Aufrufe
vor 1 Jahr

DIE FURCHE 25.05.2023

  • Text
  • Menschen
  • Furche
  • Zeit
  • Kirche
  • Wien
  • Welt
  • Foto
  • Juden
  • Kissinger
  • Tieck

Der Mai ist schön.

Der Mai ist schön. Weniger schön ist das Wetter – und am wenigsten schön plante Neugestaltung der Psychotherapieausbildung, den aktuellen zweiten ist für uns Furchianerinnen und Furchianer, dass der Wonnemonat traditionell einhergeht mit höchst unschönem Stress. Die Arbeit an Ihrer Lieb- Felbermayr einen Gastkommentar über die „Gierflations“-Rhetorik beige- Fokus auf die Teuerung, zu dem WIFO-Chef und FURCHE-Freund Gabriel lingswochenzeitung bleibt nämlich weitgehend gleich, auch wenn das gute steuert hat, die Geschichte über das Phänomen Firmung von Michaela Hessenberger, den scharfen Gastkommentar von Peter Plaikner über die Medi- Stück wegen Christi Himmelfahrt schon einen Tag vor der Zeit recherchiert, geschrieben, lektoriert, gedruckt und hoffentlich problemlos vor Ihre Tür enpolitik, die Literaturfestivals-Betrachtung von Anton Thuswaldner, das geliefert wird. Wenn dann noch ein paar Unwägbarkeiten – Türkei! – dazukommen, wird es richtig abenteuerlich. Umso mehr freut mich das Ergeb- den dritten Mini-Fokus auf Europas Spätstart in die Künstliche Intelligenz. Gespräch mit dem Komponisten und Dirigenten Heinz Karl Gruber – und nis, das wir Ihnen diese Woche präsentieren können: den von Martin Tauss Kommende Woche werden kluge Köpfe darüber beim diesjährigen Pfingstdialog in Seggauberg sinnieren. Ist doch schön, dieser Mai. und Jana Reininger konzipierten Fokus „Die Psycho-Baustelle“ über die ge- (dh) Von Josef Christian Aigner Durchschnitts-Uni-Betrieb geschehen? Und vielleicht noch mit or etwa 32 Jahren ECTS-Punkten versehen und mit schrieb ich zum damals neuen österrei- Man kann also aus kritischer Ziffernnoten bewertet werden? chischen Psychotherapie-Gesetz einen spezielle Ausbildung als Univer- Distanz sagen, dass eine solche Kommentar, in dem ich den damaligen Kanzler Vranitzky in ei- als Qualitätssicherung bringt. So sitätsstudium mehr Probleme ner Persiflage durch mehrere wollten Privatuniversitäten, die Facharztpraxen hetzte, um nachzuweisen, dass seiner Depressi- sahen, mittels eines Regelstudi- darin auch ein Geschäftsmodell on keine körperliche Erkrankung ums schon länger „Normstudierende“ ab 18 Jahren der Psycho- zugrunde liege. Nur dann besteht ein Anspruch auf kassenbezuschusste Psychotherapie. Die Re- die anspruchsvolle therapeutitherapie zuführen: Damit würde gierung hatte damals offenbar einen Knicks vor der Ärzteschaft ren beginnen – bisher war die sche Fachausbildung mit 21 Jah- vollzogen und vor der zweiten Psychotherapie-Sitzung einen Arztbe- bleibt jedem überlassen, wie sinn- Aufnahmebedingung 24 Jahre. Es such verlangt, um physische Ursachen auszuschließen. Ob das so adoleszenz zu bezeichnendem Alvoll das in einem heute als Spät- einfach festzustellen ist, war nebensächlich – es ging offenbar nur ter sein kann. um den Krankenschein. Auch damals gab es also schon merkwür- Das bedeutet, dass die Rahmen- Mangelnde Gesellschaftskritik dige fachfremde Regelungen im bedingungen der neuen Ausbildung viel zu unkritisch gesehen Bereich der Psychotherapie. Mit diesem Zuschuss von 21,80 werden. Warum – wenn schon eine Euro konnten einkommensschwache Betroffene sich übri- Seit dem Psychotherapie-Gesetz von Akademisierung wegen des Vergleichs zu anderen Sozialberufen 1990 gibt es in der Ausbildung eine enge gens jahrzehntelang (und bis heute mit neuerdings ganzen 28,93 Verzahnung von Theorie, Praxis, unausweichlich scheint – nicht Selbsterfahrung und Supervision. eine mehr Freiraum versprechende Möglichkeit des Zusammen- Euro) ohnehin keine solche Behandlung leisten, außer über wirkens mit den Universitäten die beschränkten Plätze in einem der Ländermodelle. Dieser dungslehrgängen (von Studieren- wie etwa jetzt schon in Weiterbil- anhaltende gesundheitspolitische Missstand scheint der Poli- warum soll eine weiterführende den selbst zu finanzieren)? Und tik aber weniger Kopfzerbrechen Berufsausbildung als Studium zu machen als die Neuregelung gratis sein? der Ausbildung, die offenbar wegen des „Wildwuchses“ an Angetärer Anbindung müsste der stark Aber auch bei lockerer universiboten in Verruf geraten ist – und persönlichkeits- und selbsterfahrungsorientierte Teil der Ausbil- nun durch ein eigenes Studium saniert werden soll. dung bei den Fachgesellschaften verbleiben. Wäre es nicht „logisch“, diesen dafür erfahrensten Neoliberale Bildungspolitik In Österreich gibt es ja eine geradezu inflationäre Zahl anerkannscher Etikettierung weiterhin ein Einrichtungen