DIE FURCHE · 17 22 Wissen 25. April 2024 Bakterien und Mode Kleidungsstücke können aus Bakterienzellulose (Bild) entstehen – sofern Roboter für günstige Bedingungen sorgen. Foto: Jürgen Grünwald Illu: Rainer Messerklinger Von Manuela Tomic MOZAIK Sprachgauner In meiner Kindheit verbrachten wir die Sommer in Bosnien. Beim Spielen im Wald lehrten mich die anderen Kinder, šatrovački zu sprechen. Diese Geheimsprache, so sagt man, haben einst Gauner im Gefängnis erfunden. Heute ist sie unter Kindern und Jugendlichen beliebt. Ich hatte dieses Mosaik aus makedonischen, serbokroatischen, osmanischen und Romani-Wörtern fast vergessen. Ein grundlegendes Wortspiel dieser Spielsprache ist die Vertauschung von Silben. Dizel (Diesel) wird zu zeldi, psiho (Psycho) zu hopsi oder pivo (Bier) zu vopi. Vor Kurzem rief mir mein guter Freund Vedran diese Sprache meiner Kindheit wieder in Erinnerung. Er unterbrach unser Telefonat, um, wie er sagte, sein hepek am Computer anzuschließen. Hepek ist ein altes türkisches Wort, das durch šatrovački wiederbelebt wurde, und bedeutet „Ding“. Vedran meinte damit sein Handy. Für „Ding“ kannte ich bislang nur das Wort stvar, von dem sich die „Wirklichkeit“, stvarnost, ableitet. Šatrovački wird von Generation zu Generation weitergegeben und neu geformt. Vielleicht habe ich meine Liebe zu Sprachspielen den Gaunern auf dem Balkan zu verdanken, die Wörter stibitzten, um aus dem Gefängnis der Wirklichkeit auszubrechen. Wenn ich mich manchmal im Deutschen oder Serbokroatischen unwohl fühle, flüchte auch in meine eigene Keitlichwirk. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Von Michaela Ortis Hemd mit einem Loch am Ellbogen kann man als Kurzarmhemd weiternutzen. Erst wenn ein Kleidungsstück wirklich kaputt „Ein ist, soll es ins Recycling“, sagt Christiane Luible-Bär, Professorin und Co-Leiterin des Studiengangs Fashion & Technology an der Kunstuniversität Linz. Dass die Modebranche hier ein großes Problem hat, zeigen Zahlen des Umweltbundesamts: In Österreich werden nur sieben Prozent der Textilabfälle recycelt, zehn Prozent landen im Secondhand-Kreislauf, ein wenig verrottet auf Deponien – der große Rest wird verbrannt. Mit neuen EU-Regeln soll sich das ändern, so Luible-Bär: „Ab 2025 darf man Textilien nicht mehr im Hausmüll entsorgen. Weil noch niemand Lösungen dafür hat, werden Gemeinden mit Textilabfällen überschwemmt werden.“ Weg von schmutziger Fließbandarbeit Mode- und umweltbewusst: Geht das? Ja, sagt ein Forscherteam der Kunst-Uni Linz. Aber nur, wenn man die Modeindustrie bis zum Recycling völlig neu denkt. Wenn Roboter flicken Derzeit wird Kleidung aus Textil tonnen in Recyclingfirmen aussortiert, eine schmutzige Fließbandarbeit mit großer Fluktuation. Daher macht der Einsatz von Robotik Sinn. Solche Recyclinglösungen möchte Luible-Bär gemeinsam mit Johannes Braumann in einem EU-geförderten Horizon-Projekt erforschen, die Bewerbung läuft gerade. Die Vorgabe lautet, automatisierte rentable Lösungen für die Industrie zu entwickeln. Deshalb sind im Projektteam u. a. ein renommiertes „Fast Fashion“-Label, Start-ups und die Kunstuniversität Linz, wo Braumann den Bereich „Creative Robotics“ leitet: „Bei Automatisierung wird meistens ein manueller Prozess durch denselben Prozess mit Roboter ersetzt. Für das Textilsortieren am Fließband ist das aber problematisch, weil der bestehende Prozess verbessert gehört. Dazu bringt die Kreativindustrie neue Perspektiven ein.“ Ziel müsse sein, dass gebrauchte Kleidungsstücke in den Secondhand-Kreislauf kommen. Als ausgebildete Modedesignerin propagiert Luible-Bär einen neuen Zugang zum Sortieren: „Eine löchrige Hose gilt für viele als kaputt, aber für jemanden mit Designerblick ist sie gut weiter verwendbar. Wir machen heute ja sogar bewusst Löcher in Jeans.