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DIE FURCHE 25.05.2023

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DIE FURCHE · 21 22 Wissen 25. Mai 2023 Von Martin Tauss HUMAN SPIRITS Buddhadasas Erbe für heute Draußen rattern die Lkws vorbei, um Waren aus dem südlichen Thailand nach Bangkok zu bringen. Doch gleich hinter der Schnellstraße wird es wild: Das Klostergelände in Wat Suan Mokkh grenzt an einen Dschungel, in dem sich die Hütten der Mönche befinden. Diese stehen auf Stelzen, denn auch Schlangen und Skorpione haben hier ihre Heimat. Wenn abends die Dämmerung einfällt, verwandeln sich Massen von surrenden Insekten in eine Mauer, die sich um den tropischen Wald legt. Es gibt keine Laternen; jeder Schritt benötigt viel Sorgfalt und Achtsamkeit. Genau das wird in dem von Achan Buddhadasa (1906–1993) gegründeten Kloster vermittelt. Die Türen stehen hier offen für Interessierte aus aller Welt. Mit seinen Schriften zählt Buddhadasa, dessen Todestag sich am 25. Mai zum 30. Mal jährt, zu den bedeutendsten buddhistischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Er bemühte sich um eine bodenständige Auslegung der buddhistischen Lehre, die nicht nur Mönchen und Nonnen, sondern auch Bauern, Politikern und Büroangestellten zugänglich gemacht werden sollte – damit diese direkt für die moderne Gesellschaft von Nutzen sein kann. Als jemand, der die Essenz der Lehre vom Volks- und Aberglauben befreien wollte, der sich in Thailand wie ein Lianengeflecht darüber gelegt hatte, betonte er, dass es nicht darum geht, brav irgendwelche Rituale zu vollziehen oder nur religiöse Schriften zu studieren. Die Essenz der Lehre finde sich mitten in der Praxis des Alltags, und jedermann/ jederfrau sei es möglich, einen unmittelbaren Geschmack davon zu erhalten. Dieses Schmecken bezeichnete er gewissermaßen als Appetithäppchen von „Nibbana“ (Pali), dem höchsten Ziel im Buddhismus. Foto: Jorge Fernandez Ruiz / www.jorgenn.com Im Vormarsch Adipositas (schweres Übergewicht) ist vor allem in den Industrieländern stark im Steigen. Mit innovativen Medikamenten wird derzeit ein neues Kapitel in der Adipositas-Therapie eingeläutet. Doch die vielbeworbene „Diätspritze“ sollte keine falschen Hoffnungen wecken. Im Kampf gegen die Kilos „ Zufriedenheit mitten im Alltag, zunehmend unabhängig von äußeren Umständen: Das war eine der bodenständigen Lehren von Buddhadasa. “ Seine gesammelten Lehren sind letztes Jahr im englischen Sammelband „Seeing with the Eye of Dhamma“ erschienen. Dort heißt es: Alles, was man behutsam und aufmerksam erledigt, wird zu einem friedlichen Geist führen – was dem Sinn nach „Nibbana“ entspricht. Egal ob beim Reisanbau, Kochen oder Abwaschen: Wenn man alle Dinge mit Achtsamkeit und Hingabe angeht, werden sie kein Ungenügen mehr bereiten, sondern zur inneren Zufriedenheit beitragen. Und wer es gelernt hat, diese Zufriedenheit zunehmend unabhängig von äußeren Umständen zu kultivieren, wird immer weniger Schaden in der Welt anrichten. Das ist die Grundlage für den sozial und ökologisch engagierten Buddhismus, den der Thailänder auch vielen „Westlern“ vermittelt hat. Und eine treffliche Botschaft für unsere Gesellschaft, die vor der Megaherausforderung einer ökosozialen Wende steht: Buddhadasa wusste, wie wichtig technologische Innovationen sind. Doch um in Einklang mit den Gesetzen der Natur zu leben, bedarf es auch eines inneren Wandels, der die Schönheit seines Sinnspruchs zu entdecken vermag: „Lebe bescheiden, aber strebe hoch hinaus!