abseits akademiter Psychotherapie-Schulen (heute Hoheitsrecht einzuräumen? Und ganze 23!), während in Deutschland gerade mal fünf wissenrungsinstanz wie anderswo auch, warum nicht eine Akkreditieschaftlich ausgewiesene Verfahren zugelassen sind. Böse Zungen In Österreich gibt soll nunmehr den Universitäten allem im Fachspezifikum – ein wa gilt nicht als Aufgabe versierter Anbieter legitimieren müssen? Neuordnung Lehrtherapie bereitstellt. All das Profession, deren Erlernen – vor ten Bewerber(innen)? Forschen et- vor der sich die fachspezifischen meinen, die Aufnahme beispielsweise des „Neurolinguistischen Psychotherastand soll also „begradigt“ werdender, selbstreflexiver Bildung auch? Und welche der 23 Therapie- mir wichtig erscheint, in all den es 23 anerkannte anheimgestellt werden. Der Miss- Maximum an persönlichkeitsbil- Psychotherapeut(inn)en, warum Nicht zuletzt bleibt etwas, das Programmierens“ (NLP) hätte etwas mit der damals zeitgleichen 43 Fachgesell- fast allen sozialen und Pflegebe- Raum für Diskurs und kollegiahaupt, welche Professur und an Psychische Leiden sind letztlich pie-Schulen und den, indem man – wie heute bei verlangt. Ebenso wie Zeit und schulen kriegt dann, wenn über- Überlegungen unberücksichtigt: Ausbildung einer scheidenden Ministerin zu tun gehabt ... Wie auch der Ausbildung ter erwirbt. Woher aber dieses täten das heute bieten? dingt. Ob Identitätsprobleme, Sinnschaften, die in rufen – einen Bachelor und Maslen Austausch. Können Universi- welchem Institut? auch zutiefst gesellschaftlich beimmer: Die Kräfte, die diese Inflation hierzulande bewirkt haben, neue Psychothe- Kritiker(innen) sprechen alldienst und der Leitung mehre- Da ist von Zusammenarbeit mit ungünstigen Erziehungsverhält- aktiv sind. Das Vertrauen in die Universitäten? Nach 35 Jahren Universitäts- Freiraum für Selbsterfahrung krisen, Traumatisierungen aus sind vielleicht dieselben, die heute rapie-Gesetz soll gemein von „Akademisierungswahn“, der die ganze neoliberale gänge sowie nach Kenntnis der Aber wer soll (mal 23) aufgrund neben einer einfühlsamen therer Propädeutikums-Uni-Lehr- den Fachgesellschaften die Rede: nissen u. a. m. – all das bedarf einen Wildwuchs an Ausbildungsangeboten und deren Qualität belichen Unis ein Bildungspolitik durchzieht. Und Entwicklung der Lehr- und Lern- welcher Kompetenzen dies leisrapeutischen Behandlung und Be- an den öffentklagen. Studium etablieren; Koopera- für alles Mögliche einen Bache- Jahrzehnten – unter der Ägide der sitär völlig unüblichen „Einzeltheoretischen und -politischen wenn „Hinz und Künzin“ heute kultur an den Unis in den letzten ten? Und was ist mit dem univergleitung auch einer gesellschafts- Jedenfalls stehen wir vor einer Reform des Psychotherapie-Gesetzes, das nun die Qualitätszü- Fachgesellschafrum soll man das den Psychoschulung aller Studien – hege ich Eigentherapie usw.? Wo bietet die rene Expert(inn)en. Und zwar mit tionen mit den lor oder Master bekommen, wa- Bologna-Doktrin und ihrer Verunterricht“, also Selbsterfahrung, Problematisierung durch erfahgel straffer ziehen will – nämlich ten gelten als therapeut(inn)en vorenthalten? daran große Zweifel. Uni eine Möglichkeit für die bisher in den Fachgesellschaften kolmärprophylaxe beizutragen, also dem aufklärerischen Ziel, zur Pri- in Form der Akademisierung. Die wünschenswert. Damit aber trifft die Strategie, Bildungsqualität an ein „universitä- Universitäten diese Fächer überlegial durchgeführten, teils unter psychische Störungen gar nicht So fragt man sich, wer an den Ausbildung besteht ja zunächst Viele Fragen sind aus einem Propädeutikum, das noch strittig. res Mascherl“ zu binden, nun eine haupt vertreten kann? Es sollen Schweigepflicht stehenden Beratungen? Wenn ich etwa an meine de letztlich auch den gesellschaftli- erst entstehen zu lassen. Das wür- einen Gleichstand zwischen verschiedenen Quellen-Ausbildun- an ihnen Institute mit jeweils vier Lehranalyse, in der ich rund 600 chen Wert psychotherapeutischer fünf Standorte in Österreich und gen herstellen soll – und auch Professuren (also 20 gesamt) eingerichtet werden. Wer jemals das Kern der Ausbildung überhaupt Stunden als vielleicht wichtigsten Professionalität enorm erhöhen. mancherorts in Form universitärer Weiterbildung angeboten Gerangel auch um nur einzelne auf der Couch verbracht habe, und Der Autor ist emeritierter wird. Danach kommt ein Fachspezifikum, das die schulenspe- realistisch das ist. Und wo sind tausch zu konkreten Fällen etc. Psychotherapeut und Sexual- Professuren erlebt hat, weiß, wie an den intensiven kollegialen Aus- Bildungswissenschaftler, zifische