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DIE FURCHE 25.04.2024

DIE

DIE FURCHE · 17 10 Religion/Wissen 25. April 2024 FORTSETZUNG VON SEITE 9 (und verwandte) den Diskurs und zeigt sich dabei inspiriert und angestoßen durch die postkoloniale Tradition, aber mit einer differenzierteren Sichtweise und dem dementsprechenden Instrumentarium. Nicht zuletzt kommt noch eine weitere, viel fundamentalere Frage hinzu: Inwieweit ist akademische Forschung gut beraten, sich mit einer prinzipiell vorgeprägten „Haltung“ zu verbinden? Diese nicht nur für die Kulturwissenschaften, sondern auch für viele andere Disziplinen (Migrationsforschung, aber auch Umweltwissenschaften oder Epidemiologie wären hier zwei aktuelle Beispiele) relevante Frage sollte viel deutlicher gestellt werden, um weiteren Schaden von den akademischen Betrieben fernzuhalten. Universitäre akademische Anstellungsverhältnisse dürfen nicht zu Mitarbeiterposten von NGO-Organisationen oder Interessen- und Lobbyvertretungen missgeraten. „Analyse“ und „Agitation“ sind vielmehr peinlichst voneinander zu trennen, wie der österreichische Philosoph Rudolf Burger einmal sehr treffend (übrigens im Zusammenhang mit der Migrationsfrage) formulierte. Der Autor ist Professor für Religionswissenschaft an der Uni Graz. GLAUBENSFRAGE Streuobstwiesenglück Nachdem die UNESCO 2021 die Streuobstwiese zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt hatte, wurde „Streuobstanbau“ im Dezember 2023 in das nationale Verzeichnis Österreichs aufgenommen. Chapeau! Denn diese besonderen Wiesen sind ökologisch von hohem Wert. Sie bieten rund dreitausend Tier- und Pflanzenarten idealen Lebensraum. Mit mehr als eintausend alten Obstsorten schaffen sie eine erstaunliche genetische Vielfalt, was manchen Allergikerinnen und Allergikern den ersehnten Obstgenuss ermöglicht. Allerdings wurden zahlreiche Baumbestände, die vor Jahrzehnten gepflanzt und liebevoll gepflegt wurden, in den letzten Jahren vernachlässigt oder direkt zerstört. Aber viele Menschen wollen dem Niedergang nicht tatenlos zusehen. So entstand der „Europäische Tag der Streuobstwiese“, der am kommenden Wochenende, wie immer Ende April, erneut stattfindet. Als mein Mann und ich vor fünf Jahren eine neue Streuobstwiese pflanzten, stand ihr ökologischer Wert im Mittelpunkt. Was ich Foto: www.flickr.com/photos/sarvodaya/ NACHRUF Abschied von A. T. Ariyaratne – dem „Gandhi von Sri Lanka“ Im Alter von 92 Jahren ist die große Gründergestalt des „engagierten Buddhismus“, A. T. Ariyaratne, in Colombo (Sri Lanka) gestorben. Von Hildegund Keul damals nicht erwartete: dass sie für mich zu einem spirituellen Lebensort wurde. Wiese und Bäume erfordern atemberaubend viel Zeit. Zugleich gibt es keinen Ort, wo ich so tief auf- und durchatmen kann wie hier. Gelebte Schöpfungsspiritualität, die niemand machen kann. Die geschenkt wird. Im Blick auf das Leben, das hier im wahrsten Sinn des Wortes aufblüht, fließt das Leben selbst zu. Vielleicht machte Tomas Tranströmer, schwedischer Literaturnobelpreisträger mit spirituellem Tiefgang, eine solche Erfahrung, als er sein Apfelbaumkurzgedicht schrieb: Offenbarung. / Der alte Apfelbaum. / Das Meer ist nah. Am kommenden Wochenende machen viele Menschen eine Streuobstwiesenwanderung und hoffen auf einen solchen alten Apfelbaum, der voller Leben erblüht. Vielleicht schenkt er eine Offenbarung besonderer Art? Die Autorin ist katholische Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg. „ Die von Ariyaratne gegründete NGO Sarvodaya ist im von ethnischreligiösen Konflikten gespalteten Sri Lanka die wichtigste verbindende Institution. “ Auf den ersten Blick sah A. T. Ariyaratne nicht aus wie jemand, der Berge versetzen kann: ein etwas untersetzter älterer Herr mit kleinem Schnauzbart und sehr lebendigen Augen hinter der Brille. Doch mit seiner sanften und freundlichen Art inspirierte