“ Von Doris Neubauer und Martin Tauss Die Venus von Willendorf ist von gestern. Zumindest wenn man den Maßstab der Menschheitsgeschichte anlegt: Über Jahrtausende war der Homo sapiens oft traumatischen Mangelerfahrungen ausgesetzt. In der kargen Steinzeit galten die Rundungen der Venus daher als Symbol der Schönheit und Fruchtbarkeit. „Übergewicht ist so gesehen ein sehr junges Phänomen“, sagt die Internistin Johanna Brix, Präsidentin der Österreichischen Adipositas-Gesellschaft. „In der Evolutionsgeschichte wurde unser Körper darauf gepolt, den bedrohlichen Mangelerscheinungen vorzubeugen. Der Organismus versucht daher, das einmal erreichte Gewicht beizubehalten. Das ist der Grund, warum es uns oft so schwerfällt, abzunehmen.“ Das moderne Schönheitsideal ist geprägt von Schlankheit – und trägt zuweilen schon die Züge der Magersucht. Kein Wunder also, dass Mittel zum Abnehmen heute auf große Aufmerksamkeit stoßen. Der Hype um die sogenannte Diätspritze ist dennoch außergewöhnlich: Millionen von Aufrufen verzeichneten die Hashtags #Ozempic und #Wegovy allein auf der Social-Media-Plattform Tiktok. Und es werden weiter mehr. Denn dahinter verbergen sich Videos, die versprechen, wovon unzählige Menschen weltweit träumen: ein „Wundermittel“, mit dem überschüssige Kilos buchstäblich weggespritzt werden können. Ozempic® ist der Handelsname von Semaglutid, einem Wirkstoff, der seit Jahren zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt wird (siehe Kasten). 2021 zeigten klinische Studien, etwa die STEP-1-Studie im Auftrag der Herstellerfirma Novo Nordisk, dass das einmal wöchentliche Spritzen des Wirkstoffs in erhöhter Dosis bei übergewichtigen Menschen zu einer Gewichtsabnahme führt. Und zwar auch bei denjenigen, die nicht an Diabetes leiden. Nach 68 Wochen lag die Gewichtsreduktion unter Therapie mit Semaglutid und einem gesünderen Lebensstil bei knapp 15 Prozent. Die „ Über Jahrtausende war der Mensch oft traumatischen Mangelerfahrungen ausgesetzt. In der Steinzeit galten die Rundungen der Venus von Willendorf noch als Schönheitsideal. “ Placebogruppe, die sich ebenfalls gesünder ernährte und mehr bewegte, nahm im gleichen Zeitraum nur um 2,4 Prozent ab. „Sogenannte GLP1-Rezeptor-Agonisten wie Semaglutid oder Liraglutid wirken an verschiedenen Angriffspunkten im Körper“, erklärt die Stoffwechselexpertin Birgit Jandrasits von der Klinik Hietzing die Wirkungsweise: „Einerseits mindern sie im Gehirn den Appetit, regulieren aber auch das Sättigungsgefühl.“ Damit würden Heißhungerattacken reduziert. Andererseits verlangsame sich die Magenentleerung, wodurch sich ein schnelleres Sättigungsgefühl einstelle. Frustration durch Jo-Jo-Effekt „Eben genannte Gründe erklären eine reduzierte Speisen- und Kalorienaufnahme, was zur Gewichtsreduktion beiträgt“, so die Ärztin. Ohne geändertes Essverhalten sowie mehr Bewegung könne aber selbst mit einem „Wundermittel“ nur kurzfristig ein Gewichtsverlust erzielt werden, erstickt sie falsche Hoffnungen im Keim. Denn „nach Absetzen eines solchen Präparats besteht ohne Lebensstil-Intervention die Gefahr, wieder zuzunehmen, weil der Körper evolutionstechnisch gesehen auf sein Höchstgewicht zurück möchte – der berühmte Jo-Jo-Effekt. Folglich muss der Lebensstil geändert werden, damit der Gewichtsverlust und das Halten des Gewichts nachhaltig sind.“ Unter dieser Vorausset-