Behandlungspraxis samt die akademisch derart qualifizier- denke – wie soll das alles in einem therapeut in Innsbruck. DIE FURCHE · 20 17. Mai 2023 Von Gabriel Felbermayr eit Dezember 2020 sind Gebrauchtwagen in Österreich um 38 Prozent teurer geworden. In den Jahren davor gingen die Preise hingegen leicht zurück. Waren vor der Coronakrise die Autoverkäufer, ob Private oder Händler, von dem Wunsch beseelt, ihren Kunden etwas Gutes zu tun? Hat das Coronavirus auch das Gewissen der Menschen krank gemacht und einer neuen Gier Tür und Tor geöffnet? Das scheint jedenfalls in manchen Kommentaren der Kern der Analyse zu sein. Inflation als moralisches Problem – und „Gierflation“ der dazu passende Kampfbegriff. Wer gierigen Unternehmern die Schuld an der Inflation in die Schuhe schiebt, macht es sich aber analytisch zu einfach und vergiftet zugleich den Diskurs. Gerade weil die Inflation so hartnäckig hoch ist – besonders in Österreich –, sollte man die gesinnungsethischen Schlagstöcke stehen lassen und, ganz wie der große Soziologe Max Weber vor rund hundert Jahren in ähnlicher makroökonomischer Lage empfohlen hat, verantwortungsethisch argumentieren. Nach eigenem Vorteil trachten In diesem Zusammenhang scheint es geboten, sich an Adam Smith zu erinnern, den schottischen Moralphilosophen, der die moderne Ökonomik begründet hat. Kaum einer wird so gerne missverstanden. Sein Verdienst ist nicht die Heiligsprechung des Marktes, sondern die Erkenntnis, dass – wenn die Umstände passen – Wohlstand entstehen kann (nicht muss), auch wenn das individuelle Handeln von Egoismus getrieben ist. 1776 schreibt er in ten trotzdem einen neuen Wagen – dern es sind falsche Rahmenbe- „Wealth of Nations“: „Es ist nicht und das Resultat waren hohe Preise. Wäre es besser gewesen, wenn Preissteigerungen ursächlich dingungen, die für übertriebene die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die die Besitzer alter Autos diese zum sind. Die Rede von der „Gierflation“ uns unser Abendessen erwarten Vor-Coronapreis verkauft hätten? vernebelt den Blick auf die eigentlichen Treiber. lässt, sondern dass sie nach ihrem Das hätte jene glücklich gemacht, eigenen Vorteil trachten.“ die ein solches Schnäppchen erwischen konnten – aber jene un- sind, dann machen jene, die wel- Wenn Autos plötzlich knapp Das heißt natürlich nicht, dass Gier moralisch plötzlich „gut“ glücklich gemacht, die trotz dringenden Bedarfs kein Auto finden, re Gewinne. Ungerechtfertigte, che zum Verkaufen haben, höhe- sei, aber sie muss einem funktionierenden Wirtschaftssystem weil der niedrige Preis das Angebot zu klein und die Nachfrage zu sich die Kosten des Verkäufers ja könnte man sagen, denn es haben nicht entgegenstehen. Damit das klappt, darf es keine Monopole geben, keine asymmetrische Infor- nicht stiege, würde der Verkäu- groß gehalten hat. nicht erhöht. Aber wenn der Preis mation, keine externen Effekte. Die eigentlichen Treiber fer das alte Auto wohl in der Garage belassen. Erst die Aussicht auf Um das sicherzustellen, muss der Natürlich gibt es Märkte, die Staat eingreifen. Statt den Unternehmen Gier zu unterstellen und für Gebrauchtautos. Märkte, die dass er seinen Zweitwagen auf On- deutlich komplexer sind als jener einen höheren Preis führt dazu, für sich selbst dieses tiefe Motiv schon aktuell massiv reguliert linemarktplätzen wie willhaben. mit aller Verve zurückzuweisen, sind, wie der Wohnungsmarkt etwa. Oder solche, wo die Vorstel- dann muss mehr Angebot auf den at anbietet. Soll der Preis sinken, sollte die Energie in die Analyse des Marktgeschehens gelenkt lung vom perfekten Wettbewerb Markt – oder die Nachfrage muss werden – mit dem Ziel, die richtigen wirtschaftspolitischen Maßmitteleinzelhandel. Oder Roh- Branchen ist das nicht anders. daneben geht, wie beim Lebens- zurückgehen. In vielen anderen nahmen zu treffen. stoffmärkte, jener für Gas einge- Die Verknappung einzelner Güter oder überraschend hohe Nach- Klar ist: Auf dem Markt für Gebrauchtwagen ist es das Verhältzahl mächtiger Trader auf den frage nach anderen muss aber schlossen, wo eine geringe Annis zwischen Angebot und Nachfrage, das zu steigenden Preisen treibungen herbeiführen, die für meinen Preisniveaus führen. Das Weltbörsen spekulative Über- nicht zu einem Anstieg des allge- geführt hat. Wegen Lieferengpässen waren Neuwagen schlecht ven Preissteigerungen führen. haupt ausreichend Liquidität da Millionen Haushalte zu massi- geschieht nur, wenn dafür über- verfügbar, viele Käufer brauch- Aber es ist nie die Gier selbst, son- ist. Darum ist ein Inflationstrei- Gabriel Felbermayr war Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und folgte 2022 Christoph Badelt als WIFO-Chef nach. Lesen Sie unter „Wie konnten wir so werden?