Aufrufe
vor 6 Monaten

DIE FURCHE 25.07.2024

DIE

DIE FURCHE · 30 10 Diskurs 25. Juli 2024 Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich bin Joe Biden dankbar Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Verzeihen Sie, dass ich am Beginn dieses Briefes gleich einmal herzlich lache! Darüber, dass Ihnen ein Möchtegern-Altspatz rät, dass Sie sich um die Spuren Ihres Alterns kümmern sollten! Abgesehen davon, dass ich diese Bemerkung einfach für schlechtes Benehmen halte, führt sie mich gleich zu Ihrer Frage, ab welchem Zeitpunkt die „unbeschwerte Authentizität im Leben“ endet. Ich denke, dass sie nie endet, wohl aber zeitweilig abwesend sein kann. Nämlich immer dann, wenn wir „eine Rolle spielen“ – zum Beispiel in einer Führungsposition – und unsere Person – mit Maske und auf Kothurnen – lauter und größer erscheinen lassen wollen. So haben sich ja die Schauspieler im antiken griechischen Theater größer gemacht. „Eine Rolle spielen“ „ Authentisch sein heißt ja für mich ganz simpel: ehrlich sein. Das macht das Leben nicht leichter, aber leichter erträglich. “ Wenn wir eine bedeutende Rolle spielen möchten, sagt der alte weise Mann, ist dies der authentischen Leichtigkeit des Seins tatsächlich unerträglich – und sie stiehlt sich davon. So habe ich es erfahren. An mir selbst und bei anderen. Authentisch sein heißt ja für mich ganz simpel: ehrlich sein. Das macht das Leben nicht leichter, aber leichter erträglich. Und zwar dem Gewissen nach, weil dieses entlastet ist. Als ich in meinen jungen Jahren zum Theater wollte, wollte ich „eine Rolle spielen“. Im Beruf hingegen habe ich dann lieber Verantwortung übernommen. In der für mich passenden Größenordnung. Liebe Frau Hirzberger, Sie haben mich in Ihrem letzten Brief um meine Meinung „rund um Joe Biden“ gefragt, und ich bin Ihnen eine Antwort schuldig geblieben. Vielleicht kommt sie jetzt zu spät, aber hier ist sie. Ich bin Joe Biden dankbar. Immer wenn ich ihn im TV sehe, werde ich erinnert, dass ich meiner Wirbelsäule zuliebe aufrecht gehen soll. Wenn möglich, um alle Fettnäpfchen und Wortfindungsblockaden außen herum. Wenn Biden sagte, er möchte seine Arbeit fertigmachen, dann klingt das eigentlich vernünftig und gar nicht nach hohem Sendungsbewusstsein. Und ich werde an das eine oder andere begonnene Vorhaben erinnert, das ich eigentlich auch langsam zu einem hoffentlich guten Ende bringen sollte. Nun hat Biden, aus verständlichen Gründen, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl zurückgezogen und unterstützt seine jetzige Vizepräsidentin Kamala Harris. Auch das zeugt von Größe. Pflege von Freundschaften In Ihrem Brief sprechen Sie aber auch ein Thema an, das mir beträchtlich näher liegt: Freundschaft. Und zwar im sogenannten fortgeschrittenen Alter. Wenn ich kritisch bilanziere, dann überwiegen alte Freundschaften, die vielleicht schon ein wenig am Verblühen sind, gegenüber jenen, die erst jetzt, im Alter, neu aufgeblüht sind. Auch wenn es oft schwerfällt: Selbst die gediegensten „alten“ Freundschaften bedürfen der Pflege. Was nicht regelmäßig mit frischen Gedanken begossen wird, beginnt zu welken. Wie sehr wünsche ich mir bei der Pflege von Freundschaften dieses „Gefühl der Leichtigkeit“, von dem Sie schreiben. Diese Kraft jüngerer Jahre, als uns lange Gespräche (und die hat es zuhauf gegeben!) erfrischt und kaum je ermüdet haben. Dies wünsche ich Ihnen – zusammen mit Ihren Freundinnen – zu Ihrem Geburtstag! Und überhaupt! Von Peter Strasser In Spanien, Schweden und Italien wird gegen den In FURCHE Nr. 25 Massentourismus protestiert. Philosoph Peter Strasser 3800 18. Juni 2020 fragt, wie die Idee des Urlaubs überhaupt entstanden ist. Vergangenes Wochenende hielten die Bewohner Barcelonas Schilder mit der Aufschrift „Tourists go home. You are not welcome“ („Touristen geht heim. Ihr seid nicht willkommen“) in die Höhe. Nicht nur das: Mit Wasserpistolen zielten sie auf Urlauber, die sich in den beliebten Restaurants und Cafés in der Innenstadt tummelten. Auch auf den Kanarischen Inseln, auf Mallorca und in Málaga regt sich der Protest. Doch Spanien ist nicht das einzige Land: Auch in Italien und Schweden wird der sogenannte „Overtourism“ angeprangert. Der Philosoph Peter Strasser hat 2020 einen Blick in die Geschichte geworfen und erklärt, wie die Idee des Urlaubs überhaupt entstanden ist – und warum sie so beliebt wurde. Zwischen Stress und Erholung Die kollektivvertraglich zugesicherte Auszeit liefert kein Heilmittel für das Burn-out. Darüber hinaus mögen sich jene Österreicherinnen und Österreicher, die aus Mangel an verfügbaren Arbeitsplätzen zu viel anstatt zu wenig an erzwungener Freizeit haben, eine grundsätzliche Frage stellen: Wozu Urlaub? Von daher mag es wieder schärfer ins kollektive Gedächtnis treten, dass der Urlaubsgedanke ursprünglich einer war, welcher angesichts der Knochenschinderei eines durchschnittlichen Arbeiterlebens zur gewerkschaftlichen Forderung wurde. Nicht die Seele brauchte zu baumeln, sondern der Körper dürstete nach Erholung von der Plackerei. Von Kurorten und Zweitwohnsitzen Man forderte ein bescheidenes Pendant zur Sommervillenexistenz der wohlbetuchten Geschäftswelt, die im Kurort ihren Zweitwohnsitz hatte, während der Patriarch des Haushalts meist nur am Wochenende zu Besuch kam, um seine Firma oder die Geldangelegenheiten, worin der Sinn seines Lebens recht eigentlich bestand, nicht ohne Aufsicht zu lassen. Dabei konnten die Beamten, zumal die höheren, samt ihrem Anhang nicht einfach zusehen: Es wurde gekurt, in Wandelhallen mineralhaltiges Wasser getrunken, allerlei Geselligkeit im Freien zelebriert und am Abend jener leichten Muse gehuldigt, die im Normalbetrieb des grauen Alltags weitgehend fehlte. Und gewiss wäre es intellektueller Dünkel, wollte man die schlichten Urlaubsfreuden schlechtmachen, die sich der sogenannte kleine Mann leisten konnte und worauf er – noch jenseits des Massenjettourismus – stolz war. Es ist schon lange her, man denke an die prosperierende Nachkriegszeit, als 1951 der Kinderstar Cornelia „Conny“ Froboess trällerte: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein ...“ Die Fünfzigerjahre: Es wurde – so der deutsche Schlagerhit, auch hierzulande in den Wunschkonzerten gerne gespielt – durch den Grunewald hinaus zum Wannsee geradelt; um „acht“ mussten die Flüggegewordenen dann Foto: iStock / Adam Smigielski wieder zu Hause sein. An solchen Idyllen wird dem rückblickenden Betrachter deutlich, dass unsere Welt, einschließlich unserer Urlaubswelt, wieder kleinräumiger geworden ist. Freilich kommt dem Pessimisten gleich ein Buchtitel in den Sinn, der von unserem jüngsten Nobelpreisträger, einem passionierten Weltenwanderer und Nichturlauber, stammt: „Als das Wünschen noch geholfen hat“ … AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (CvD), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Mag. Till Schönwälder, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger +43 664 88140777; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417

DIE FURCHE · 30 25. Juli 2024 Diskurs 11 Österreich ist ein Zuwanderungsland und muss sich, schon aus wirtschaftlichen Gründen, dazu bekennen – aber nicht dazu, dass die Falschen kommen und die Richtigen nicht. Ein Gastkommentar. Was beim Thema Migration bedacht werden sollte Die EU gründet sich auf die unteilbaren und universellen Werte der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität, sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie einen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts begründet. Eine stolze Ansage, doch überfällt uns die Sorge, dass wir unsere Agenda aus den Augen verloren haben und sich unser Raum der Freiheit in Sicherheitsängsten verengt hat. Am 17. Juli berichtete der Falter über Gewalt zwischen Jugendbanden in Wien mit syrischen und tschetschenischen Wurzeln. Gleichzeitig postete Falter-Chefredakteur Florian Klenk Beobachtungen von Messerangriffen, Opfer und Täter mit Migrationshintergrund, im „seit einiger Zeit versifften“ Yppenviertel, räsonierte, man wisse aus Malmö, dass Bandenkriminalität in kurzer Zeit ganze Viertel ruinieren könne, und forderte mehr Repression gegen die kleine, schwerkriminelle Szene, auch mehr sichtbare und für alle ansprechbare Polizei. