DIE FURCHE · 4 8 International 25. Jänner 2024 Von Susanne Glass Die kleine Holzhütte steht inmitten monumentaler Wohnblöcke und Regierungsgebäude, die mit ihrer sowjetischen Architektur das Zentrum der moldauischen Hauptstadt Chișinău dominieren. Aus ihr duftet es verführerisch. Der Glühwein wird nach Familienrezept gekocht. Es war das köstlichste und hochprozentigste Rotwein-Gebräu, das ich in diesem Winter genossen habe. Mit umgerechnet einem Euro pro Becher war es auch das billigste. Was in Bezug auf die schmackhaften Zutaten wie auch den Preis nicht verblüffend ist. Die kleine Republik Moldau mit 2,6 Millionen Einwohnern ist agrarisch geprägt, stolz auf ihre Weine und den Obstanbau. Gleichzeitig gilt Moldau als das ärmste Land Europas. Es grenzt im Westen an Rumänien und wird im Norden, Osten und Süden von der Ukraine umschlossen. Als dort die Russen einfielen, befürchteten viele, Putins Truppen könnten gleich weiter über die moldauische Grenze marschieren. Ein Einfallstor böte die abtrünnige Republik Transnistrien mit 400.000 Einwohnern. Ein international nicht anerkanntes, ausschließlich von Russland unterstütztes De-facto-Regime. Mit dem eingefrorenen Konflikt hatte man sich in Moldau seit Jahrzehnten arrangiert. Plötzlich aber blickt man mit Sorge in den transnistrischen Osten des Landes. Auch im autonom verwalteten Gagausien im Süden ist die Mehrheit der 150.000 Einwohner pro-russisch. Darüber hinaus hat die gagausische Minderheit als Turkvolk einen starken Bezug zur Türkei, die neben Russland munter Einfluss auf die Region nimmt. Wählerstimmen-Kauf – in Cash Markttag Händler bieten in der Nähe des Zentralmarktes in Chisinau ihre Waren feil. Hören Sie hierzu den Podcast „Moldau: Wenn der Krieg immer näher rückt“ von Manuela Tomic und Vicky Schwendenwein auf furche.at. Neben Russland macht auch die Türkei ihren Einfluss auf die Republik Moldau geltend. Sehnsüchtig blickt man nun gen Brüssel – aber fürchtet die „Balkan-Falle“. Ein Ortstermin. „Als Land sind wir nicht sexy“ Als mich die Glühwein-Dame fragt, ob ich „Tourist“ sei, antworte ich: „Nein, Journalistin. Gekommen, weil die Republik Moldau im Paket mit dem großen Nachbarland Ukraine Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen soll.“ Zwei Jahre nachdem Chișinău den Antrag gestellt hat, gab die EU Mitte Dezember grünes Licht. Ungarns Premier Orbán ist zwar weiter dagegen, legte aber beim Gipfeltreffen eine strategische Kaffee-pause ein, als die Entscheidung – dann in seiner Abwesenheit – anstand. Das Kreditkarten-Lesegerät stellt sie selbstverständlich auf die Theke. Anders als in Österreich oder Deutschland ist bargeldloses Bezahlen in jeder moldauischen Holzhütte möglich, auch bei kleinen Beträgen. Ebenfalls Usus ist, dass man mit relativ kleinen Beträgen – allerdings in Cash - Wählerstimmen kaufen und Mandatsträger bestechen kann. „Wenn sich die Menschen entscheiden müssen zwischen meiner Partei, die verspricht, Menschenrechte zu achten und den Lebensstandard zu verbessern, und einer Partei, die ihnen sofort für ihre Stimme hundert Euro bar in die Hand drückt, dann werden sich neun von zehn für das Geld entscheiden.