der „Gandhi von Sri Lanka“ Hunderttausende im Land selbst wie auch weltweit, sich für ein besseres Leben für alle und speziell für Nichtprivilegierte einzusetzen. Er sei ein „wortgewaltiger kleiner Dynamo“, sagte die buddhistische Ökoaktivistin Joanna Macy über diese große Gründergestalt des engagierten Buddhismus. Für seine Arbeit erhielt Ariyaratne mehrere große Friedenspreise, unter anderem den Niwano Peace Prize. Vergangenen Dienstag, den 16. April, ist A. T. Ariyaratne in Colombo (Sri Lanka) 92-jährig verstorben. Ahangamage Tudor Ariyaratne, wie er mit vollem Namen hieß, wurde 1931 geboren, also noch während der britischen Kolonialherrschaft. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Sri Lanka und dem Studium der Humanities in den Philippinen wurde er Lehrer an einem der renommiertesten buddhistischen Colleges in Colombo. Dort initiierte er 1958 als „pädagogisches Experiment“ für die aus der Oberschicht stammenden Schüler einen Arbeitseinsatz in einem von Angehörigen niedriger Kasten bewohnten Dorf, wo sie Häuser renovierten, Latrinen und eine Straße bauten. Aus dem „pädagogischen Experiment“ wurde eine humanitäre buddhistische Graswurzel organisation, „Sarvodaya“, die sich für das „Erwachen des Einzelnen und das Erwachen aller“ einsetzt. Konkret heißt das etwa, Menschen in den Dörfern Zugang zu sauberem Wasser, Lebensmitteln, Elektrizität, angemessener Kleidung, Arbeit und Bildung zu verschaffen, aber auch zu Spiritualität. Dr. Ariyaratne, wie man ihn nannte, verband traditionelle dörfliche Praktiken des gemeinsame Arbeitens mit buddhistischen Werten und der Verwirklichung der Menschenrechte. Damit veränderte er Sri Lanka: Heute gibt es kaum einen Ort, an dem nicht Spuren von Sarvodaya zu finden sind. Bulldozer, um Straßen zu bauen, gehören genauso zum Equipment wie Computer, an denen Menschen digitale Bildung erwerben, oder Nähmaschinen, mit denen Frauen selbstständige Einkommen erzielen – oder auch Zubehör für Meditations retreats. Etwa die Hälfte der Bevölkerung von Sri Lanka, elf Millionen Menschen, ist Mitglied dieser dezentralen, selbstverwalteten NGO, die nach dem verheerenden Tsunami 2004 rasch Soforthilfe leisten konnte und intensiv den Wiederaufbau der zerstörten Dörfer betrieb – für und zusammen mit Muslimen, Hindus und Christen. Sarvodaya ist in dem von ethnischreligiösen Konflikten tief gespaltenen Sri Lanka die wohl wichtigste verbindende Institution. Während der Jahrzehnte des Bürgerkriegs (1983–2009) – entstanden aus der gesetzlichen Diskriminierung der tamilischen hinduistischen Minderheit durch die buddhistische Mehrheit – organisierte A. T. Ariyaratne ab 1990 immer Friedensmärsche, trotz Verboten durch die Regierung. An Sarvodaya-Meditationsretreats für den Frieden nahmen bis zu zwei Millionen Menschen aller Konfessionen und Ethnien teil. In enger Zusammenarbeit mit dem österreichischen Kelman-Institut (früher IICP) suchte Ariyaratne ab 2002 nach einer friedliche Lösung für den Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen. Dies scheiterte an der Unerbittlichkeit des damaligen Ministerpräsidenten Rajapaksha und der buddhistischen Mönchparteien, aber auch an der tamilischen Seite. Konflikte von Sarvodaya mit der singhalesischen Regierung in Sachen gerechter Friede gab es auch nach dem Ende des Krieges. Dass die Beisetzung A. T. Ariyaratnes in Colombo ein Staatsakt war, mit Beteiligung höchstrangiger Politiker und hoher buddhistischer Mönche, ist eine späte Rechtfertigung. (Ursula Baatz) Geld, das dem Leben dient „Eine Geldanlage bei Oikocredit schafft Jobs, vor allem für Frauen. Oikocredit fördert auch erneuerbare Energie. 