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts scheint bedroht. Wenige Wochen davor publizierte der Falter, dass 68 Prozent der Volksschulerstklässler (mit Migrationshintergrund, aber mehrheitlich hier geboren) in Margareten außerordentliche Schüler sind, die mangels ausreichender Deutschkenntnisse dem Unterricht nicht folgen können, 57 Prozent sind es in Ottakring. Wiens grüner Bildungssprecher, der Mittelschullehrer Felix Stadler, konstatierte parallel im Standard über seine Schüler in der Leopoldstadt (96 Prozent mit anderer Erstsprache als Deutsch, viele in Wien geboren), „sie können sich in keiner Sprache ausreichend ausdrücken“. Vom AMS wird eine erhebliche Anzahl funktionaler Analphabeten unter den Abgängern Wiener Mittelschulen angenommen. Ist das ein Raum, der die unteilbare und universelle Würde des Menschen wahrt, oder einer, der sie für die hier (mit oder ohne längere heimische Wurzeln) Geborenen und die Zuwandernden verletzt? Den Raum der Freiheit spannen individuelle und republikanische Freiheit aus, Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Aurelius Freytag „ Wir haben, bei allen Fehlern in unserer Geschichte, jeden Grund, auf unser wertebasiertes System stolz zu sein. “ ein wesentlicher Teil Letzterer ist die Beherrschung der eigenen Grenzen und der Zuwanderung über diese. Es gibt kein Menschenrecht auf Zuwanderung, das gegen diese Freiheit abzuwägen ist. Völkerrechtliche Verpflichtungen bestehen aber zur Gewährung von Asyl für aus definierten Gründen Verfolgte; ein moralisch hohes Gut. Von den 2023 Zugewanderten stammten 55 Prozent aus dem Europäischem Wirtschaftsraum (EWR), von den restlichen 45 Prozent wanderten zwei Drittel durch Stellung von Asylanträgen zu, ein weiteres Fünftel aus der Ukraine. In den letzten Jahren erwiesen sich zwei Drittel aller Asylanträge als unberechtigt, was aber am Aufenthalt oft nichts ändert. Ein dysfunktionales Asylsystem, das derart die republikanische Freiheit aushöhlt, kann nicht aufrechterhalten und muss reformiert werden. Dessen Defizite allein erklären aber die Probleme nicht. Mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung weist einen Migrationshintergrund aus. Österreich ist ein Zuwanderungsland und muss sich, schon aus wirtschaftlichen Gründen, dazu bekennen; aber nicht dazu, dass die Falschen kommen und die Richtigen nicht. Das Bekenntnis verlangt, Multikulturalität im Rahmen der von uns definierten öffentlichen Ordnung zu akzeptieren; es gibt kein Zurück zum Ethnonationalismus. Zentrale Teile dieser öffentlichen Ordnung wurden anfangs zitiert, essenziell ist aber auch eine geteilte Version des guten Lebens, was eine positive Haltung zu Bildung und Erwerbsarbeit sowie eine Beteiligung an der Aufrechterhaltung und Finanzierung einer demokratischen und sozialstaatlichen Infrastruktur einschließt. Wir haben, bei allen Fehlern in unserer Geschichte, jeden Grund, auf unser europäisches, wertebasiertes System stolz zu sein. Der Stolz ist bei manchen in einem, zuletzt von postkolonialen Ideologien getriebenen, Kulturrelativismus verlorengegangen. Doch das kann nicht rechtfertigen, mühsam erkämpfte Errungenschaften der Emanzipation, der Toleranz gegenüber Homosexuellen oder der Bekämpfung von Antisemitismus zu verschleiern oder aufzugeben. Jedes Zuwanderungsland bedarf einer Willkommens- und einer Integrationskultur. Das schließt ein, zu definieren, wer willkommen ist und wer nicht, und die Willkommenen beim Erlernen unserer Sprache, bei der Inte gration in unsere öffentliche Kultur, unser Bildungsund Wirtschaftssystem und unseren Arbeitsmarkt zu unterstützen. Legitim gehört dazu, Ziele der Integration vorzugeben und einzufordern sowie deren Verletzung zu sanktionieren, auch durch den Entzug von Sozialleistungen. Uns ist manches gelungen, zu viel nicht. Ursprünglich war man an der Integration von „Gastarbeitern“ nicht interessiert. Zuletzt schien es, also wollte man die verlorene Kontrolle über die eigenen Grenzen durch eine Unwillkommenskultur für die Angekommenen kompensieren, um Zustrom zu bremsen. Teils scheiterte Integration auch an geradezu empirisch resistenter Ideologie, etwa dass Zuwanderer nach Erlernen ihrer Heimatsprache Deutsch besser erlernten oder dass Zwang immer falsch sei. Teils war man zynisch zufrieden, wenn nur „alles