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DIE FURCHE 25.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 17 6 International 25. April 2024 PRO Von Brigitte Quint Ja! Seit mehr als zwei Jahren warnen westliche Regierungsmächte und Verantwortungsträger der NATO in aller Deutlichkeit vor den Folgen für Millionen Menschen in der Ukraine, aber auch für Europa und die Welt, sollte sich Wladimir Putin mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg durchsetzen. Bis heute herrscht Einigkeit darüber, dass der 24. Februar 2022 auch für die Sicherheit Europas eine hochgefährliche und beispiellose Zäsur markiert. Dass diese Sicherheit vor allem ukrainische Soldaten verteidigen, dafür mit ihrem Leben bezahlen und der Westen nur mit monetären Mitteln oder Kriegsgerätlieferung „kämpft“, ist unbestritten und moralisch gesehen in der Tat verstörend (vgl. Contra-Position). Aber: Umso mehr ist militärische Hilfe das Mindeste, was Kiew aktuell von seinen Verbündeten erwarten können muss. So billigte das US-Repräsentantenhaus nun mit überparteilicher Mehrheit ein Hilfspaket von 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro), das auch Waffenlieferungen enthält. Damit ist die Parlamentskammer einer Forderung von US-Präsident Joe Biden nachgekommen. Die nötige Zustimmung des Senats steht noch aus, gilt aber als sicher. Die Euphorie angesichts dieses Beschlusses ist legitim. Friedensgipfel in der Schweiz Das Hilfspaket dürfte den russischen Vormarsch – für den Moment – stoppen, den befürchteten Kollaps verhindern und neue Gegenangriffe auf große Distanz ermöglichen. Wahr ist aber auch, dass die 62 Milliarden Dollar den Kriegsverlauf nicht entscheiden oder den Krieg gar beenden werden. Die Unberechenbarkeit der USA ist ein großes Problem geworden – und wird es trotz der jüngsten Entscheidung bleiben. Falls im Herbst Donald Trump erneut ins Weiße Haus einzieht, lautet die Gretchenfrage: Reichen die Kapazitäten in Europa aus, falls es tatsächlich im Ernstfall für den Beitrag der USA aufzukommen gilt? Zur Erinnerung: Donald Trump erklärte gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dass er „keinen Penny“ für den Ukrainekrieg ausgeben werde, sollte er wieder US-Präsident werden. Auch knüpfte er die Beistandsverpflichtung der NATO-Mitgliedstaaten an ihre Verteidigungsausgaben – ein Fauxpas mit Anlauf. Hinzu kommt, dass in vielen europäischen Ländern die Bereitschaft der Bevölkerung zunehmend sinkt, die Ukraine in diesem komplexen Krieg zu unterstützen. Selbst wenn KLARTEXT Foto: Wikipedia/Diliff (cc by 2.5) Aus Washington dürften bald 61 Milliarden Dollar gen Kiew fließen. Der Entschluss im Repräsentantenhaus lässt viele aufatmen. Aber es gibt auch Bedenken. Ist die Euphorie ob des US-Ukraine- Pakets legitim? in den Vereinigten Staaten Joe Biden an der Macht bleibt, darf bezweifelt werden, ob er es sich erlauben kann, seinen Kurs beizubehalten. Früher oder später wird man Kiew beziehungsweise der Person Wolodymyr Selenskyj nahelegen, von den eigenen Kriegszielen abzurücken und auf einen Kompromiss einzugehen. (N)ever converging union Aber gerade deshalb ist die Euphorie ob des vom US-Repräsentantenhaus verabschiedeten Gesetzesentwurfs legitim. Letzten Endes wird es auf Verhandlungen hinauslaufen müssen – die die Ukraine im besten Fall aus einer souveränen Position heraus führen sollte. Weiterhin auf einen militärischen Sieg der Ukraine zu setzen, mutet mittlerweile als realpolitisch naiv an. Die Hilfe aus den USA könnte die Ukraine allerdings befähigen, einen Punkt zu erreichen, an dem sie eben keinen Diktatfrieden akzeptieren muss. Damit wäre viel erreicht. Im Juni wird in der Schweiz ein Friedensgipfel zur Ukraine statt- Zeitgerecht vor der Europawahl liefert der streitbare Robert Menasse in doch recht kühner Anlehnung an Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ unter dem Titel „Die Welt von morgen“ einen engagierten Text über das „nachnationale“ Europa und geht darin sehr kämpferisch zur Sache. Wer nämlich seine Vision von einem Europa, das alles Nationalstaatliche hinter sich lässt, nicht bedingungslos teilt, den betrachtet