DIE FURCHE · 21 25. Mai 2023 Wissen 23 zung sieht sie in diesen Wirkstoffen jedoch „das Potenzial für einen game changer“. „Mit der Entwicklung von neuen Medikamenten beginnt sich die Therapie der Adipositas zu wandeln“, bestätigt Johanna Brix. Problematisch sei derzeit jedoch, dass Wirkstoffe wie Semaglutid oder Liraglutid oft als „Abnehm- und Diätwundermittel“ bezeichnet und somit als Lifestyle präparate beworben würden. Solche Berichte ließen betroffene Menschen falsche und übertriebene Erwartungen hegen. „Die bewährten Mittel zum Abnehmen sind weiterhin mehr Bewegung und gesünderes Essen“, so Brix. „Bei schwer übergewichtigen Personen greifen diese konventionellen Methoden zu wenig. Ermahnungen wie ‚Essen Sie halt weniger‘ oder ‚Sie sollten dringend abnehmen‘ helfen hier wenig.“ Dieses Verständnis ist wichtig, um der weiterhin verbreiteten Stigmatisierung adipöser Menschen entgegenzuwirken. „DIÄTSPRITZE“ Strenge Indikation „ Bei schwer übergewichtigen Personen greifen Lebensstil-Interventionen wie Diät oder regelmäßige Bewegung zu kurz. “ Johanna Brix, Präsidentin der Österreichischen Adipositas-Gesellschaft „ Onlinevideos versprechen, wovon unzählige Menschen weltweit träumen: ein ‚Wundermittel‘, mit dem Kilos buchstäblich weggespritzt werden können. “ Influencer Elon Musk Für diese Patientengruppe bietet die Abnehm spritze eine Alternative zu einer Magenteilentfernung, die bisher die meisten Kilos purzeln ließ: „Die Daten sind vielversprechend“, gibt sich Jandrasits optimistisch: „Damit haben wir ein vielversprechendes Tool in den Händen, mit dem ein ähnlich starker Gewichtsverlust wie durch chirurgische Eingriffe möglich scheint.“ Zumindest in der Theorie. Zwar ist Semaglutid seit Jänner 2022 unter dem Handelsnamen Wegovy® in der EU bei Adipositas und damit einem BMI ab 30 oder einem BMI ab 27 mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung zugelassen. Doch die Sache hat einen Haken: „Es gibt derzeit große Probleme bei der Verfügbarkeit, nicht zuletzt auch aufgrund der niedrigen Medikamentenpreise in der EU“, berichtet Johanna Brix. Da Ozempic® zunehmend off-label, also ohne Zulassung, als Lebensstilmedikament eingesetzt wird, ist die Nachfrage weltweit gestiegen. Zusätzlich befeuert wurde dieser Hype von Prominenten wie Elon Musk und anderen „Influencern“ in den sozialen Medien, die auf diese Weise ein paar Pfunde abgenommen haben. In den USA kam es deshalb zu Lieferengpässen für Diabetiker. Auch in Frankreich und Australien wurden Angehörige der Gesundheitsberufe von den Behörden aufgefordert, neue GLP-1-Arzneimittelverschreibungen nur im Sonderfall und für spezielle Patientengruppen einzuleiten. Nebenwirkungen wie Übelkeit und Magen-Darm-Beschwerden (Durchfall etc.) sind laut Packungsbeilage „sehr häufig bis häufig“. Sie sollten in der Regel jedoch nach einigen Wochen der Einnahme zurückgehen. „Die unerwünschten Wirkungen sind relativ schwach ausgeprägt und halten nur kurz an, wenn man die Dosis vorsichtig steigert“, berichtet Birgit Jandrasits aus der Praxis. Eine Einnahme aus „Schönheitsgründen“ sei also keinesfalls ratsam, so Johanna Brix im Namen der heimischen Fachgesellschaft: „Bei der Verabreichung von Ozempic handelt es sich nicht um ein Nahrungsergänzungsmittel, sondern um eine medizinische Indikation.“ Denn Adipositas ist eine Krankheit mit oft schwerwiegenden Folgen, darunter Fettleber, Schlafapnoe bis hin zu Typ-2- Diabetes. Adipositas ist vor allem in den Industrieländern stark im Vormarsch. In Österreich sieht man das etwa anhand der Bundesheer-Daten von jungen Männern bei der Stellung. Demnach ist die Zahl der adipösen Jungmänner zwischen 2003 und 2018 auf mehr als zehn Prozent gestiegen. In der Behandlung werde jedenfalls bald noch ein weiteres Kapitel aufgeschlagen, sagt Expertin Brix: „Neuere und teilweise effizientere Medikamente stehen kurz vor der Zulassung bzw. zeigen in klinischen Studien bereits vielversprechende Wirkung.