“ Und das sei noch optimistisch geschätzt, meint der Vize-Parlamentspräsident, Mihai Popsoi. Er gehört der europafreundlichen Partei „PAS“ von Präsidentin Maia Sandu an, die seit 2020 regiert. Mit dem Hinweis auf den Stimmenkauf steht sofort „der Elefant“ mitten im Raum, der bei allen Gesprächen über moldauische Politik präsent ist: Der prorussische moldauisch-israelische Oligarch Ilan Shor. Er steht auf der Sanktionsliste der EU, der USA, von Großbritannien und Kanada. Shor wurde in Moldau wegen Geldwäsche und Betrug zu 15 Jahren Haft verurteilt. In Abwesenheit, weil er sich längst nach Israel abgesetzt hatte. Von wo aus er weiterhin versucht, die Republik Moldau im Sinne Russlands mit undeklariertem Geld zu destabilisieren. Vor allem in Gagauisen hat er großflächig oft halbe Dörfer korrumpiert. Hundert Euro in bar für ein Kreuz auf dem Wahlzettel entsprechen immerhin der Hälfte eines monat- „ Der prorussische moldauischisraelische Oligarch Ilan Shor versucht von Israel aus, das Land mit undeklariertem Geld zu destabilisieren. “ lichen Durchschnittseinkommens. Und das Wenige, das die Menschen verdienen, wird von der hohen Inflation aufgefressen. Auch die Energieversorgung ist teurer geworden; wenigstens erscheint sie als sicher. Sie seien stolz darauf, dank des von Maia Sandu verordneten Energie-Sparkurses besser als erwartet durch den ersten Kriegswinter gekommen zu sein, sagt Popsoi. Und auch der zweite werde kein Problem. Deshalb sitzen die Regierungsmitarbeitenden jetzt mit wattierten Jacken in ihren kühlen Büros. In meinem Hotel versinkt die Lobby in den nebliggrauen Wintertagen bereits gegen Mittag in Dämmerung. Die prachtvollen Kronleuchter dienen nur noch Deko-Zwecken. Ebenso diszipliniert und kompromisslos hat Maia Sandu den Kurs Richtung EU vorgegeben – und ist auf Konfrontation zu Russland gegangen. Moldau sieht sich längst mit allen Mitteln russischer hybrider Kriegsführung konfrontiert. Mit Propaganda, Desinformation in den Medien, gesteuerten anti-westlichen Demonstrationen, illegaler Parteienfinanzierung. Foto: Getty Images / AFP / Daniel Mihailescu Die Opposition will das so nicht wahrhaben. Der ehemalige Präsident Igor Dodon, jetzt Vorsitzender der sozialistischen Partei, der 2020 seiner Herausforderin Maia Sandu unterlegen war, sagt: „Von Putin geht für uns keine Gefahr aus. Wir sollten nicht nur mit der EU, sondern auch mit Russland in guten Beziehungen stehen.“ Rumänische Pässe sind weit verbreitet Dass Russisch neben der offiziellen Amtssprache Rumänisch weit verbreitet ist, hat der Regierung Sandu in Bezug auf die Medien große Sorgen bereitet. Weil der hybride Krieg auch via russischer Medien geführt wird, hat sie das Moskauer Staatsfernsehen sowie Onlineportale blockieren lassen. Es sei der Regierung klar, dass sie der russischsprachigen Bevölkerung Angebote machen müsse, um diese nicht ganz zu verlieren. Daher will man in einen neuen russischsprachigen Sender investieren. Auch die Shor-Partei des nach Israel geflüchteten Oligarchen wurde vom Verfassungsgericht wegen „Unterminierung der moldauischen Souveränität“ verboten. PAS- Mann Popsoi sähe es angesichts der russischen Bedrohung gerne, wenn Moldau der NATO beiträte. Aber er ist Pragmatiker: „Ich weiß, dass es dafür keine Mehrheit in unserer Bevölkerung gibt.“ Vollkommen anders sei die Stimmung in Bezug auf die EU. „Ich bin EU-Bürger, Moldaus Präsidentin ist EU- Bürgerin. Von den 63 Abgeordneten unserer Partei sind 55 EU-Bürger.“ Selbst innerhalb der prorussischen Opposition gäbe es EU-Bürger. Insgesamt besitzt derzeit etwa die Hälfte der moldauischen Bevölkerung rumänische Pässe. Damit sind sie seit Rumäniens EU-Beitritt vollwertige Bürger der EU. Popsoi schlussfolgert mit einem Augenzwinkern: „Die meisten Moldauer seien also sowieso schon in der EU, nun müsse nur noch ihr Land nachkommen.