“ (9.3.2022) auch das Gespräch von Gabriel Felbermayr mit seiner ehemaligen Schulkollegin, der Ordensfrau Teresa Hieslmayr, auf furche.at. Nicht Habgier, sondern ein anderes Verhältnis von Angebot und Nachfrage habe auf dem Markt für Gebrauchtwagen zu steigenden Preisen geführt, betont WIFO-Chef Gabriel Felbermayr. ber, der immer noch viel zu wenig Beachtung findet, die jahrelang ultralaxe Geldpolitik des Eurosystems und anderer Zentralbanken. Sie haben durch extrem niedrige Zinsen und das rigorose Aufkaufen von Staatsanleihen das Schuldenmachen billig gemacht. Das hat zu einem Anstieg der Nachfrage geführt, dummerweise während gleichzeitig die Coronakrise ihren Höhepunkt bereits hinter sich hatte. Nun steigen die Zinsen, was Kredite verteuert und im Immobilienbereich bereits spürbar zu einer Entschleunigung führt. Wenn endlich auch die Guthabenzinsen wieder höher sind, wird mehr gespart, und das bremst dann die Konsumnachfrage. Das dauert, wird aber am Ende die Wirkung nicht verfehlen. Nachfrage auf Pump eindämmen Um die Inflation auf Dauer in den Griff zu bekommen, braucht es also keinen Kreuzzug gegen die Gier. Es braucht eine Wirtschaftspolitik, die mehr Angebot möglich macht – und die Nachfrage auf Pump eindämmt. Kurzfristig muss aber trotzdem ein Paradigmenwechsel her: weg von der Abmilderung der Auswirkungen der Inflation hin zu einer Bekämpfung der Teuerung selbst. Der jüngst von der Regierung verabschiedete Fünfpunkteplan geht in die richtige Richtung. Er muss nun aber auch in der Realität liefern: das Einfrieren der Gebühren könnte einen spürbaren Effekt haben, muss aber auch tatsächlich kommen. Dafür braucht es Verhandlungen mit den Gemeinden. Druck auf Einzelhandel und Stromversorger mit Preistransparenz ist gut, aber es muss glaubwürdige Konsequenzen geben, wenn die Preise nicht zurückgehen. Und die schon erfolgreich begonnene Indizierung der Sozialleistungen muss zu Ende gebracht werden, indem die Einkommensgrenzen, ab denen Ansprüche entstehen, angepasst und unterjährige Inflationsausgleiche ermöglicht werden. Das wäre übrigens ein sinnvoller Anwendungsbereich für die Gesinnungsethik. Der Autor ist Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO). DIE FURCHE · 21 16 Diskurs 25. Mai 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Vielfalt ja, Willkür nein Ein Studium wie andere auch? Von Josef Christian Aigner Nr. 20, Seite 2 Josef Christian Aigner attackiert in seinem „universitätsskeptischen“ Gastkommentar zur Akademisierung der Psychotherapieausbildung vorwiegend Strohmänner. Selbstverständlich muss ein Psychotherapie studium auch weiterhin mit extensiven prä- und postgradualen Praxisteilen verbunden sein – das ist auch im Medizinstudium so. Es käme aber niemand auf die Idee, man müsse DIE FURCHE · 20 2 Das Thema der Woche Die Psycho-Baustelle 17. Mai 2023 V AUS DER REDAKTION Die Psychotherapie-Ausbildung könnte künftig an die öffentlichen Universitäten wandern. Das Vertrauen in die Akademisierung ist jedoch gerade in diesem Fall zu hinterfragen. Ein Gastkommentar. Ein Studium wie andere auch? „ Wenn ‚Hinz und Künzin‘ heute für alles Mögliche einen Bachelor oder Master bekommen, warum soll man das den Psychotherapeut(inn)en vorenthalten? “ Heikle Arbeit exklusiv Heilpraktiker ausbilden, weil Universitätsmedizin unmöglich sei. Internationale Vergleiche, von den USA bis Deutschland, lässt Aigner ebenso unerwähnt wie die Geschäftsinteressen der diversen Ausbildungsvereine. Vielfalt ist wünschenswert, Beliebigkeit und Willkür weniger. Auch wenn Psychotherapie quasi in Österreich erfunden wurde: Manchmal tut ein Blick über den nationalen Tellerrand – und die Überwindung des eigenen Narzissmus – gut. Univ.-Prof. Dr. Oliver Vitouch Rektor der Universität Klagenfurt 9020 Klagenfurt An Unis gut aufgehoben wie oben So wie die Heilkunde in der Medizin und die Klinische Psychologie im Studium der Psychologie, so soll jetzt auch die Psychotherapie gleichwertig Foto: Dagmar Weidinger an den Universitäten beheimatet werden. Dies ist zu begrüßen: Alle drei humanwissenschaftlichen Disziplinen haben die Aufgabe, die Wirksamkeit ihrer Behandlungsmethoden wissenschaftlich nachzuweisen. Eine unaufgeregte Versachlichung der Aufgabenstellung, im Besonderen jene der Psychotherapie, erfordert unabdingbar wissenschaftlich begründete Nachprüfbarkeit. Psychotherapie wurde im Jahr 1991 als Behandlungsmethode gesetzlich verankert. Jetzt folgt der nächste Schritt: Eine Bündelung der mittlerweile 23 bestehenden Therapieschulen ist meiner Einschätzung