DIE FURCHE · 21 14 Diskurs 25. Mai 2023 ERKLÄR MIR DEINE WELT Gibt es nicht auch bewunderndes Anschauen? Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Merkwürdig: Am selben Tag, da ich Ihren jüngsten Brief gelesen habe, habe ich aus Lust und Laune in Shakespeares „Wie es euch gefällt“ geblättert und bin – ich lüge nicht! – gleich einmal auf den Satz von Rosalinde gestoßen: „Schönheit lockt Diebe schneller noch als Gold.“ Die Verbindung mit Ihrer Klage, dass Sie sich im Alltag von männlichen Blicken bewertet, belästigt, ja sogar bedroht fühlen, lag für mich nahe. Sie schreiben von „Angriffsflächen“, als befürchteten Sie einen Überfall. Ich als Mann kann dieses Gefühl in seiner Tragweite wahrscheinlich gar nicht richtig ermessen. „ Sollen Männer die Augen niederschlagen wie weiland Kleriker, wenn sie einer Frau ansichtig wurden? Zu welchen Seelenverkrümmungen das führt, wissen wir. “ Schwierige Frage: Gibt es neben diesem verdammten Übergriff des Blicks nicht doch auch das bewundernde Anschauen? Oder sollen alle Männer die Augen niederschlagen wie weiland Kleriker, wenn sie einer Frau ansichtig wurden? Zu welchen Seelenverkrümmungen das geführt hat, wissen wir heute. Einen Ausweg haben Sie angedeutet. Sie haben vom „Lesen“ einer anderen Person geschrieben. Das ist, wenn man es richtig versteht, ein hilfreiches Wort. Denn „jedes Wesen schreit im Stillen danach, richtig gelesen zu werden“ (Simone Weil). Also auf, ihr Analphabeten alle: Lernt endlich lesen! Scharfe Augen dafür zu bekommen, um die Goldkörnchen zu sehen, die in jedem Menschen verborgen sind – darum geht es. Sie haben mir auch von Ihren ersten Versuchen geschrieben, boxen (Selbstverteidigung?) zu lernen. Dann fragten Sie mich, was ich „zuletzt zum ersten Mal ausprobiert“ habe. Ich muss gestehen, da fällt mir nichts ein. Ich muss und will mir allerdings auch nichts mehr beweisen. In meiner Welt. Ich muss kein Held mehr sein, muss nicht mehr kämpfen – auch nicht gegen mich. Auf Zehenspitzen über die Erde laufen Doch ja! Da kommt mir mein letzter Waldspaziergang in den Sinn. Ich habe etwas probiert. Umgeben vom Grün junger Fichten überkommt es mich spontan – und ich entledige mich meiner Schuhe und Socken und beginne, zuerst vorsichtig, dann immer kräftiger, barfuß über den Waldboden zu gehen. Ich spüre spitze Äste, stechende Halmstoppel, kühles Moos, knisternden Nadelboden. Meine Fußsohlen lernen langsam wieder, empfindsam zu sein. Ich muss an Christoph Schlingensief denken und an seinen wunderbaren Vorschlag, „etwas mehr auf Zehenspitzen über die Erde zu laufen“, wie er sich ein halbes Jahr vor seinem allzu frühen Tod vorgenommen hatte. Oder: Duccio di Buoninsegna, der Maler der Maestá in Siena, hat den Aposteln – im Unterschied zu dem barfüßigen Jesus – grobe Sandalen an die Füße gemalt. Aber in den Szenen nach der Auferstehung Jesu dürfen auch die Jünger alle barfuß gehen. Immer. Doch nein, ich muss jetzt bei der Wahrheit bleiben: Leider bin ich bei diesem Spaziergang nicht barfuß über den Waldboden gegangen. Sosehr ich immer und immer wieder davon träume. Aber ich verspreche Ihnen: Demnächst wird es geschehen – und ich werde Ihnen davon berichten. Diesmal habe ich nur ein Büschel Waldmeister mit winzigen strahlweißen Blüten und einem herrlichen Duft aus dem Wald mitgenommen. Ich wünsche Ihnen schöne Pfingsten! Zugegeben: In Zeiten der Teuerung ist es bereits ein Privileg, überhaupt eine Urlaubsreise unternehmen zu dürfen. Schließlich können sich rund 30 Prozent der Menschen in Österreich ihre Wohnung kaum