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DIE FURCHE · 21 25. Mai 2023 International 7 Vor den Nazis geflohen, für die US-Army gekämpft, Sicherheitsberater des Präsidenten, Friedensnobelpreisträger und umstrittenster Außenminister der Vereinigten Staaten – Henry Kissinger erlebte und prägte das Weltgeschehen. Zu seinem 100. Geburtstag. Zwischen Kleeblatt und Realpolitik Von Brigitte Quint „Es war begeisternd, aufwühlend, und es war gefährlich für mich als Jude“, so lautete die Antwort des gebürtigen Nordbayern Heinz Alfred Kissinger auf die Frage eines Journalisten, welche Erinnerungen er an die fränkischen Derbys – SpVgg Greuther Fürth gegen den 1. FC Nürnberg – habe. „Juden waren in dieser Zeit bei öffentlichen Veranstaltungen unerwünscht. Das stand an vielen Wänden. Aber ich habe mich nicht abhalten lassen, ich wollte einfach Fußball sehen.“ Neben seinem noch immer hörbaren deutschen Akzent ist nur noch eines unamerikanisch an Henry Kissinger: seine Liebe zum Fußball, insbesondere der SpVgg Greuther Fürth. Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass sich Kissinger selbst bei den schwierigsten geopolitischen Ereignissen und Verhandlungen über den Spielverlauf bei den „Kleeblättla“ (der Spitzname des Vereins, der sich auf das dreiblättrige Kleeblatt im Stadtwappen und im Vereinslogo bezieht) von seinem Mitarbeiterstab auf dem Laufenden halten ließ. Ein letztes Stück Kindheit vielleicht, die ob der Nazi-Herrschaft abrupt endete: Illustration: Rainer Messerklinger Kissinger (re.) und seine Frau Nany (li.) mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidentenpaar Jitzchak und Leah Rabin in Washington, D.C. Foto: APA / AFP / Consolidated News Negatives Menschenbild als Maxime 1933 wird jüdischen Kindern in Deutschland untersagt, öffentliche Schule zu besuchen. Der damals zehnjährige Heinz und sein ein Jahr jüngeren Bruder Walter werden des Unterrichts verwiesen. Auch Vater Louis, ein Gymnasiallehrer am Fürther Mädchenlyzeum, wird über Nacht arbeitslos und wenig später vom Bayerischen Staatsministerium in „dauerhaften Ruhestand“ versetzt. Die Kissingers müssen erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Freunde, Verwandte, Nachbarn zunehmend auf Distanz zu einem gehen. Nach wenigen Monaten sind die vier in ihrer Heimatstadt Fürth – von den Nazis abfällig als „bayrisches Jerusalem“ – geschmäht, isoliert. Ein Grund, warum vor allem die Mutter Paula, Tochter des wohlhabenden Viehhändlers Stern, ihren Mann dazu drängt, beim Polizeiamt Pässe zu beantragen und um Ausreise in die Vereinigten Staaten anzusuchen. Eine Woche später genehmigt die Gestapo die Auswanderung. Am 10. August 1938 – nur einen Monat vor der Reichspogromnacht – meldet Louis Kissinger sich und seine Familie beim Polizeipräsidium Fürth offiziell ab. Kurz darauf sind sie auf dem Weg nach London, bis sie schließlich am 30. August 1938 per Schiff an Bord der „Île de France“ von Le Havre nach New York übersetzen. Der wohl berühmteste und umstrittenste Außenminister in der US-Geschichte – auf der einen Seite wird er heute als überragender Staatsmann verehrt, auf der anderen als zynischer Machtpolitiker gescholten – ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Von 1938 bis 1941 besucht Kissinger die George Washington High School in New York; studiert dann Politikwissenschaften. Allerdings nur einige Semester. Ab 1943 gilt es für ihn, Militärdienst bei der US- Spionageabwehr zu leisten. Zunächst als Sergeant in Belgien, später in Deutschland. 