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DIE FURCHE · 17 25. April 2024 Philosophie/Ethik 11 Immanuel Kant hat mit vier Fragen die Philosophie zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und über allem: Was ist der Mensch? Zu seinem 300. Geburtstag widmet sich DIE FURCHE Kants Fragen in einer Serie. Heute: Was soll ich tun? Von Peter Strasser In Zeiten von Krieg und Klimakrise gewinnt Immanuel Kants Frage nach der Pflicht und Verantwortung des Individuums neue Brisanz. Ein Essay über Macht und Ohnmacht angesichts der Apokalypse. Was soll ich tun? Lassen wir die Gleichgültigen, Zyniker, Egoisten, Hartherzigen beiseite. Wenden wir uns jenen zu, die aus der Güte ihres Herzens oder aus dem Spruch ihres Gewissens heraus wissen möchten, was zu tun sei. Überall lauert das Übel, Kriege werden vom Zaun gebrochen, die Folterkammern glühen, Entmenschlichungen sind an der Tagesordnung, der Hunger grassiert in den Mägen von Millionen. Was soll ich tun? Über uns allen hängt die Drohung des Weltendes, der Apokalypse, die wir, Milliarden Menschen, heraufbeschworen haben durch unsere Abgase, Verstrahlungen, Emissionen, unseren Raubbau an den Gütern, die uns die Natur bereitstellte. Die Erde ist dabei, dem Menschen keine Heimat mehr zu sein, worin sich freudvoll leben, ja überleben ließe. Was also soll ich tun? Unter den vier Fragen, die Kant in seinen Logikvorlesungen als die Grundfragen der Philosophie stellte – „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ –, findet sich keine, die nicht in der Ich-Form gestellt wäre. Aber zweifellos zielte Kant auf Unpersönliches: Ist das, was ich tun soll, auch das, was getan werden sollte? Wer die Frage, so gestellt, für überflüssig hält, verfehlt das Wesen der Ethik, das sich im Übrigen erst daraus ergibt, dass alle vier Fragen innerlich zusammenhängen. „Handle ... ... nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieser kategorische Imperativ ist ein wesentlicher Teil von Kants Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ se Haltung führte unter anderem zur Aufdeckung jener Naturgesetzlichkeiten, denen wir unser Wissen um die globale Umweltzerstörung sowie ihre mögliche Zurückdrängung verdanken. Und weil für Kant der Mensch ein mit rational unterbauter Freiheit begabtes Wesen ist, vermag er nach Prinzipien zu leben, die er sich selbst gegeben hat. Deshalb wäre zu fordern, dass das Interesse der Individuen, ein erfülltes Leben zu führen, jedwedes politische Handeln zur strikten Beachtung schadens- und leidminimierender Grundsätze verpflichtet. Dadurch sollten die Schonung der Umwelt und die Erhaltung des Friedens nicht nur als gemeinwohlstaatliche Primärforderung, sondern, im Idealfall, als Weltgesetzgebung Realität werden. Machtlosigkeit des Einzelnen Betrachten wir den Zustand der Welt! Vieles müsste getan werden, ohne dass die Beantwortung der Frage, was ich – ich persönlich – tun solle, darauf eine angemessene Reaktion wäre. Denn alles, was ich persönlich tun könnte, wäre noch nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein. Weder kann ich etwas tun, um die Kriegsherren der zerbrochenen Nachkriegshoffnungen zu befrieden, noch bin ich in der Lage, den Hunger, welcher die Massen in den Wahnsinn treibt, einzudämmen. Und – um ein weiteres epochales Beispiel zu nennen – erst recht bin ich als Einzelner machtlos, was die weltweiten Folgen des Umstandes angeht, wonach sich unser Globus in den nächsten hundert Jahren um einige Grade erwärmen wird, falls nicht alle Staaten der Welt einschneidende Maßnahmen treffen. Kein Wunder, dass Weltuntergangspropheten Saison haben. Aber könnte ich nicht trotzdem etwas tun – ich persönlich? Greta Thunbergs Satz „I want you to panic“ hat vieles in Gang gesetzt, als sie noch ein Schulmädchen war. Die von ihr initiierten „Schulstreiks für das Klima“ sind zur globalen Bewegung „Fridays for Future“ (FFF) angewachsen. Doch die meisten von uns verfügen nicht über Thunbergs Charisma. Es wäre daher vergebliche Liebesmüh, wollte ich, bezogen auf meine Person, mit dem Thunberg-Effekt rechnen. Um Kant richtig zu verstehen, muss man erkennen, dass sich seine Frage „Was soll ich tun?