ruhig bleibt“, egal ob Integration scheitert. Wie oft gilt, dass die konkrete Umsetzung entscheidend ist. Prinzipien zu definieren, ist für die Diskussion aber notwendig. Der Autor ist Rechtsanwalt und Partner von Eversheds Sutherland. ZUGESPITZT Eine Steuer für Swift Sie sprengt nicht nur alle Rekorde, sondern derzeit auch alle Nachrichtenseiten heimischer Medien. Noch ein Artikel mehr mit dem Titel „Das Phänomen Taylor Swift“, und ich schreibe den Journalismus ab. Nun kommt das „Phänomen“ nach Wien. Drei Konzerte wird Swift im Zuge ihrer „Eras-Tour“, die längst ausverkauft ist, im Ernst-Happel-Stadion absolvieren. Der Stadt könnte das Millioneneinnahmen bringen, wie die Wirtschaftsagentur Wien pro gnostiziert. Wer braucht da eine Erbschafts- oder gar eine Vermögenssteuer? Vielleicht wäre es ratsam, künftig eine Swift-Steuer einzuführen. Die Sängerin wird als erste „natürliche“ Person verpflichtet, in allen Ländern, in denen sie tourt, eine Einkommenssteuer abzuführen. Dann können sich wohlhabende Steuerhinterzieher erholt zurücklehnen. Recherchen wie die Panama-Papers werden nicht mehr nötig sein. Der weltweite Wohlstand wird ansteigen. Und vielleicht kehrt auch der Weltfriede ein? Etwas anderes: Haben Sie sich nicht auch schon gefragt, warum der SWIFT-Code so heißt, wie er heißt? Wäre dieser in Swift’scher Hand, könnten Microsoft-Updates, alias „der blaue Tod“, der Welt nichts mehr anhaben. Wie heißt es in Swifts Song „Cruel Summer“? „It’s blue, the feeling I’ve got“. Manuela Tomic PORTRÄTIERT Ein weiteres Opfer der russischen „Praxis“ Tapfer und mit aufrechter Haltung steht Evan Gershkovich im Glaskäfig im Gericht von Jekaterinburg. Seine braunen Haare sind mittlerweile ganz kurzrasiert, er wirkt mitgenommen. Und dennoch versucht er zu lächeln, als die Kameras auf ihn gerichtet sind und der Richter seine Strafe verkündet: 16 Jahre Haft dafür, dass der Journalist Gershkovich einfach nur seine Arbeit gemacht hat. Auf die Frage des Richters, ob Gershkovich noch etwas sagen möchte, antwortet er mit einem Nein. Diese Szene ereignete sich vergangenen Freitag. Seit 2017 lebt und arbeitet der US-Amerikaner Gershkovich in Russland. Er war drei Jahre Reporter bei The Moscow Times, ab 2020 bei der Agence France-Presse und arbeitet seit Jänner 2022 für das Wall Street Journal in dessen Moskauer Büro. Gershkovich war beschuldigt worden, im Auftrag des US-Geheimdienstes CIA Informationen über einen russischen Panzerhersteller gesammelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von 18 Jahren gefordert. Der 32-Jährige bestreitet die Vorwürfe. Das Wall Street Journal sprach von einem Scheinurteil. Mittlerweile liegt Gershkovichs Fall in oberster Hand: Die US-Regierung wies das Urteil als unrechtmäßig zurück. Gershkovich sei zur Zielscheibe der russischen Regierung geworden, „weil er Journalist und Amerikaner ist“, teilte US-Präsident Joe Biden in einer schriftlichen Stellungnahme mit. Die Regierung kämpfe weiter für eine Freilassung des Reporters mit jüdisch-russischen Wurzeln. Mittlerweile gibt es aber bereits neue Spekulationen: Das ungewöhnliche Tempo, mit dem der Prozess hinter verschlossenen Türen abgehalten wurde, hat Gerüchte genährt, dass ein langdiskutierter Gefangenenaustausch zwischen Russland und den USA bevorstehen könnte. In der Regel muss nach russischer Justiz praxis ein Urteil vorliegen, damit es zu einem Austausch kommt. Nach offiziellen russischen Angaben laufen im Verborgenen Verhandlungen über einen Austausch Gershkovichs mit den USA, ohne dass bisher eine Einigung erzielt werden konnte. Der Machtapparat presst so immer wieder in den USA inhaftierte Russen frei. Zudem soll der Kreml ein Interesse daran haben, einen nach dem Mord im Berliner Tiergarten 2021 verurteilten Russen in Deutschland freizubekommen. Gershkovich scheint ein weiteres Opfer dieser „Praxis“ zu sein. Der amerikanische Reporter braucht jetzt vor allem eines: Durchhaltevermögen. (Manuela Tomic/apa) Foto: APA / AFP / Alexander Nemenov Vergangenen Freitag wurde der US-Reporter Evan Gershkovich in Jekaterinburg zu 16 Jahren Haft verurteilt. Er hat nur seinen Job gemacht.

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023