noch leisten, steigende Energiekosten inklusive. Die Realitäten klaffen immer weiter auseinander, auch was den Klimaschutz betrifft. Es ist verständlich, dass man sich nach drei Jahren Corona-Pandemie wieder eine Fernreise wünscht, aber man muss sich bewusst sein, dass man damit der Umwelt extrem schadet. Ein Beispiel: Fliegt man von Berlin nach Rom (und das ist ja immer noch eine Kurzstrecke), pustet das Flugzeug, in dem man sitzt, 634 kg CO₂ in die Luft. Fährt man mit dem Zug, sind es nach Berechnungen des deutschen Umweltamtes nur 105 kg CO₂. Man kann sich also ausrechnen, wie stark die Umweltverschmutzung bei einem Flug von Wien nach Washington ist. Die moralische Verantwortung der Industrie und den großen Mächten wie China und den USA zu überlassen, ist eine reine Ablenkungstaktik. Es ist unser aller Pflicht als Weltbürger des Jahres 2023, das Klima durch unser Handeln möglichst zu schonen – von schützen kann ja nicht mehr die Rede sein. Das Credo „Man gönnt sich ja sonst nix“ gilt für uns nicht mehr. Und das ist die bittere Wahrheit, der wir uns stellen müssen. Die Zeit von endlosem Ressourcenverbrauch ohne Zukunfts sorgen ist vorbei. Und für Urlaube bedeutet dies, möglichst keine Fernreisen, möglichst Abgesehen von jenen, die schon damit kämpfen, Miete, Grundnahrungsmittel und Energiepreise zu stemmen, und für die eine Reise – ganz gleich mit welchem Transportmittel – unerschwinglich ist, ist für viele Menschen der Sommerurlaub das persönliche Highlight des Jahres. Ein Großteil legt Monat für Monat einen Teil des Einkommens zurück, um im Sommer verreisen zu können. Oft ist das der einzige Luxus, der sich noch ausgeht. Luxus ist in diesem Kontext auch das Schlüsselwort. Eine Flugreise ist in meinen Augen wie ein Glas Champagner, das im Alltag die Ausnahme von der Regel darstellt. Anlässe, bei denen einem ein solches gereicht wird, sind rar. Zumindest beim Ottonormalverbraucher. Ähnlich verhält es sich mit einer Flug- oder gar Fernreise. Nakein Flieger und schon gar nicht allein mit dem Auto losfahren. Denn auch das Auto ist, wenn es allein genutzt wird, ein echter Umweltverschmutzer. Wenn wir bei dem Beispiel von vorhin bleiben: Mit dem Auto pustet man bei einer Entfernung von Berlin nach Rom stolze 600 kg CO₂ in die Luft. Setzt man sich in einen Bus mit anderen, wird es schon deutlich umweltfreundlicher. Die Erderwärmung hat etwas mit steigendem Wohlstand zu tun. War es in den 1970er Jahren noch eher unüblich, überall hinzufliegen, ist es heute ein normales Phänomen. Doch immer mehr Länder eifern diesem Luxus nach. Dass sich das auf Dauer nicht ausgehen kann, ist augenscheinlich. Manchmal reicht es, wenn man sich dessen für einen Moment bewusst wird. (Manuela Tomic) LASS UNS STREITEN! Darf man in den Urlaub fliegen? türlich gilt es, das Bewusstsein zu schärfen, dass man für eine Woche Sonne, Strand und Meer auch mit dem Zug in Richtung Kroatien oder Italien fahren kann und dafür nicht unbedingt in die Dominikanische Republik oder nach Thailand fliegen muss. Aber wenn einen Letzteres glücklicher macht, sollte man das auch machen dürfen. Moralisch verwerflich finde ich vielmehr das Verhalten von Superreichen, die (oft mit ihren Privatjets) jedes Wochenende in der Welt geschichte herumfliegen. Kollegin Tomic argumentiert, eine Weltbürgerin, ein Weltbürger, habe heute die Pflicht, achtsam mit der Welt umzugehen und Ressourcen zu sparen, um diese zu schützen. Hier gebe ich ihr grundsätzlich recht. Aber Pflichtbewusstsein lässt sich leichter leben, wenn es erlaubt ist, auch mal über die Strenge zu schlagen. Es soll nichts Schlimmeres passieren, als sich umwelttechnisch einmal im Jahr danebenzubenehmen. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum ich eine große Befürworterin für Reisen in ferne Länder und Kulturen bin. An dieser Stelle möchte ich eines meiner Lieblingszitate, es stammt von Alexander von Humboldt, anführen: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.“ Ich bin davon überzeugt: Je mehr Erfahrung man damit macht, woanders der oder die Fremde zu sein, desto weniger stört einen der oder die Fremde im eigenen Umfeld. Niemals ins Flugzeug steigen ist auch keine Lösung. (Brigitte Quint) Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: 01 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. Anzeigen: Georg Klausinger 01 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. Bitte sammeln Sie Altpapier für das Recycling. Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Druck Styria, UW-NR. 1417
DIE FURCHE · 21 25. Mai 2023 Diskurs 15 Mädchen und Frauen aus Afghanistan sollten hierzulande ohne Hürden Schutz erhalten, fordert Annemarie Schlack von Amnesty Österreich. Ein Appell im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Und die Welt schaut zu – besser gesagt: weg Eine Aussage von Außenminister Alexander Schallenberg bleibt mir wohl ewig in Erinnerung: Im August 2021 hatte er erklärt, er werde die Taliban an ihren Taten messen – was zynisch anmutete: Genau jene, die rund 20 Jahre zuvor für ein System standen, in dem die Menschenrechte, speziell die Rechte der Frauen, missachtet wurden, sollten nun „Taten sprechen lassen“, die dem Werte- und Rechtssystem der internationalen Gemeinschaft entsprächen? Schnell war klar, dass aus dem Zynismus für die Menschen in Afghanistan Realität wurde. Seit bald zwei Jahren geht dieses Land unaufhörlich in die falsche Richtung, entfernt sich immer mehr von den Werten und Rechten, die davor in jahrzehntelangen Bemühungen engagierter Menschen errungen wurden. Mittlerweile sind Frauen in Afghanistan praktisch vollständig vom öffentlichen Leben ausgeschlossen; sie dürfen nicht mehr allein auf die Straße gehen, großteils keinen Beruf ausüben und keine weiterführenden Schulen und Universitäten besuchen. Sie „sterben einen langsamen Tod“, wie es eine Afghanin vor Ort im Gespräch mit Amnesty International einmal ausgedrückt hat. Und die Welt schaut zu – oder besser gesagt: Sie schaut weg. Auch Österreich. Foto: Elisabeth Mandl te Rate an positiven Asylbescheiden. Das gilt auch für afghanische Geflüchtete: Die meisten afghanischen Frauen und Männer, die bei uns um internationalen Schutz ansuchen, erhalten diesen auch. Aber – und es wäre zu schön, um wahr zu sein, gäbe es dieses Aber nicht: Der Weg dorthin ist lang, steinig und extrem ineffizient. Warum ist das so? Anders formuliert: Wie könnten die unzähligen Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden – für alle Beteiligten, also sowohl für Asylwerber als auch für Behörden, und last but definitely not least im Sinne der Menschenrechte? DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Annemarie Schlack „ Derzeit dominiert bei den Asylbehörden erster Instanz ein Grundsatz des Misstrauens und der Ablehnung. “ Mein Zugang dazu ist naheliegend: Österreichs Entscheidungsträger(inn)en sollten als Reaktion auf die unzähligen Menschenrechtsverletzungen, die von den Taliban ausgehen, genau diese Menschenrechte ins Zentrum ihres politischen Handelns stellen. In Afghanistan sind vor allem Frauen und Mädchen in