlernen. „Eines meiner frühesten abrufbaren Erlebnisse ist, wie mich zwei weiße Polizisten, ich war sechs, fast zu Tode prügelten“, erzählt er 1978 seinem deutschen Lektor Fritz J. Raddatz. Diese Gewalt reagiert ausschließlich auf die Hautfarbe. Weiß schlägt Schwarz. Das ist die Welt, in die James Baldwin – wie er heißen wird, nachdem er den Namen des Stiefvaters bekommen haben wird – hineinwachsen muss. Es ist eine Welt der himmelschreienden Ungerechtigkeit und eine Welt zunehmenden Hasses. Es wird nicht einfach sein, gegen das eine engagiert aufzutreten und es zu bekämpfen, ohne sich beim anderen, dem Verbreiten und Vermehren von Hass, aktiv zu beteiligen. Doch genau das ist die Spur, die James Baldwin verfolgen wird: als Schriftsteller in zahlreichen Romanen, in denen er die Lebensumstände erzählt und davon, wie sie sich auf das Innere von Menschen und ihre Beziehungen auswirken; als brillanter Analyst des Denkens und Handelns und der Politik seiner Zeit in zahlreichen Essays, die auch im Jahr 2024 noch eine Klarheit und Aktualität zeigen, die staunen lässt; als Bürgerrechtler, der in der Öffentlichkeit das Wort erhebt gegen Rassismus und gegen Diskriminierungen. Nachgereichtes Verständnis Doch bevor es so weit ist, muss er sich um seine Geschwister kümmern – denn seine Mutter wird noch acht weitere Kinder gebären. Und er muss seinen Stiefvater aushalten, den Baptistenprediger, der mehr und mehr gemütskrank wird. Die Kinder fürchten ihn; seine Versuche, ihnen nahezukommen, scheitern und enden mit Prügeln. Doch statt dem toten Vater ins Grab nachzuwettern, versucht Baldwin in seinem Text „Von einem Sohn dieses Landes“ eine verständnisvolle Annäherung, die er – und das ist typisch für seinen Blick auf die Menschen – in den gesellschaftspolitischen Kontext setzt. Denn dieser prägt ja die Menschen, er gibt ihnen Luft zum Atmen oder eben auch nicht. Jahrzehnte später lernt Baldwin zu verstehen: Der Vater „konnte die Weißen, die er hasste, nicht erreichen, er konnte sie nicht schlagen: also schlug er uns“. „Von einem Sohn dieses Landes“ beginnt mit dem Sterbetag des Vaters: 29. Juli 1943. Am selben Tag wird des Vaters jüngstes Kind geboren, James wird seiner Schwester dann ihren Namen Paula Maria geben. Vier Tage später wird James, der damals nicht mehr zu Hause wohnt, seinen neunzehnten Geburtstag feiern. Ein Monat zuvor tobten in Detroit „die blutigsten Rassismusunruhen des Jahrhunderts“. In Harlem brauen sich Unruhen zusammen. Zum Friedhof fährt die Familie den Vater am 3. August bereits „durch eine Wüste aus zertrümmerten Schaufensterscheiben“. Der innere Weg des jungen James, der sich vorgenommen hat, seinen Vater zu verachten, und als dieser tot ist, beginnt, über dessen „Leben nachzudenken und auch, auf neue Weise, mich um mein eigenes zu sorgen“, wird Vor 100 Jahren wurde James Baldwin in eine rassistische Welt himmelschreienden Unrechts geboren. Als Schriftsteller und Bürgerrechtler suchte er nach Wegen der Veränderung – und zwar ohne Hass. Hoffnung, trotzdem verknüpft mit den äußeren Ereignissen. Wie sollte man auch nachdenken über den Vater, ohne die Umstände Schwarzen Lebens damals zu bedenken? Des Vaters Mutter war noch in der Sklaverei geboren, der Vater selbst „gehörte zur ersten Generation in Freiheit“ und war mit „tausenden weiteren schwarzen Menschen“ 1919 in den Norden gekommen. Erfahrung des Zerstörenden Der Vater wurde gemütskrank, und bis man das bemerkte, „bestand schon keine Hoffnung mehr auf Heilung“: „Wir hatten nicht gewusst, dass der Verfolgungswahn ihn auffraß, und die Erkenntnis, dass seine Grausamkeit, die körperliche wie die seelische, ein Symptom seiner Krankheit war, half uns damals nicht, ihm zu vergeben.