“ Kleidung länger zu tragen ist nachhaltig, doch der Weg zur Änderungsschneiderei scheitert oft am Geld: Zumeist ist es billiger, eine neue Jacke zu kaufen und die alte zu entsorgen, als die gebrauchte Jacke flicken zu lassen. Ein Roboterarm, entwickelt im soeben abgeschlossenen Projekt „Fashion and Robotics“, gefördert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, soll das klassische Stopfen leistbarer machen: „Mit Electro-Spinning wird in einem Hochspannungsfeld ein Polymer auf die zerrissene Stelle der Jacke gesprüht, dieses bildet Nanofasern, die sich mit dem Textil verbinden“, erklärt Johannes Braumann. „Die Reparaturkosten könnten auf zwei Euro sinken. Und das ist durchaus ein interessanter Preis.“ Einsetzbar wäre so ein Roboterarm in großen Stückzahlen in Fabriken, genauso in der Änderungsschneiderei im Grätzel. Dort könnte die Jacke auch modisch aufgefrischt im Secondhandshop weiterverkauft werden. „ Bakterien wurden regelmäßig mit einer Nährlösung ‚gefüttert‘: So gelang es, Kleidung dreidimensional aus Biomaterialien wachsen zu lassen. “ Der Grund, warum unsere Kleidung immer noch mit der Nähmaschine in Billiglohnländern produziert wird, ist der komplexe Herstellungsprozess mit Schnitten für unterschiedliche Körperformen. Dass man auch diesen Prozess kreativ neu denken kann, wurde ebenso im FWF-Projekt bewiesen. „Bis jetzt denkt die Modeindus trie zweidimensional: Ich habe einen Schnitt, schneide Stoffmaterialien aus und nähe daraus ein T-Shirt oder einen Schuh. Von diesem Denken wollten wir wegkommen“, berichtet Luible-Bär. Mit Unterstützung von Werner Baumgartner vom Institut für Medizin- und Biomechatronik an der Kepler-Uni Linz gelang es, Kleidung aus Biomaterialien dreidimensional wachsen zu lassen. Statt dass Maschinen wie gewohnt Textilien zuschneiden, hat ein Roboter regelmäßig Bakterien mit einer Nährlösung „gefüttert“. So konnten erstmals Hose und T-Shirt sowie ein Schuh über einen Leisten wachsen. Berufsbilder weiterentwickeln Die revolutionären Ansätze aus dem FWF-Projekt sollen in Folgeprojekten standardisiert werden, um in der Modeindustrie eingesetzt werden zu können. Noch aber ist die Grundlagenforschung nicht so weit: Bei der Konzeption eines Kleidungsstücks muss daher bereits ans Recycling gedacht werden. „Das nennt man Design for Dissassembly und ist eine spannende Überschneidung zu meinem wissenschaftlichen Background in der Architektur. Dort bedeutet es, dass Bauwerke so gestaltet werden, dass beim Abriss die Materialen wieder mechanisch getrennt werden können“, so Braumann. Die Textilbranche stehe vor denselben Herausforderungen und müsse Recycling im Design mitdenken. Das Wissen aus den Forschungsprojekten wird in der Lehre an die Studierenden weitergegeben, ergänzt Luible-Bär: „Wir wollen Berufsbilder weiterentwickeln. Modefirmen haben zwar Nachhaltigkeitsbeauftragte, aber die kommen alle aus der Chemie. Das Hauptproblem in der Mode sind toxische Materialien, etwa beim Färben. Diese Lücke muss geschlossen werden, denn Nachhaltigkeit beginnt bereits beim Produktdesign.“
DIE FURCHE · 17 25. April 2024 Wissen 23 Der Vienna City Marathon hat gezeigt: Sportveranstaltungen mit Extrembelastung sind ungebrochen populär. Wo aber verläuft die Grenze zwischen gesundheitsförderndem und -schädlichem Laufen? Über eine Kultur zwischen Fitnesswahn und Bewegungsmangel. Die bipolare Gesellschaft Von Martin Tauss Regenerieren: Das ist nach dem Wiener Marathon für viele Läufer und Läuferinnen angesagt. Rund 35.000 Menschen waren bei Österreichs größter Laufveranstaltung vergangenen Sonntag am Start. Bei relativ kalten und teils windigen Bedingungen wurden sie von hunderttausenden Zuschauern am Streckenrand angefeuert. Nirgendwo sonst gehen Spitzen- und Hobbysport so hautnah ineinander über, oft nur getrennt von ein paar Schritten auf dem Asphalt. Wie populär das Laufen