dauerhafter Gefahr um Leib und Leben. Sobald sie davor fliehen, haben sie im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention Anspruch auf Asyl in dem Land, in dem sie darum ansuchen. Was spricht also dagegen, ihnen automatisch Schutz zu gewähren? Sie nicht nur durch Pluspunkte für Beamte bei Negativbescheid Vor einiger Zeit haben wir, also das Team von Amnesty International, dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner und Außenminister Schallenberg die dramatische Lage in Afghanistan erneut im Detail geschildert, ihnen die „Taten“, an denen Schallenberg die Taliban messen wollte, präsentiert und an die Aussagen vom August 2021 erinnert. Abseits von „Wir beobachten die Lage“ sowie komplizierten und juristisch verschnörkelten Erklärungen war in dem Antwortschreiben jedoch vor allem zu lesen, dass Österreich ohnehin schon so viele Asylwerber und Asylwerberinnen aus Afghanistan aufgenommen habe. Ja, das stimmt. Tatsächlich, so geht es aus der Statistik des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR hervor, hatte Österreich in den Jahren 2017 bis 2021, gemessen an der Einwohnerzahl des Landes, weltweit die höchsein elend langes, aufwendiges, teures Asylverfahren zu schleppen, sondern den Frauen und Mädchen aus Afghanistan ähnlich wie bereits in Schweden und Dänemark automatisch den Asylstatus aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Verfolgung zuzuerkennen? Damit würde man nicht nur Rechtssicherheit und Ressourceneffizienz schaffen, sondern könnte auch den zum Teil systemimmanenten Fehlentscheidungen der Asylbehörden begegnen. Denn derzeit dominiert gerade bei den Asylbehörden erster Instanz ein Grundsatz des Misstrauens und der Ablehnung. Statt objektiv die Fluchtgründe zu untersuchen, wird eher versucht, sie zu widerlegen und den Asylantrag abzulehnen. Ob das an mangelnden Ressourcen, Überlastung der Behörden oder vielleicht auch an dem in Österreich etablierten System liegt, dass ein negativer Asylbescheid für die ausführenden Beamt(inn)en mehr Punkte in ihrem Controlling system bringt, sei dahingestellt. Ressourcen des Staates effizient nutzen Wie gesagt: Die Zahlen zeigen, dass in den vergangenen Jahren nahezu alle Afghaninnen und Afghanen hierzulande einen Schutzstatus erhalten haben – weil sie um ihr Leben fürchteten und fliehen mussten. Würde ihnen dieses Recht automatisch zuerkannt, so entspräche das nicht nur den völkerrechtlichen Verpflichtungen, zu denen sich Österreich bekannt hat, sondern führte überdies zu deutlich mehr Effizienz in der Verwaltung. Man käme also schneller und auch menschenwürdiger zu dem gleichen Ergebnis wie bereits jetzt. Daher lautet mein Appell an die politisch Verantwortlichen (nicht nur) in Österreich: Die Achtung der Menschenrechte ist unbestritten und eine völkerrechtliche Verpflichtung. Sie in den Mittelpunkt politischen Handelns zu stellen, dient aber durchaus auch den Eigeninteressen des Staates, damit die eigenen Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Die Autorin ist die Geschäftsführerin der Non-Profit-Organisation „Amnesty International“ in Österreich und setzt sich für Menschenrechte im globalen Kontext ein. ZUGESPITZT Sicher kein Kalkül dahinter Schauen Sie, wir haben uns alle ein Prozedere auferlegt, das mit sehr vielen Mühen erarbeitet war, das dann im Vorstand beschlossen wurde, das daraufhin gelautet hat, dass wir eine Mitgliederbefragung machen, keine Frage, dass am 3. Juni ein Parteitag stattfindet und dass das Ergebnis der Mitgliederbefragung auch bindend