nach der nächste notwendige Entwicklungsschritt zur angemessenen Versorgung psychisch erkrankter Mitmenschen. Viele der nun aufgetretenen Probleme sind fachgerecht zu lösen. Herzstück jeder psychotherapeutischen Ausbildung ist die sogenannte Lehranalyse. In dieser muss sich der Proband seinen eigenen psychischen Problemen stellen, sodass er in die Lage versetzt wird, eigene projektive Bedürfnisse hintanzustellen, sodass er fähig ist, durch eine verobjektivierte Sicht seinem jeweiligen Gegenüber – in diesem Fall dem Klienten, der Klientin – empathisch zu begegnen. Er lernt eine sichere Diagnose-Erhebung für eine zielsichere Behandlung. Wer aber trägt die hohen Kosten einer dreihundertstündigen Lehranalyse (Kostenpunkt: rund 30.000 Euro)? Wer übernimmt die Ausbildungskosten? Wer stellt die persönliche Eignung für einen so hochverantwortlichen Beruf fest? Der elitäre Zugang wird jetzt noch durch die einzelnen Vereine (23 an der Zahl) bestimmt, könnte aber durch Aufnahmeverfahren (samt Eignungstests) universitär geregelt werden. Die nach innen geleiteten Organisationsstrukturen der einzelnen Schulen sollen nun – vergleichsweise wie in Deutschland – in vier Fachrichtungen subsumiert und so wie in Deutschland dem Fachbereich Klinische Psychologie zugeordnet werden. Die Krankheitswertigkeit wird durch eine die vorliegende Krankheit erfassende Diagnose-Erstellung somit abgesichert, sodass die Kosten für eine Psychotherapie durch die Krankenkassen übernommen werden. Ziel einer Neugestaltung der Psychotherapieausbildung ist die notwendige Überprüfbarkeit der Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung. Diese wird vorrangig gewährleistet durch den wissenschaftlichen Diskurs im universitären Rahmen. So ist die Psychotherapie in ihrer Wertigkeit gut im universitären Bereich aufgehoben, falls die anstehenden Probleme sachgerecht gelöst werden. Dr. Lisa Bock Klinische Psychologin und Psychotherapeutin (analytische Psychologie) 5020 Salzburg Mehr Augenmaß Kein Kreuzzug gegen die Gier Von Gabriel Felbermayr Nr. 20, Seite 5 Der Artikel zeichnet ein sehr zutreffendes Bild. Ergänzend zum big picture ist die Verantwortung des Konsumenten einzufordern. Befinden wir uns doch auch in einer Zeit, wo wir eine ökologische Wende brauchen. Wenn wir in unserem Verhalten bewusster werden und mit mehr Augenmaß vorgehen, erreichen wir sogar einen zweifachen Effekt – wir schränken die Nachfrage ein und schonen die Umwelt. Prof. Günter Bergauer MBA via Mail Familiäre Eigenheiten Verhaften als Lösung Von Brigitte Quint, Nr. 20, Seite 11 Ich bin von der Quintessenz Besseres gewöhnt. Wen interessieren Familieneigenheiten? Edith Jenke via Mail Es ist unser Sterben Allgemein zu Klimakrise und Landwirtschaft Inflation bekämpft man nicht mit Moralismus, sondern mit den richtigen, wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Ein Gastkommentar zur Rede von der „Gierflation“. S Foto: iStock / Orbon Alija Wirtschaft Kein Kreuzzug gegen die Gier Foto: APA / Roland Schlager „ Gerade weil die Inflation so hartnäckig hoch ist, sollte man die gesinnungsethischen Schlagstöcke stehen lassen. “ Knappheit als Ursache DIE FURCHE EMPFIEHLT Über die Utopie Europas 5 Das Bauernsterben – von den Parlamentariern liebevoll mit dem weichen Begriff „Strukturwandel“ umschrieben – ist etwas anderes als bloß eine technische Revolution, wie etwa der Untergang des Buchdrucks mit Bleisatz oder die derzeitige Hoffnung auf die blinde Weltrettung mittels Künstlicher Intelligenz. Das Bauernsterben ist eine sehr reale Metapher für das Sterben des Lebens auf unserem Planeten, ein Sterben der Artenvielfalt, von Pflanzen und Tieren (Meeren, Flüssen, Wäldern, Bienen, Fischen …). Ein Sterben eines über Jahrtausende gewachsenen und tradierten Wissens, auch das Sterben des Respekts vor dem Leben und unseren gewachsenen, gesunden Lebensmitteln. Das Verschwinden einer religiösen Ehrfurcht vor dem Gedeihen der Feldfrüchte („Erntedank“). Ein Verschwinden soziologischer und solidarischer Verbindungen wie etwa des familiären Zusammenarbeitens, der politische Untergang der ehemals bäuerlich eigenständigen Sozialversicherung; ein Niedergang von Natur und Ethik. Das Durchrationalisieren, Optimieren und vor allem quantitative Maximieren bei den Produktionsmethoden kennt keinen Halt. Immer größer, immer mehr, immer billiger, immer globaler, immer mehr Dieselverbrauch, immer chemischer, immer gieriger und enthemmter. Die Börsianer, die Pharmaindustrie, die Konzerne und der freie Markt werden sich um unsere „Lebensmittel“ kümmern. Chinesische, industrielle Massenrinderhaltung mit 100.000 Turbokühen in einer Fabrik