“ Der 36-Jährige hat seine Berufslaufbahn bei der NATO begonnen. Er gehört damit zu einer jungen, proeuropäischen Politikergeneration, die sich mühelos auf internationalem Parkett bewegt, im Ausland Karriere gemacht, aber sich dennoch entschlossen hat, sich für die EU-Überzeugung in den Dienst des Heimatlandes zu stellen. Obwohl die Verdienstmöglichkeiten geringer und der Ausgang unklar ist. Denn sie wissen, dass die richtig großen Herausforderungen in dem kleinen Vielvölkerstaat erst anstehen: Justizreform, Korruptionsbekämpfung, Reform im Bildungswesen, Ausbau der Infrastruktur. Außerdem ist den proeuropäischen Kräften zu wünschen, dass Moldau nicht in die „Balkanfalle“ tappt. Wie es etwa Nordmazedonien, Albanien oder Bosnien-Herzegowina ergangen ist, wo seit Jahrzehnten im EU-Wartezustand jedes Vertrauen in die europäische Perspektive verloren gegangen und nur die Frustration grenzenlos ist. „Ich weiß, dass wir als Land nicht sexy sind. Aber wir versuchen optimistisch zu sein“, sagt Popsoi. Er selbst zwinge sich jeden Tag dazu. Die Autorin ist Redaktionsleiterin Ausland und politischer Hintergrund beim Bayerischen Rundfunk. GEWINNSPIEL Gewinnen Sie eine Teilnahme am Symposion Dürnstein DIE FURCHE verlost 2 Drei-Tages-Pässe 14. bis 16. März 2024, Stift Dürnstein / Wachau Das Symposium Dürnstein 2024 beschäftigt sich mit Fragen zur Zukunft der Ernährung. Ernährungssicherheit ist ein zentrales Thema. Boden, Wasser, Klima und Biodiversität sind entscheidende Faktoren. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Globalisierung haben vieles verändert. Welche Spannungsfelder und Perspektiven es dazu gibt,erläutern und diskutieren u.a. Franz Essl, Christina Kottnig, Sofia Monsalve, Josef Settele, Hanni Rützler, Gunther Hirschfelder. Details unter: www.symposionduernstein.at Bitte beantworten Sie die folgende Frage: Wo findet das Symposion Dürnstein statt? Schicken Sie uns einfach ein Email mit dem Betreff „Symposion Dürnstein“ an gewinnspiel@furche.at oder rufen Sie an T: 01/512 52 61-20. Einsendeschluss ist der 2. Februar 2024. Foto: Klaus Ranger
DIE FURCHE · 4 25. Jänner 2024 Religion 9 Von Franz Winter In jüngster Zeit mehren sich Stimmen, die auf den positiven Beitrag hinweisen, den Religionen in den westlichen liberalen Demokratien entwickeln könnten. Dazu gehört insbesondere der bekannte deutsche Religionssoziologe Hartmut Rosa, der in den letzten Jahren eine erstaunliche und für sein akademisches Fach ungewöhnliche Vorliebe für Religion entwickelt hat. Religionen werden quasi als Würze der Demokratie, als notwendige Ergänzung der aktuellen, sich immer mehr säkular und „neoliberal“ beziehungsweise „kapitalistisch“ (wahlweise um andere aktuell gerne verwendete, zumeist aber vage bleibende Schreckbegriffe zu ergänzen) entwickelnden westlichen Gesellschaften konzipiert. All dies entwickelt sich offensichtlich zu einer möglichen neuen Verortungsmöglichkeit von Kirchen und Religionstraditionen, deren Bedeutung in der modernen Gesellschaft auf einer globalen Ebene evidentermaßen schwindet. Dieser Zugang hat etwas für sich, weil die Religionen mit ihren Bezügen und Verweisen auf eine Sinndimension jenseits dieser Wirklichkeit zweifellos ein interessantes, alternatives und vieles relativierendes Angebot darstellen. Allerdings muss kritisch die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis beziehungsweise der Verträglichkeit von Religion und Demokratie gestellt werden. Bei näherer Betrachtung dieses Beziehungsverhältnisses ist durchaus Vorsicht geboten, insbesondere, wenn man die geschichtlichen Verläufe beachtet. Die Bedeutung von Religionstraditionen schwindet. Gleichzeitig werden Stimmen laut, welche die Religion als „Ergänzung“ der modernen Gesellschaft konzipieren. Doch die Geschichte mahnt zur Vorsicht. Religionen: Würze der Demokratie? Religionen stützten Feudalismus Der historische Befund ist nämlich mehr als eindeutig: Religionen