er ganz unumwunden als „Feind“ – oder zumindest als „dumm“. Menasse ist ein blendender Schreiber. Sein europäischer Erweckungsroman „Die Hauptstadt“ ist ein packendes Stück Literatur. Seit einiger Zeit tritt er jedoch hinter dem literarischen Paravent immer stärker als Ideologe auf, der Dichtung und Wahrheit so aneinanderkettet, dass sich über apodiktisch verlautbarte Inhalte nicht mehr trefflich streiten lässt. Seine Ängste kreisen um die Wiederbelebung des Nationalstaates, aus dessen Überwindung Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – so als müsste dieser immer nationalistisch sein. Wäre dann etwa die „ Die 61 Milliarden Dollar dürften Kiew befähigen, einen Punkt zu erreichen, an dem es eben keinen Diktatfrieden akzeptieren muss. “ finden. Zwar ohne Russland, aber es besteht trotzdem die Chance, dass dadurch der Diplomatie wieder mehr Raum gegeben wird. Bevor in den USA Klarheit darüber besteht, wer das Land regieren wird, dürften diese Mühlen allerdings in jedem Fall weiter langsam mahlen. Noch wähnt sich Russland stark. Es hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und investiert hunderte Milliarden in den Krieg – auf Kosten des Wohlergehens seiner Bevölkerung. Putin schickt hunderttausende russische Soldatinnen und Soldaten an die Front und ist bereit, auch für lediglich symbolische Erfolge unzählige Menschenleben zu opfern. Auch die unzähligen Sanktionen haben bislang keinen durchschlagenden Erfolg gezeigt. Diese Überlegenheit Russlands sehen aktuell auch die meisten Militärbeobachter und -experten. Doch jede Waffe, die diese Überlegenheit dämpfen kann, unterstützt die Ukraine – vorübergehend. Schweizer Vielvölkerdemokratie kein Nationalstaat? Und schon gar nicht schätzt er die Berufung auf Föderalismus oder gar – horribile dictu – das Subsidiaritätsprinzip! Dabei ist Europa als ein in seinen Mitgliedsstaaten verwurzeltes supranationales Gebilde durchaus erfolgreich – wenn auch der Ausgleich zwischen gewachsenen Besonderheiten der Mitgliedsstaaten einerseits und gesamt europäischen Strategien andererseits immer ein politischer Balanceakt sein wird. Aus Europa wird jedenfalls nie – was auch Menasse nicht anstrebt – eine Kopie des US- Modells werden. Wir können weiterhin gut damit leben, auf Basis unverbrüchlicher euro päischer Verbundenheit und schrittweiser Verfassungsreformen eine (n)ever converging union zu sein. Der Autor ist Ökonom und Publizist. Von Wilfried Stadler Von Jan Opielka Nein! Der Westen schlittert zunehmend in einen gedanklichen Zeitgeist des unbedingt-permanenten Krieges; in einen, in der die Suche nach Friedenslösungen als „Katastrophe“ gilt. Nach dem Beschluss im US-Repräsentantenhaus erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, er sei „dankbar für die Entscheidung, die die Geschichte auf dem richtigen Weg hält“. Zeitgleich stellte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg klar, dass man sich mit dieser Bündnishilfe nicht zur Konfliktpartei mache. Und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock wiederholt – stellvertretend für viele Spitzenpolitiker der EU –, die Ukraine verteidige „auch unsere Freiheit, unsere Sicherheit und unseren Frieden“. Zu denken gibt an diesem Punkt das Statement einer Ukra inerin im deutschen öffentlichen Rundfunk: „Mit dem Hilfspaket können wir jetzt weiterkämpfen. Wir geben unsere Menschen. Und unsere Partner die Waffen.“ Feige, inkonsequent, unmoralisch Die Ukrainerin spricht damit einen entscheidenden Punkt an. Die NATO-Staaten der EU argumentieren, dass man der Ukraine helfen müsse, weil man davon ausgehe, andernfalls das kommende Kriegsziel Russlands zu sein. Dennoch müssen weiterhin nur die Ukrainer ihr Leben aufs Spiel setzen. Zugespitzt formuliert: Die Ukrainer kämpfen und sterben weiter, um dem Westen Russland vom Hals zu halten. Diese Haltung ist inkonsequent, feige und zutiefst unmoralisch. Wenn es wirklich darum geht, dass die Ukra ine den Krieg gewinnen muss, um die Staaten des Westens zu schützen, müssten diese selbst in den Krieg eintreten – und zwar jetzt, mit Soldaten, mit gepanzerten Divisionen, mit Kampfflugzeugen.