mit angeschlossenem Atomkraftwerk für die Milchtrocknung. Fleischproduktion mittels Stammzellenvermehrung im Labor. Babynahrung per Schiff aus Neuseeland. Fastfood-Steaks aus dem gestohlenen, zerstörten Regenwaldgürtel. Palmöl für Omas Butterbuchteln: alles kein Problem. Aber: Wir haben keinen Klimawandel, sondern ein Klimasterben! Es ist unser Sterben! Fritz Baumgartner St. Georgen/Gusen Im Rahmen der Gesprächsreihe „Der utopische Raum“ – einer Kooperation von Globart und dem Landestheater Niederösterreich – kommt der Schriftsteller und leidenschaftliche Utopist Ilija Trojanow mit (Vor-)Denkerinnen und Aktivisten ins Gespräch. Am 7. Juni reflektiert er mit Robert Menasse die „Utopie Europa“ abseits absurder Bürokratie und nationalistischer Rivalitäten. Ilija Trojanow im Gespräch mit Robert Menasse Mi, 7. Juni, 19.30 Uhr. Theaterwerkstatt St. Pölten, Rathausplatz 11. Infos: www.globart.at/der-utopische-raum/, Tickets: 02742 90 80 80 600 Die Höhe der möglichen Gewinne liegt damit bei bis zu 112.500 Euro. Wieder 50% mehr gewinnen bei TopTipp Wer jetzt für nur 1 Euro auf das Ergebnis der Lotto Ziehung tippt, kann 50 Prozent mehr aus seinem gewonnen Geldbetrag herausholen. Die Aktion gilt für alle TopTipp Ziehungen vom 24. Mai bis 4. Juni 2023. Bei Top Tipp warten im Normalfall Gewinne bis zu 75.000 Euro. Dank der aktuellen Promotion sind es jetzt bis zu 112.500 Euro. Um 1 Euro wird wahlweise auf eine bis fünf Zahlen der Lotto Ziehung gesetzt. Sind alle Zahlen, auf die man getippt hat, unter den gezogenen Lotto Zahlen der jeweiligen Runde, hat man einen fixen Betrag gewonnen: Ein richtiger 5er Tipp bringt jetzt mit der 50%-mehr-Aktion also 112.500 Euro, ein richtiger 4er Tipp 5.250 Euro, ein 3er Tipp 450 Euro, ein 2er Tipp 37,50 Euro und ein 1er Tipp 4,50 Euro. Auch bei TopTipp gibt es die Möglichkeit, sein Glück mittels Quicktipp zu versuchen. Bildtext: Jetzt bis zu 112.500 Euro gewinnen Foto: © Österreichische Lotterien IN KÜRZE RELIGION • GESELLSCHAFT ■ Umstrittene Islamstudie RELIGION • GESELLSCHAFT ■ Rassismus gegen Islam RELIGION • GESELLSCHAFT ■ Auschwitz: Juden und Muslime RELIGION • BILDUNG ■ Kochen für Erdbebenopfer Nachdem eine Erhebung zum islamischen Religionsunterricht letzte Woche heftige Kritik u. a. der Muslimischen Jugend Österreichs ausgelöst hatte, hat der Projektleiter der Studie, Ednan Aslan, in einem Interview mit dem Kurier Einschüchterungen durch Vertreter des Islams beklagt. Der Studie waren von unterschiedlicher Seite Mängel vorgeworfen worden. Sie sei „rassistischer Natur“, hieß es u. a., auch Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) distanzierte sich von der Untersuchung. Nun holte der Islamwissenschafter zum Gegenschlag aus und sprach von einer „Hexenjagd“ gegen ihn und an der Studie beteiligte Lehrer. 1324 Fälle von Übergriffen gegen Musliminnen und Muslime hat die Dokustelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus im Jahr 2022 verzeichnet. Bei der Präsentation des achten Antimuslimischer- Rassismus-Reports erkannte man zahlreiche Fälle von Hass im Netz, aber auch intensivere rassistische Polizeigewalt. Probleme sieht die Leiterin der Dokustelle, Rumeysa Dür-Kwieder, auch in „befangenen“ wissenschaftlichen Arbeiten zu Muslimen. Sie kritisierte etwa die jüngste Studie von Ednan Aslan (siehe Meldung links): Aus solchen Studien würden schließlich Maßnahmen gegen Muslime abgeleitet, so Dür-Kwieder. Hochrangige Vertreter der Islamischen Glaubensgemeinschaft und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), darunter IGGÖ- Präsident Ümit Vural und Gemeinderabbiner Shlomo Hofmeister, reisten erstmals gemeinsam nach Polen, um im ehemaligen KZ in Auschwitz der Opfer der Schoa zu gedenken und dem Antisemitismus eine Absage zu erteilen. Laut dem kürzlich publizierten jährlichen Antisemitismus-Bericht waren zwar nur neun Prozent auf den „muslimischen Antisemitismus“ zurückzuführen, aber die physischen Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen waren dabei vor allem dieser Kategorie zuzuordnen. Die Mittelschule St. Marien in Wien-Mariahilf veranstaltet am 1. Juni ein interreligiöses Charity-Dinner, um den Erdbebenopfern im türkischen Gaziantep zu helfen. Unter dem Motto „Helfen mit Genuss“ kochen muslimische und christliche Jugendliche halal und laden zum Dinner, bei dem sie auch über die betroffene Region informieren wollen. Die Idee kam von einer vierten Klasse und wird von den Religionslehrern Adem Eskil und Helmut Klauninger unterstützt. Die Erzdiözese Wien und von muslimischer Seite Imam Ramazan Demir stehen ebenfalls hinter der Aktion. Reservierungen sind noch bis 25. Mai möglich.