aller Ausprägungen haben jahrtausendelang feudale, nichtdemokratische und streng hierarchisierte Gesellschaftssysteme nicht nur mitgetragen, sondern vielmehr aktiv legitimiert und gestützt. In der christlichen europäischen Tradition dominierte lange Zeit die Vorstellung von einer gottgewollten gestuften Wirklichkeit, die beispielsweise die gesellschaftliche Vorordnung aristokratischer Schichten legitimierte und die sich ausgesprochen gut mit den zugrundeliegenden biblischen Textmaterialien verbinden ließ. Ein anderes Beispiel wäre die in den Hindu-Religionen verankerte Vorstellung von einer über Wiedergeburtsverkettungen begründeten sozialen Ordnung, die die Einteilung in verschiedene Schichten und die Nachordnung der unteren „Kasten“ religiös legitimierte und damit noch fester verankerte. Das, was wir heute als liberale demokratische Systeme erleben, musste sich historisch gesehen gegen die institutionalisierten Religionen durchsetzen – und hier waren oftmals äußerst heftige Widerstände zu überwinden. In Europa gab es einen mühseligen und langwierigen Aushandlungsprozess etwa mit der katholischen Tradition – und bis heute hat man so seine Not mit dem damit verbundenen Begriff der Freiheit. Wenn religiöse Institutionen Treiber von Demokratisierungstendenzen waren, dann primär unter Bezug auf das damit verbundene Moment der freien Religionsausübung. Das beste Beispiel gibt dafür die Geschichte der Vereinigten Staaten, in deren Genetik die Religionsfreiheit verankert ist. Das hat viel mit den Interessen der vielen, sehr unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften tun, die zum Teil ja explizit aus religiösen Gründen den europäischen Kontext verlassen haben. Um so beeindruckender ist angesichts dieses grundsätzlichen Befundes das eher seltene Phänomen, wenn religiöse Hierarchieträger aktiv Demokratisierungsprozesse einleiten. Ein sehr instruktives Beispiel gibt hier der Dalai Lama ab, der 2011 die Demokratisierung der tibetischen Exilregierung begann. Keine positive Verbindung Aber auch in der Gegenwart lässt sich keine intrinsisch positive Verbindung zwischen Religionen und liberaler Demokratie beobachten. Wenn man sich etwa die politischen Realverhältnisse im europäischen Kontext näher ansieht, dann scheinen eher restriktiv agierende, die einschlägigen demokratischen Entscheidungsprozesse zumindest problematisierende politische Parteien die Unterstützung der bestimmenden Religionstraditionen zu genießen. Die polnische PiS Partei erfreut sich aktiver Unterstützung der katholischen Kirche, die „illiberale“ Demokratie Viktor Orbáns in Ungarn ebenso. Und gänzlich problematisch scheint die enge und in den Traditionen viel zu wenig problematisierte Anbindung der orthodoxen Kirchen an ethnische und nationale Vorstellungen, die zum Teil autokratische Systeme stützen. Von dieser Warte aus lässt sich also ein eher problematisierender Zugang zu dieser These von einer prinzipiell positiven Verbindung von demokratischen Systemen und Religionen erkennen. Man könnte in diesem Punkt sogar noch weiter gehen: Die Frage ist nämlich auch, inwiefern Religionen strukturell eine gewisse Affinität zu hierarchischen, nicht primär egalitären Systemen haben (und nicht nur dann, wenn sie gerade die Nähe zur Macht genießen). Religionen sind von ihrer Grundkonzeption her mit dem Tradieren und Bewahren einer spezifischen inhaltlichen Botschaft verbunden, die von dafür Verantwortlichen überliefert wird und an der es sich zu orientieren gilt. Damit ist von vornherein ausgeschlossen, dass es so etwas wie eine fundamental demokratisch konzipierte „Abstimmungsreligion“ geben kann, wo auf