ist. Irgendwann ist es vorbei mit den Spasseteln, wir sind ja nicht auf einer Kindergartenveranstaltung, irgendwann muss man das ernst nehmen, was man beschlossen hat. Es ist eine ungute Situation derzeit, keine Frage, aber ich habe da sicherlich kein Kalkül dahinter. Es geht auch nicht darum, sich zu vergleichen, es geht einfach darum, sein Programm auf den Tisch zu legen. Ich habe mich mit dem inhaltlichen Programm von Andreas Babler sicher nicht bis ins Detail auseinandergesetzt, das mache ich auch mit anderen Dingen nicht. Er hat aber gut mobilisiert, keine Frage. Es wäre ja verrückt, wenn man nicht aufeinander zugeht. Es gibt aber nicht die Verpflichtung, einander anzurufen. Vielleicht wäre es auch interessant gewesen, wenn er mich angerufen hätte, immerhin habe ich die Wahl gewonnen und nicht er. SPÖ-Zukunftshoffnung Hans Peter Doskozil im jüngsten ZIB2-Interview Doris Helmberger NACHRUF Demokratie-Journalist von Nicaragua bis Wien Ralf Leonhard wäre auch ein guter Diplomat geworden; für österreichische, deutsche und Schweizer Medien, darunter Radio Ö1, taz, Südwind-Magazin und FURCHE, ihre Hörerinnen, Hörer, Leserinnen und Leser war es jedoch ein Glücksfall, dass sich Leonhard entschieden hat, ein sehr guter Journalist zu werden. 1955 in Wien geboren, bezog er den Staatsvertragsjubel „Österreich ist frei“ auf seine Berufslaufbahn und bog nach Jus-Studium und Diplomatischer Akademie von einer fixen Außenamtskarriere in Richtung freier Außenpolitikjournalist ab. Im Jänner 1983 erschien Leonhards erster FURCHE- Artikel über „Machtspiele in El Salvador“. Vor wenigen Wochen schrieb er in dieser Zeitung ein Porträt über die nach 605 Tagen Isolationshaft freigelassene Demokratiekämpferin Dora María Téllez in Nicaragua. Dieser über 40 Jahre dauernde Artikelbogen steht beispielhaft für Leonhards journalistisches Schaffen, in geografischer wie in inhaltlicher Hinsicht. Er war einer der profundesten Lateinamerikakenner Österreichs, lebte 14 Jahre als Korrespondent in Nicaragua, liebte diese Region, ihre Kultur, ihre Menschen, litt an der politischen Achterbahnfahrt von Nicaragua und seinen Nachbarstaaten zwischen hoffnungsvollen demokratischen Aufbrüchen und verheerenden diktatorischen Abstürzen. „Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren, und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht“, zitiert Leonhard Dora María Téllez im FURCHE-Artikel. Das Zitat steht auch für Leonhards journalistischen Leitgedanken, den er in unzähligen Beiträgen über und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausformuliert hat. Dass er in den letzten Jahren einen Fokus seiner Arbeit auch auf Ungarn legte, fügt sich angesichts der autoritären Verwerfungen dort nahtlos in Leonhards Lebensthema ein. Anfang dieser Woche wäre er zu einer Recherchereise nach Kolumbien und Peru aufgebrochen. Dazu kam es nicht mehr. Am Sonntag in der Früh verunfallte Ralf Leonhard in der niederösterreichischen Traisen. Soweit sich der Hergang rekonstruieren lässt, dürfte er beim Versuch, den Hund seiner Mutter aus dem Fluss zu bergen, mit dem Kopf gegen einen Felsen gestoßen und ertrunken sein. Die Gedenkfeier für Ralf Leonhard unter dem stimmigen Titel „Von Nicaragua bis Wien“ findet am 12. Juni um 17 Uhr im Frida-Kahlo-Saal des Lateinamerika-Instituts in Wien statt. (Wolfgang Machreich) Foto: imago / Rolf Zöllner Ralf Leonhard (1955–2023), Journalist und Lateinamerika- Experte, verunfallte bei einem Spaziergang mit Hund in der Traisen.
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