DIE FURCHE · 21 25. Mai 2023 Literatur 17 Der König Er galt als Wunderkind, später ging er als Dichter und Übersetzer in die Literaturgeschichte ein: zum 250. Geburtstag von Ludwig Tieck (1773‒1853). der Romantik Von Nikolaus Halmer „Es gibt eine Art, das gewöhnlichste Leben wie ein Märchen anzusehen, ebenso kann man sich mit dem Wundervollsten, als wäre es das Alltägliche vertraut machen.“ Die Verschmelzung der profanen Alltagswelt mit der Sphäre des Wunderbaren stand im Zentrum des dichterischen Werks von Ludwig Tieck. Sie bezog sich auf Träume, Fantasien, Rausch und die Sehnsucht nach dem Absoluten. Das Ziel war die Verzauberung des öden Alltagslebens. Tieck war der „König der Romantik“, wie ihn Friedrich Hebbel nannte. Sein umfangreiches Œuvre umfasst zahlreiche Gedichte, Novellen, Romane, Volksmärchen, satirische Komödien und programmatische Texte, in denen er eine Theorie der Poetik formulierte. Zugleich war er auch als Übersetzer tätig. Tieck bemühte sich in seinem facettenreichen Schaffen nicht um ein geschlossenes Werk, sondern bevorzugte ein Denken im Fluss, das er für Korrekturen und Neupositionierungen offenhielt. Märchenwelten Geboren wurde Ludwig Tieck am 31. Mai 1773 als Sohn des wohlhabenden und gebildeten Seilermeisters Johann Ludwig Tieck und dessen Frau Anna Sophie in Berlin. Er galt als „Wunderkind“, das bereits mit vier Jahren die Bibel las und sich schon im jugendlichen Alter eine umfassende Bildung angeeignet hatte. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte Tieck Theologie, Geschichte und Philologie an den Universitäten in Halle, Göttingen und Erlangen. 1795 veröffentlichte er den Briefroman „William Lovell“, der von der zeitgenössischen Literaturkritik als ein Dokument eines radikalen Nihilismus bezeichnet wurde. Der Protagonist ist ein junger Engländer, der eine Bildungsreise nach Frankreich und Italien unternimmt, sich dabei stets als Zentrum der Welt betrachtet, bevor er realisiert, wie künstlich und hohl seine Person ist. Daraus entsteht eine tiefgehende Verzweiflung: „Gehe ich nicht wie ein Nachtwandler, der mit offenen Augen blind ist, durch dieses Leben? Alles, was mir entgegenkommt, ist nur ein Phantom meiner inneren Einbildung. Wüst und chaotisch liegt alles umher.“ In diesen Jahren war Tieck äußerst produktiv. Er verfasste Märchen wie „Ritter Blaubart“ oder „Der blonde Eckbert“. Im Mittelpunkt steht das Surreale, das für die rationale Welt der Aufklärung nicht zugänglich ist. Zauberworte sind das Wunderbare und das Geheimnisvolle, die im Märchen „Der blonde Eckbert“ dargestellt werden. Darin schildert Bertha, die Ehefrau Eckbergs, ihre Kindheit und Jugend, die sie in einer einsam gelegenen Hütte bei einer geheimnisvollen alten Frau verbrachte, nachdem sie vor ihren Eltern geflohen war. Diese hatten ihr vorgeworfen, nicht realitätstüchtig zu sein, sondern in einer Fantasiewelt zu leben. In der Gesellschaft der alten Frau, eines Vogels, der täglich Eier legte, in denen sich Perlen befanden, und eines kleinen Hunds verbrachte Bertha mehrere Jahre. Sie bildete sich „wunderliche Vorstellungen von der Welt und den Menschen“ ein. So imaginierte sie „den schönsten Ritter von der Welt und schmückte ihn mit allen Vortrefflichkeiten aus“. Im weiteren Verlauf erfolgt eine Steigerung der komplexen Handlung, die immer absurder wird und bis zu Mord und Wahnsinn führt. „ Die Verschmelzung der profanen Alltagswelt mit der Sphäre des Wunderbaren stand im Zentrum des dichterischen Werks von Ludwig Tieck. “ Die Virtuosität von Tiecks literarischer Produktion seiner Frühzeit zeigt sich in dem dramatischen Märchen „Der gestiefelte Kater“, in dem das bornierte zeitgenössische Theaterpublikum verhöhnt wird. Der Held des Stücks ist der Kater Hinze, den Gottlieb – der Sohn eines Müllers – geerbt hat. Der Kater ist der Sprache mächtig und bittet um ein Paar Stiefel, die er erhält. Als Dank dafür verspricht Hinze, seinem Besitzer eine schöne Braut und ein Königreich zu verschaffen. Das reale Publikum, das ein seriöses Theaterstück erwartet, rätselt über die bevorstehende Aufführung: „Es wird doch wohl nimmermehr ein ordentlicher Kater aufs Theater kommen?