institutionalisierter Basis über Inhalte beliebig und von jedem Mitglied abgestimmt werden kann. Man kann sich wohl keine christliche Tradition vorstellen, bei der über die Frage der Trinität abgestimmt wird oder über den strengen Fokus auf den Monotheismus im Islam oder im Judentum. Religiöse Traditionen haben also per se etwas mit dem Tradieren von Inhalten innerhalb hierarchischer Strukturen zu tun. Wahr ist aber auch, dass Religionen immer wieder das Potenzial bewiesen, oftmals sehr erstarrte, auch religiös legitimierte Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen, was durchaus mit dem Moment einer Befreiung zu tun hat. Dabei lässt sich beobachten, dass insbesondere Religionen in der Begründungs- und Entstehungsphase oftmals gehörige soziale Sprengkraft in sich tragen. In der Frühgeschichte des Islam scheint die Attraktivität insbesondere auch für die sozial Benachteiligten ein wichtiges Argument „ Religionen sind von ihrer Konzeption her mit dem Tradieren und Bewahren einer spezifischen Botschaft verbunden. “ für frühe Konvertiten gewesen zu sein; und die Überwindung des Clandenkens war, zumindest nominell, ein zentrales Anliegen. Auch die südasiatische Religionsgeschichte bringt hier interessante Beispiele: Einer der Gründe für die Attraktivität des Buddhismus war zweifellos die Loslösung von der Verkoppelung von Erlösung und Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten. All dies hat selbstredend nichts mit der Entstehung der modernen Demokratien zu tun, verbindet sich aber mit Momenten einer Befreiung – und das durchaus auch auf einer individuellen Ebene. Lesen Sie zu Religion und Demokratie auch den Beitrag von Regina Polak am 22.11.2023, siehe „Religion matters“ auf furche.at. Beispiel Dalai Lama Der Dalai Lama (Bi.: Besuch im US-Kongress) tritt politisch für die Freiheit Tibets ein, er hat aber bereits 2011 begonnen, die tibetische Exilregierung zu demokratisieren. Lesen Sie auch den Beitrag von Sieglinde Rosenberger am 20.12. 2023, siehe „Stehen die Kirchen auf Seiten der Autokraten?“ auf furche.at. Foto: GettyImages / AFP / Saul Loeb Lesen Sie zum Schwund der Kirchen auch den Beitrag von Gregor Maria Hoff am 20.12. 2023, s. „Fro he Weihnachten?“ auf furche.at. Tatkräftig können deshalb religiöse Traditionen auch soziale Umwälzbewegungen legitimieren, die sich gegen autokratische Regime wenden. Die islamische Revolution im Iran in den ausgehenden 1970er Jahren ist ein gutes Beispiel dafür. Bedeutende intellektuelle Vordenker, wie etwa der Soziologe Ali Shariati, beriefen sich auf die angesprochenen emanzipatorischen Dimensionen in der islamischen Tradition, in diesem speziellen Fall gegen das herrschende Schah-Regime gerichtet. Dass allerdings nach Abschluss des Revolutionsprozesses am Ende ein System treten würde, das wiederum alles – bei allen damit verbundenen demokratisch verstandenen Elementen wie etwa einem Parlament und einem gewählten Präsidenten – einer finalen Kontrolle einer religiös (und damit explizit nicht demokratisch legitimierten) Instanz in Person des „Führers“ unterwarf und sich dann zu einem hochproblematischen unterdrückerischen System entwickelte, steht auf einem anderen Blatt, folgt aber einer gewissen internen Logik der Religionstradition. Es ist nicht zuletzt ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten dieses Beziehungsgeflechtes Religion und Demokratie, über das sich zweifellos nachzudenken lohnt. Man sollte aber keinesfalls so tun, als ob dieses Verhältnis ein natürliches wäre. Der Autor ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Graz.
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