DIE FURCHE · 17 25. April 2024 International 7 CONTRA Diese aktive Kriegsteilnahme erfolgt freilich nicht und soll möglichst nicht erfolgen. Daher ist es umso verstörender, dass der Westen trotzdem auf weiteren Kampf statt auf Verhandlungen setzt. Und jene Stimmen (SPD-Fraktionschef Ralf Mützenich, Papst Franziskus, der Philosoph Jürgen Habermas) werden als Illusionisten oder Putin-Versteher gebrandmarkt. Natürlich ist die zeitgeistige Stimmung nachvollziehbar: Moskau hat die souveräne Ukraine brutal überfallen. Russland ist ein autokratisch regiertes Land, dessen Führung politische Feinde töten lässt, Opposition und Meinungsfreiheit unterdrückt, eigene Soldaten, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Tod schickt. Russland hat natürlich kein Recht dazu, seine Interessen gewaltsam durchzusetzen – dieses Recht hat auch der Westen nicht, und doch tat er es in vielen Ländern der Welt. Was zu kurz kommt, sind die Spuren, die dieser Krieg gegen die Ukraine in der Ukraine hinterlässt. Die TV-Nachrichten zeigen nicht jene Bilder, auf denen ukrainische Soldaten von Bomben zerfetzt werden, ausbluten, noch bei Bewusstsein verzweifelt schreien. Vielmehr bebilderte die „Tagesschau“ ihren Bericht zum Beschluss des 60-Milliarden-Dollar-Waffenpakets der USA mit Soldaten, die in einem stillen, sonnendurchfluteten Wald auf Patrouille gehen. Der US-Journalist Chris Hedges, der jahrzehntelang aus Kriegsgebieten berichtete, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben: „The Greatest Evil is War“ („Das größte Böse ist Krieg“; 2022, nur auf Englisch). Darin schreibt er: „Ich trage den Tod in mir. Den Geruch von verwesten und aufgedunsenen Leichen. Die Schreie der Verwundeten. Die Schreie der Kinder. Den Klang der Schüsse. Die ohrenbetäubenden Explosionen. Die Angst. Die Demütigung, die entsteht, wenn man sich dem Terror ergibt und um sein Leben bettelt. Den Verlust von Kameraden und Freunden. Die Unfähigkeit, sich mit allen Lebewesen zu verbinden, selbst mit denen, die wir am meisten lieben. Nur die Gebrochenen und Verstümmelten kennen den Krieg. Wir bitten um Vergebung. Wir suchen Erlösung. Wir tragen dieses schreckliche Kreuz des Todes auf dem Rücken, denn das Wesen des Krieges ist der Tod, und die Last des Krieges frisst unsere Seelen auf. Er verlässt uns nie.“ Was das westliche Polit- und Teile des Medienestablishments gut können, ist zählen: eine Million Artilleriegeschütze, 500 Panzer, 50 Milliarden Euro an Zusagen der EU, 60 Milliarden Dollar der USA. Doch Leid lässt sich nicht zählen, Verhandlungen lassen sich nicht zählen, und auch der „Sieg“ nicht, dessen realitätsnahe Konturen und Folgen nirgendwo erläutert werden. Lieber wird die komplexe Realität in eine Computerspielsprache übersetzt: Einer muss gewinnen, einer verlieren. Allzu viele wollen nicht zur Kenntnis nehmen: Selbst wenn es der Ukraine gelingen sollte, die russischen Truppen aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen – was auch laut westlicher Militärstrategen kaum möglich ist, und wenn, dann nur unter einem noch deutlich höheren Blutzoll –, was wäre dann? Gäbe Russland auf, zöge es seine Truppen in die Kasernen ab? Russland sendet Signale Verantwortungsträger kommunizieren nicht selten auf diese Weise. Andere wiederum