mittlerweile ist, sieht man am besten im Trubel rund um diese Königsdisziplin. Und an den prominenten Politikern, die hier seit den 1990er Jahren ihre Ausdauer exem plarisch unter Beweis stellen – von Jörg Haider (FPÖ/BZÖ), Josef Cap (SPÖ), Reinhold Lopatka oder Martin Bartenstein (beide ÖVP) bis zu Joschka Fischer (Grüne), der in Deutschland vom pummeligen Oppositionspolitiker zum „slimfitten“ Außenminister mutierte. Heute ist es etwa FPÖ-Chef Herbert Kickl, der mit extremen Triathlons, Gelände- und Gebirgsläufen sein stählernes Auftreten untermauert. Laufen ist ein Ausweis für Disziplin, paradigmatisch für das Erfolgsstreben und Einzelkämpfertum in einer hochindividualisierten Gesellschaft. Das war nicht immer so. In den 1970er Jahren wurden Läufer vor allem in ländlichen Regionen oft noch schief angesehen. Wer in der Freizeit durch die Gegend hechelte, geriet rasch in Verdacht, nicht ausgelastet zu sein. „‚Hast du zu wenig zu arbeiten?‘, rief man den Sportlern nach. Mein Vater wusste davon ein Lied zu singen. Er hängte sein Hobby daher nicht unbedingt an die große Glocke“, erzählt Ronald Eckert. Für den Sportarzt in Marchtrenk war das sportliche Verhalten seines Vaters jedenfalls eine Inspiration: Eckert entdeckte bereits mit zwölf Jahren die Lust am Laufen. Er ging ins Sportgymnasium, wurde zum Mittel- und Langstreckenläufer. Heute kommt der 48-jährige Allgemeinmediziner auf ein wöchentliches Pensum von 30 bis 40 Kilometer. Fünf- bis sechsmal pro Jahr läuft er einen Marathon, um sich – „jenseits des bloßen Lustfaktors“ – einer außergewöhnlichen Herausforderung zu stellen. Foto: iStock / Digital Vision. Auf den Körper hören „Jeder Marathon ist anders, aber bei allen Hobbyathleten schaut irgendwann ein inneres Männchen mit einem Hammer vorbei“, sagt Ecker. „Wie man über diese schwierigen Phasen kommt, lernt man mit wachsender Erfahrung immer besser. Die körperlichen Belastungsgrenzen zu erweitern, ist vor allem eine Kopfsache.“ Aber auch eine Kunst: Denn der Arzt weiß, dass die persönliche Ambition mit der aktuellen Belastbarkeit ausbalanciert werden muss. „Beim Laufen glaube ich meinem Körper zu hundert Prozent. Wenn er mit Schmerzsignalen zu mir spricht, dann nehme ich das auch entsprechend ernst“, so der Mediziner. Viele seiner Patienten und Patientinnen tun das nicht. Zahlreiche Menschen unterschätzen die Risiken des Langstreckenlaufs und bereiten sich nicht angemessen darauf vor: Den Körper zu überstimmen und über Schmerzen hinwegzugehen, passt gut in eine Kultur, die die Überforderung eingepreist hat, selbst wenn sie mit hohen Kosten einhergeht. Sich selbst um jeden Preis zu überwinden, ist gesellschaftlich angesehener, als behutsam in sich selbst hineinzuspüren (und ggf. vorzeitig abzubrechen). Bei einer Extrembelastung wie dem Marathon kann das gefährlich werden: nicht nur für Sehnen, Bänder und Muskeln, sondern auch für die inneren Organe. So zeigten spanische Forscher, dass mit zunehmender Laufdistanz bestimmte Eiweißstoffe ins Blut ausgeschüttet werden, die auf eine Schädigung des Herzmuskels hindeuten können. Im Schnitt erleidet circa einer von 100.000 Marathonläufern während des Wettkampfs einen Herzstillstand. Auch in puncto Nieren finden sich Hinweise auf Zellschädigungen und abgestorbenes Gewebe. Herz und Niere reagieren auf den Stress eines Marathons, als ob sie verletzt wären. In der Regel normalisieren sich die entsprechenden Biomarker nach dem Lauf wieder. Doch Ärzte befürchten, dass die Schäden bei wiederholter Extrembelastung chronisch werden können. Denn die Dosis macht das Gift. „Die Mehrheit der Menschen bewegt sich viel zu wenig“, sagt Ronald Ecker, „aber es gibt eine gewisse Klientel, da trainieren die Leute wie die Irren. Manchmal opfern diese Hobbysportler sogar ihre Beziehung, ihre Familie für den Sport.