“ an dem von ihm so genannten kategorischen Imperativ orientiert. Demnach muss die Regel meines Handelns aus einem ethisch allgemeinen Prinzip ableitbar sein. Was soll ich tun? Ich soll mich – um bei unserem Beispiel zu bleiben – ökologisch richtig verhalten. Warum? Weil es die unbedingte Pflicht eines jeden Menschen ist, sich so und nicht anders zu verhalten! Legitimes Glücksstreben Und warum ist dieses ethische Prinzip seinerseits gültig? Weil wir, als Vernunftwesen, erkennen, dass es ein „Widerspruch“ wäre, in einer Welt, die wir schlecht behandeln, ein gutes Leben führen zu wollen. Freilich, es ist ein weiter, mühevoller Weg vom freitäglichen Schulstreik bis zur globalen Umweltgesetzgebung, die dem widerspruchsfreien Wollen aller Menschen dienen würde, statt irgendwelchen nationalen oder cliquenhaften Sonderinteressen. Dass in der Ethik von Interessen überhaupt abzusehen sei, war indessen ein kapitaler Fehlgriff Kants. Er ergab sich nicht zuletzt aus dessen Antwort auf die vierte Frage: „Was ist der Mensch?“ Dieser wird, trotz rationaler Prägung, leicht ein Sklave seiner angeborenen Selbstsucht. Deshalb favorisierte Kant eine strikt auf Pflichten basierende Ethik, ohne dem Glücksverlangen des Menschen Rechnung zu tragen. Tatsächlich ist das Bedürfnis, glücklich zu sein, keineswegs moralisch illegitim, solange die legitimen Interessen anderer nicht verletzt werden, etwa durch den Raubbau an begrenzten Naturgütern. Das Streben Illustration: Rainer Messerklinger nach Vermeidung von Leid durch die Vermeidung von Kriegen und Umweltschäden ist keineswegs ein Ausdruck von Egozentrizität, im Gegenteil. Kants Verengung wurde durch die „Glücksethik“, namentlich den Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill), korrigiert. Gefordert war nun die Optimierung sozialen Wohlbefindens durch die Austrocknung von Quellen des Leids. Aber auch unter dieser Voraussetzung bleibt die Frage „Was soll ich tun?“ abhängig von der immer erst zu präzisierenden Forderung, was die Menschheit tun sollte. Kants erste Frage, „Was kann ich wissen?“, zielt deshalb darauf ab, dass der Mensch, statt dem Aberglauben und Dogma zu huldigen, es wagen müsse, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Die- Alle Interviews, Podcasts und Essays über Kant und seine Fragen finden Sie im Dossier „Kant: Aufklärung risikieren“ auf furche.at. „ Betrachten wir den Zustand der Welt! Vieles müsste getan werden, ohne dass die Beantwortung der Frage, was ich persönlich tun solle, darauf eine angemessene Reaktion wäre. “ Säkularisierte Hoffnung Sobald die Frage „Was soll ich tun?“ aus der Frage „Was soll getan werden?“ hervorgeht, erhält die Ethik jenes Gewicht der Universalität, das sie benötigt, um die Handlungen einzelner moralischer Akteure nicht mehr als willkürlich oder irrelevant abzutun. Dadurch bekommt Kants dritte Frage, „Was darf ich hoffen?“ – obwohl ursprünglich religiös gefärbt –, eine säkulare Note. Ich darf hoffen, dass die Regel unseres individuellen Handelns Ausdruck eines Solidaritätshorizontes ist: Wir alle sollten zum Frieden mit uns selbst und mit der Natur finden. So also bilden alle vier Fragen Kants einen Rahmen für die eine Frage: „Was soll ich tun?“ Leider erscheint die Ausfüllung dieses Rahmens in unserer heillos zerstrittenen, am Abgrund taumelnden Welt in höchstem Maße gefährdet. Möge Bertolt Brechts Schlusswort aus dem „Guten Menschen von Sezuan“ nicht das letzte Menschheitswort gewesen sein: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Der Autor ist Professor i. R. für Philosophie an der Universität Graz. Zu Kants dritter Frage, „Was darf ich hoffen?“, finden Sie diesen Sonntag ein Interview mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann auf furche.at und nächste Woche in der Zeitung.

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