setzen darauf, dass Putin dann stürzen könnte. Doch ist der intuitiv nachvollziehbare Wunsch auch politisch erstrebenswert? Kämen nach Putin in Moskau die Friedenstauben an die Macht, die den nationalistisch aufgeputschten Russen erklären, dass man nun klein beigeben müsse? Warum spricht man nicht lauter darüber, dass hinter Putin eine ganze Reihe nationalistischer Hardliner steht und sich der engste Machtzirkel aus dem Geheimdienst FSB rekrutiert? Würde der Westen, würde die Ukraine mit ihnen eine Verhandlungslösung suchen? Wenn ja, was spricht dagegen, es jetzt bereits zu tun? Russland hat signalisiert, dass es auf Basis der Gespräche vom März 2022 in Istanbul (zum Beispiel ein Leasingvertrag über die Krim mit einer Laufzeit von hundert Jahren, Sicherheitsgarantieren westlicher Länder) verhandeln wolle. Doch zusätzlich will Moskau „die neuen Realitäten“, also die seither gemachten Gebietsgewinne, zur Grundlage „ Kämen nach Putin in Moskau Friedenstauben an die Macht, die den nationalistisch aufgeputschten Russen erklären, dass man nun klein beigeben muss? “ machen. Mit Selenskyjs Friedensplan ist das freilich unvereinbar. Doch in einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) vom Februar 2024 gaben 72 Prozent der Ukrainer an, ihr Land müsse „zusätzlich zu militärischen Anstrengungen auch nach einem diplomatischen Weg suchen, den Krieg mit Russland zu beenden, um die menschlichen Verluste zu minimieren“. Die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilisten stiegt inzwischen auf mehr als 11.000. Indes widersprechen sich Kiew und andere Quellen in Bezug auf die Zahl der gefallenen Soldaten. Seitens ukrainischer Stellen kursiert die Zahl 31.000, US- Regierungsvertreter sprechen von fast 70.000 toten ukrainischen und 120.000 russischen Soldaten. Forderung, Druck auszuüben Durch die neuen US-Waffen im Umfang von rund 60 Milliarden US-Dollar wird der Krieg nun in eine nächste Phase treten. Die Analogie zum Ersten Weltkrieg liegt auf der Hand: Dieser zeitigte nach vier Jahren Millionen von Toten – und brachte die Saat für einen noch verheerenderen Krieg aus. Lars Pohlmeier, seit mehr als 30 Jahren Repräsentant der deutschen und internationalen IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges), sagt: „Weder Russland noch die Ukraine können diesen Krieg mit militärischen Mitteln für sich entscheiden […]. Die Unterstützerstaaten der Ukraine in der NATO und der EU müssen Druck auf die ukrainische Regierung ausüben für einen Prozess hin zu Verhandlungen, um weiteres katastrophales humanitäres Leid und Zerstörung zu verhindern.“ Zu denken gibt auch ein Zitat der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek Ende 2023: „Die Aussichten auf ein baldiges Ende des Kriegs stehen schlecht [...]. Er wird nicht gewonnen werden, sondern wie so oft in der Weltgeschichte viel zu spät zu Ende gehen. Wir sollten verstehen, um zu handeln.“ Sie haben Fragen an das Bundeskanzleramt? service@bka.gv.at 0800 222 666 Mo bis Fr: 8 –16 Uhr (gebührenfrei aus ganz Österreich) +43 1 531 15 -204274 Bundeskanzleramt Ballhausplatz 1 1010 Wien ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich auf Ihre Fragen und Anliegen! bundeskanzleramt.gv.at

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