1945 ist Kissinger unter jenen US-Soldaten, die das KZ-Außenlager Hannover-Ahlem befreien. Eine Herausforderung für den 22-Jährigen. Menschlich, weil mindestens 13 Angehörige seiner Familie in den Konzentrationslagern ermordet wurden; politisch, weil sich sein negatives Menschenbild verfestigt. Groll gegen Deutschland sucht man bei ihm bis heute allerdings vergebens. Nach dem Krieg beendet Kissinger sein Studium am Harvard College (das er mittels diverser Stipendien finanziert), promoviert 1954 und unterrichtet bis 1971 als Professor an der Harvard University. Nicht den Visionär, sondern den klug kalkulierenden Staatsmann stilisiert er zum Ideal. Leitfiguren wie Metternich oder Bismarck analysiert er, durchaus fasziniert, aufgrund ihrer machtpolitischen Raffinesse – sie bieten ihm einen historischen Ausgangspunkt für die aktuelle Problemlösung. Lesen Sie hierzu die Besprechung des jüngsten Buches von Henry Kissinger „Staatskunst“ (10.8.2022) von Brigitte Quint auf furche.at. „ Seine Rolle beim Putsch in Chile 1973, die Genehmigung der Invasion in Osttimor sowie die Bombardierung Kambodschas gelten als Schattenseiten der Ära Kissinger. “ Selbstbild, Fremdbild Kritischen Stimmen in Bezug auf Entscheidungen, die er in seiner Amtszeit getroffen hat, begegnet der „Altmeister der Diplomatie“ mitunter ruppig. Er nennt es zuweilen „Emotionen aufstacheln“. Der erste große Abstecher in die Realpolitik ist eine Beratertätigkeit für John F. Kennedy. Doch die Chemie zwischen den beiden stimmt nicht. Kissinger wendet sich den Republikanern zu, wo er den Job des Nationalen Sicherheitsberaters übernimmt. 1973 gelingt ihm gemeinsam mit dem vietnamesischen Politiker Le Duc Tho ein Waffenstillstand im Vietnamkrieg. Dafür erhalten die beiden im selben Jahr den Friedensnobelpreis – im Gegensatz zu Kissinger lehnt Le Duc Tho diesen ab. Nachdem 1969 Nixon zum Präsidenten der USA gewählt wird, ändert sich Kissingers Rolle. Er ist nicht mehr jener, der im Hintergrund die Fäden zieht, er steht selbst im Zentrum der Macht. Viele halten Nixons Memorandum (verfasst von Kissinger) als den Schlüsseltext für das geopolitische Verständnis des „Altmeisters der Diplomatie“. Zusammengefasst: Die USA sollen ihre Rolle als Hegemon aktiver verlautbaren. China, die (damals noch existierende) UdSSR sowie die „dritte Welt“ gilt es in ihre Schranken zu weisen, und psychologische Kriegsführung muss ein selbstverständlicher Teil der politischen Praxis werden. Es ist ein logischer Schritt, dass Kissinger im September 1973 zum Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika ernannt wird. Ein Amt, das er bis 1977 innehat. Die Entscheidungen von Amerikas einstigem Chef diplomaten werden bis dato kontrovers diskutiert: Allen voran stehen sie für eine harte Realpolitik. Kritisiert werden insbesondere Kissingers Rolle beim Putsch in Chile 1973, die Genehmigung der völkerrechtswidrigen indonesischen Invasion in Osttimor (in nur einem Jahr kamen etwa 60.000 Menschen zu Tode) sowie die Ausweitung des Vietnamkriegs und die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas, um vietnamesische Nachschubrouten zu zerstören – nicht wenige machen Kissinger für die Eskalation des Vietnamkrieges verantwortlich. Als Jimmy Carter 1977 Präsident der USA wird, scheidet Kissinger weitestgehend aus der aktiven Politik aus. Herz-OPs und Hörverlust Zu Wort meldet er sich dennoch regelmäßig. Als Berater, Autor, Redner und via Interview. Allerdings weniger zu den Vorwürfen, die seine eigene Politik betreffen. Wird er in Interviews damit konfrontiert, reagiert er mitunter ungehalten. Jüngst bekam das ein Reporter des US-Senders CBS zu spüren. „Sie wählen ein Thema aus, das vor sechzig Jahren passiert ist. Sie müssen wissen, dass es ein notwendiger Schritt war. Jetzt hat die jüngere Generation das Gefühl, dass sie nicht groß nachdenken muss, wenn sie Emotionen aufstachelt“, erklärte der Ex-Außenminister, der nach eigenen Angaben nach wie vor 15 Stunden täglich arbeitet – trotz mehrerer Herz-OPs, partiellen Gehörverlusts und der Erblindung eines seiner Augen. Selbstkritik scheint also nicht unbedingt zu den Stärken von Henry Kissinger zu gehören. Daher hat es sich für Journalisten bewährt, das „Kleeblättla“ zu thematisieren, bevor man in die große Weltpolitik einsteigt. Was auch Sinn macht. „Es war begeisternd, aufwühlend, und es war gefährlich für mich als Jude.“ Am 27. Mai wird der berühmteste Fan des Vereins 100 Jahre alt.
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