“ Warum tun sie das? Es sei wohl eine Art von Flucht, die zur Sucht führe, so der Sportarzt. Aber natürlich sei Sport noch immer eine bessere Sucht als andere Formen der Abhängigkeit wie Alkohol, Drogenkonsum, Spiel- oder Computersucht. Kinder vor dem Bildschirm Aktuelle Studien unterstreichen den Bewegungsmangel in der Masse der Bevölkerung: Körperliche und psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen etwa seien dadurch erheblich angestiegen, wie internationale Untersuchungen der WHO ergaben. Besonders seit der Corona-Pandemie hat der Medienkonsum nochmals zugenommen. Wenn körperliche Aktivität und direkter sozialer Austausch fehlen, steigt das Stressniveau, was sich zu etlichen Symptomen auswachsen kann. Für Erwachsene wird zwei- bis dreimal pro Woche eine Form von Ausdauersport empfohlen (Laufen, Walken, Radfahren etc.), kombiniert mit Krafttraining und Koordinationsübungen. Die Stärkung der Muskeln und die Flexibilisierung des Bewegungsapparats sind wichtig, um Verletzungen zu verhindern. „Dann tut man das Beste für seine Gesundheit“, betont Ronald Ecker, der bei seinen Patienten zunächst Leistungstests durchführt und individuelle Programme erstellt. Wer für größere Läufe wie einen Marathon trainiert, sollte sich die „10er-Regel“ zu Herzen nehmen: Das heißt, die Laufdistanz pro Woche nur um jeweils zehn Prozent zu steigern. „Dieses vorsichtige Vorgehen ist wichtig, denn der häufigste Fehler bei Hobbysportlern ist der übertriebene Ehrgeiz: Wenn es dann nach den ersten Erfolgen zum unvermeidlichen Rückschlag kommt, ist das natürlich umso frustrierender.“ Wo aber liegt nun die Grenze zwischen gesundheitsfördernder und -schädlicher Bewegung? „ Der häufigste Fehler bei Hobbyläufern ist übertriebener Ehrgeiz: Wenn es dann nach den ersten Erfolgen zum Rückschlag kommt, ist das umso frustrierender. “ Sportarzt Ronald Ecker ZUM BILD AUF SEITE 24 Österreichischer Frauenlauf 2024 für Läuferinnen und Nordic Walkerinnen, Grüner Prater Wien, 26.5.2024, Infos unter oesterreichischerfrauenlauf.at Red Flags von Grazia Toderi Foto: iStock/Pavel1964 „Ins Glück laufen“ (18.5.2000): Politik- und PR- Berater Michael Posselt über die „Laufmania“ bei heimischen Spitzenpolitikern, auf furche.at. „Das ist sehr individuell, aber spätestens ab einem Wochenpensum von 80 bis 100 Kilometer wird es für den Durchschnittsläufer abträglich; dann häufen sich die Infekte und Verletzungen“, berichtet Ecker. „Für so eine Belastung muss man schon hochtrainiert sein. Und es braucht meist Jahre, um auf dieses Niveau zu kommen.“ Im Bestsellerbuch „Born to Run“ (2009) berichtet der amerikanische Autor Christopher McDougall von seiner Reise zu den Tarahumara in Mexiko, einer indigenen Ethnie mit einer Laufkultur fernab der westlichen Zivilisation. Auch wenn wohl nicht jeder seine These unterschreiben würde, wonach der Mensch zum (Barfuß-)Laufen geboren sei, hält es viel Inspiration für eine Gesellschaft bereit, die im Bewegungsverhalten ungesunden Extremen zugeneigt scheint (Bewegungsarmut versus Fitnesswahn). Schließlich geht es darum, sich die natürliche, kindliche Freude an der Bewegung bis ins hohe Alter zu erhalten. Im letzten Jahr präsentierte museum in progress in Wien sowie in virtuellen und medialen Räumen die Flaggen von 28 Künstlerinnen und Künstlern. Aktuell sind auf der Stubenbrücke vier Flaggen der italienischen Künstlerin Grazia Toderi zu sehen, die Bilder der Weltkarte mit dem Sternenhimmel und dem bekannten Friedenssymbol verbinden. Kuratiert von Alois Herrmann und Kaspar Mühlemann Hartl. Weitere Informationen: raisingflags.mip.at Aktive Freizeit? Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig: Körperliche und psychische Erkrankungen sind dadurch deutlich gestiegen. Das belegt u. a. eine aktuelle internationale Studie der WHO.
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