“ – „Wie ich es mir zusammenreime, kommt ein verruchter Bösewicht, ein katerartiges Ungeheuer vor.“ Die Diskussionen steigern sich, es kommt zu tumultartigen Szenen, in denen Slogans wie „Wir wollen guten Geschmack“ gerufen werden. Der folgende Verlauf der Komödie nimmt das Absurde Theater von Eugène Ionesco oder von Arthur Adamov vorweg. Es treten folgende Figuren auf: ein Dichter, der nicht weiß, was guter Geschmack ist, ein König, der Kaninchenbraten liebt, und dessen Tochter, die für das Intellektuelle schwärmt, jedoch sprachlich defizient ist, des Weiteren Elefanten, Löwen, Bären, Gespenster und Affen. Die Reaktion des Publikums besteht darin, den Dichter dieser absurden Komödie „mit verdorbenen Birnen und Äpfeln und zusammengerolltem Papier zu bewerfen“. 1798 veröffentlichte Tieck den Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“. Der Roman spielt in Nürnberg, wo Albrecht Dürer tätig war. Er ist das Vorbild für den Maler Franz Sternbald, der die Stadt verlässt, um in Deutschland, Holland, Frankreich und vor allem in Italien seine Kunst zu perfektionieren. Während seiner langen Wanderschaft trifft er auf verschiedene Künstler, mit denen er die für ihn zentrale Frage diskutiert: Wozu Kunst? Welchen Nutzen hat sie in der profanen bürgerlichen Welt? Die Antwort lautet: Die Kunst hat keinen Zweck. „Das wahre Hohe kann und darf nicht nützen; dieses Nützlichsein ist seiner göttlichen Natur ganz fremd und es fordern heißt, die Erhabenheit entadeln und zu den gemeinen Bedürfnissen der Menschheit herabwürdigen.“ Von 1799 bis 1800 lebte Tieck in Jena, dem damaligen Zen trum der Frühromantik, wo er mit Novalis und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel in engem Gedankenaustausch stand. Die Autoren verfolgten die Absicht, die Grenzen von Wissenschaft und Poesie zu sprengen. Schlegel plädierte für eine „eigentümlich moderne, nicht nach den Mustern des Foto: IMAGO / United Archives Altertums gebildete universelle Poesie“, die sich durch „ein rastloses, unersättliches Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten“ auszeichnet. „Die romantische Poesie ist eine progressive Universal poesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.“ Erfolgreiches Nomadenleben Nach der Auflösung des Jenaer Kreises führte Tieck eine nomadische Existenz, die ihn vorerst nach Dresden führte, wo er mit gesundheitlichen Problemen und Depressionen zu kämpfen hatte. Erholung fand er auf dem Gut seines Freundes Wilhelm Friedrich Theodor von Burgsdorff in der Mark Brandenburg. Während seines langjährigen Aufenthalts unternahm er zahlreiche Reisen, die ihn nach München, Rom, Wien, Prag, London und Paris führten. 1825 zog er nach Dresden, wo er eine Stelle als Dramaturg am Hoftheater erhielt und zu einer bedeutenden Persönlichkeit des kulturellen Lebens der Stadt avancierte. Hier entstanden zahlreiche Novellen wie „Der Alte vom Berge“, „Des Lebens Überfluss“, „Waldeinsamkeit“ und „Der Aufruhr in den Cevennen“. Außerdem übersetzte er Shakespeares Dramen und „Don Quijote“ von Cervantes. Ein Höhepunkt von Tiecks Karriere als mittlerweile arrivierter Dichter und Dramaturg war die Einladung König Friedrich Wilhelms IV., Theaterstücke im Potsdamer Neuen Palais zu inszenieren. Überschattet wurde seine glanzvolle gesellschaftliche Position durch den körperlichen Verfall, begleitet von einer zunehmenden Vereinsamung, die durch einen Schlaganfall und den Tod engster Freunde verursacht wurde. Ludwig Tieck starb am 28. April 1853 in Berlin. Die rebellische Aufbruchsstimmung des Frühromantikers wich der düsteren Melancholie: „Wie ist es denn, dass trüb und schwer / So alles kommt, vorüberzieht, / Und wechselnd, quälend, immer leer, / Das arme Herz in sich verglüht?“ LITERATUR William Lovell Von Ludwig Tieck Reclam 1986, 743 S., kart., € 14,40 Der blonde Eckbert · Der Runenberg Von Ludwig Tieck Reclam 1986, 57 S., kart., € 3,10 Der gestiefelte Kater Von Ludwig Tieck Reclam 2001, 88 S., kart., € 3,10 Franz Sternbalds Wanderungen Von Ludwig Tieck Reclam 1986, 587 S., kart., € 13,20

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023