“ Im letzten Lebensjahr des Vaters lebte James Baldwin bereits in New Jersey. Dort lernte er, „dass schwarz zu sein genau genommen bedeutete, überhaupt nicht angesehen zu werden, sondern schlicht den Reflexen ausgeliefert zu sein, die die Farbe der eigenen Haut beim Gegenüber auslöste“. Dort machte er auch die Erfahrung, wie rasch sich der Hass Bahn brechen und das eigene Leben zerstören kann. Eines „ Dort lernte er, dass ‚schwarz zu sein genau genommen bedeutete, überhaupt nicht angesehen zu werden, sondern schlicht den Reflexen ausgeliefert zu sein, die die Farbe der eigenen Haut beim Gegenüber auslöste‘. “ Tages, so erzählt er, spürte er „ein Klick im Nacken, als würde ein innerer Faden gekappt, der meinen Kopf mit dem Körper verband. Ich setzte mich in Bewegung. (…) Ich wollte irgendwie diese weißen Gesichter zerquetschen, die mich zerquetschten.“ Er ging in ein Edelrestaurant und setzte sich. Der Kellnerin, die den Satz „Schwarze werden hier nicht bedient“ wiederholte, warf er einen halbvollen Wasserkrug entgegen. Auf einmal begriff er, was er getan hatte. Und er lief: hinaus und davon. Ein Freund schickte die Polizei in die Irre, um ihm bei der Flucht zu helfen. „Über zwei Dinge, die beide schwer zu fassen waren, kam ich nicht hinweg, und das eine war, dass man mich hätte umbringen können. Aber das andere, dass ich bereit gewesen war, einen Mord zu begehen. Ich sah nicht sehr klar, das allerdings sah ich: dass mein Leben, mein Leben in Gefahr war, und zwar nicht durch etwas, das man mir antun könnte, sondern durch den Hass in meinem Herzen.“ Wie wichtig, sich selbst so erfahren und begriffen zu haben, denn James Baldwin weiß: Der Hass zerstört immer auch den, der hasst. Dabei wollte James seinen sterbenden Vater eigentlich gar nicht wiedersehen, denn er wollte an seinem Hass festhalten. „Ein Wrack hatte ich nicht gehasst. Wahrscheinlich halten die Menschen auch deshalb so stur an ihrem Hass fest, weil sie ahnen: Ist der Hass einmal verschwunden, kommt der Schmerz.“ Es kommt nicht von ungefähr, dass Baldwin dieses Erlebnis im selben Text erzählt, in dem er das Warten thematisiert, das ganz Harlem befallen hat. Es wirkt wie eine Ruhe vor dem Sturm; es ist eine brutale Ruhe, die das Land ausstrahlt, da sich überall die Lesen Sie dazu auch „James Baldwin: Das Unmögliche“ von Brigitte Schwens-Harrant, erschienen am 7.3.2019, auf furche.at. Foto: Getty Images / Ulf Andersen James Baldwin Geboren am 2. August 1924 in Harlem, New York, USA, gestorben am 1. Dezember 1987 in Saint- Paul-de-Vence, Frankreich. durch gelebten Rassismus geschürten Spannungen verschärft haben. Die Unruhe wächst, die Polizeipräsenz auch. Während Baldwin „nach der Beerdigung verzweifelt“ seinen Geburtstag feiert, explodiert die Lage in Harlem. Weiße Geschäfte werden verwüstet. „Nichts von alledem kam irgendwem zugute. Es wäre besser gewesen, die Schaufenster heil und die Waren in den Geschäften zu lassen“, meint Baldwin und setzt hinzu: „Es wäre besser gewesen, aber auch unerträglich, denn Harlem musste etwas zerschlagen.“ Das bisherige Ventil, einander zu zerschlagen, reichte nicht mehr aus. Schweres Herz Während die Lage eskaliert, sucht der Sohn nach einem Weg für die Zukunft: „Mir wollte langsam scheinen, dass wir auf ewig an zwei scheinbar unvereinbaren Gedanken festhalten müssen. Der erste zielt auf Zustimmung, das Leben ganz ohne Groll so anzunehmen, wie es ist, und die Menschen so, wie sie sind: In diesem Licht versteht es sich von selbst, dass Ungerechtigkeiten zum Alltag gehören. Aber das bedeutet nicht, dass man sich FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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