“ Semaglutid und Liraglutid sind nachgebaute Hormone zur Regulation des Blutzuckerspiegels und des Sättigungsgefühls. Die Wirkstoffe können unter die Haut verabreicht werden (Semaglutid einmal wöchentlich, Liraglutid einmal täglich). 2017 wurde Semaglutid in der EU zur Therapie des Typ-2-Diabetes (Handelsname Ozempic®) zugelassen, 2021 auch für Adipositas (Wegovy®). In Österreich ist Wegovy® aktuell nicht erhältlich; Ozempic® ist ein chefarztpflichtiges Medikament, dessen Kosten von der Sozialversicherung nur unter gewissen Voraussetzungen übernommen werden. Aufgrund von Lieferengpässen sollen in Österreich derzeit keine Neueinstellungen mit Ozempic® erfolgen. (mt) Foto: imago / Sipa USA DAS ERWARTET SIE IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN. Die FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben folgende Themen* in den Fokus: Vatertag Nr. 23 • 7. Juni 2023 Die Erwartungen an Väter haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Gleichzeitig werden Eltern mit zahlreichen Hürden konfrontiert. Was bedeutet es heute, Vater zu sein? Meine Stadt Nr. 25 • 22. Juni 2023 Viele urbane Räume leben und gedeihen. Zwischen Hochhäusern und alter Leerstandsnutzung macht sich die Bevölkerung den (öffentlichen) Raum zu eigen. Wie funktioniert das, und was braucht eine zukunftsgerechte Stadt? Im Schatten Nr. 27 • 6. Juli 2023 Wenn es heiß wird, geht man vernünftigerweise aus der Sonne. Der Schatten steht freilich nicht nur für Schutz vor Hitze, sondern als Metapher für vielerlei. Eine kulturhistorische und literarische Erkundung. Treue im Wandel Nr. 29 • 20. Juli 2023 In Österreich geht jeder Vierte fremd. Aber ist das heute noch ein Tabu? Zu Zeiten der Monica-Lewinsky-Affäre war es eines. Heute setzen immer mehr junge Paare gleich auf Polyamorie. Über Treue im Wandel der Zeit. Franz Jägerstätter Nr. 31 • 3. August 2023 Am 9. August jährt sich die Hinrichtung des Bauern und Wehrdienstverweigerers aus St. Radegund/OÖ zum 80. Mal. Jägerstätters Beispiel, seinem Gewissen auch um den Preis des eigenen Lebens zu folgen, ist aktuell wie eh und je. *Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Adam Smiths Erbe Nr. 24 • 15. Juni 2023 Vor 300 Jahren wurde der schottische Moralphilosoph Adam Smith geboren. Er gilt als der Begründer der klassischen Nationalökonomie. Sind seine Annahmen über wirtschaftliches Handeln bis heute maßgeblich? Aufeinander hören Nr. 26 • 29. Juni 2023 In der digitalen Umwelt ist eine visuell dominierte Kultur entstanden. Aktuelle Entwicklungen zeigen: Es besteht die Gefahr, dass wir das Lauschen und das Zuhören verlernen. Über den Schatz der akustischen Sinneswelt. Gutes Leben Nr. 28 • 13. Juli 2023 Zu einem zufriedenen Leben gehören viele Faktoren, die man nicht früh genug fördern kann. Die pädagogische Werktagung Salzburg will daher „Zuversicht stärken“ – und DIE FURCHE fragt: „Wie gelingt gutes Leben?“ Kunst des Verzichts Nr. 30 • 27. Juli 2023 Eine Haltung des „Immer mehr!“ hat lange das gesellschaftliche Grundgefühl bestimmt. Heute wächst das Unbehagen daran. Aber wo und wie ist Reduktion sinnvoll? Ein Fokus anlässlich der Salzburger Hochschulwochen. Das Wasser-Jo-Jo Nr. 32 • 10. August 2023 Trotz verregneten Frühjahrs dümpelt der Grundwasserspiegel vielerorts in Österreichs auf Rekordtiefniveau. Wie das Wasserreich Österreich bewahren? Und was tun gegen den Dürre- Hochwasser-Teufelskreis? ALLES AUCH DIGITAL AUF FURCHE.AT Podcasts, Videos, E-Paper und alle FURCHE-Artikel seit 1945 JETZT 77 Jahre Zeitgeschichte im NAVIGATOR.

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