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DIE FURCHE 25.01.2024

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DIE FURCHE · 4 4 Das Thema der Woche Der Körper vergisst nicht 25. Jänner 2024 „ Letztlich verfolgen wir alle dasselbe Ziel: Wir wollen nicht, dass unsere Kinder missbraucht werden – und wir wollen nicht, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt werden. “ Karin Birners Pseudonym „Komamok“ ist ein Sinnbild für die innere Spaltung, mit der sie lange leben musste. Kunst und Psychotherapie haben ihr den Weg zur Genesung geebnet. Malerin ihrer inneren Anteile FORTSETZUNG VON SEITE 4 nämlich, dass es das Charakteristikum von authentischen Trauma-Erfahrungen sei, dass sie eben nicht vergessen werden können. Was stimmt nun? Gysi: Aus der Forschung wissen wir, dass traumatische Erinnerungen chronologisch oft nicht gut integriert sind. Es gibt eine sogenannte „Zeitgitterstörung“, das heißt Abfolgen von Ereignissen können verändert sein. Das internationale Diagnosemanual ICD-11 spricht außerdem von einer „dissoziativen Amnesie“, also einer Unfähigkeit, sich an gewisse traumatische oder belastende Ereignisse zu erinnern. Das bedeutet, dass es natürlich auch Lücken geben kann. Die meisten Betroffenen berichten über fragmentarische Erinnerungen, sie zweifeln an sich und der eigenen Wahrnehmung. Erinnerungen, die uns erschüttern, verschwinden jedoch nicht einfach. Sie verstecken sich. Sie tauchen in die Tiefen unseres Bewusstseins ab – unerreichbar, weil wir uns unbewusst entschieden haben, nicht an ein besonders schmerzhaftes Ereignis zu denken. DIE FURCHE: Verdrängte Erinnerung aufgrund traumatischer Erfahrung – haben Sie da ein Beispiel aus der Praxis? Gysi: Vor einigen Jahren suchte eine Frau meine Hilfe. Sie hatte erfahren, dass sie in ihrer Kindheit Opfer eines mittlerweile verurteilten Sexualstraftäters geworden war. Sie bat mich, sie dabei zu unterstützen, sich an diese schrecklichen Ereignisse zu erinnern. Doch ich lehnte ab. Das aktive Aufspüren von Erinnerungen ist ein Tabu in der Therapie. Bei der Untersuchung ihrer Vorgeschichte stellte sich heraus, dass sie ihr Leben lang mit Selbsthass, Misstrauen, Selbstverletzungen und Sucht zu kämpfen hatte. Frühere Therapieversuche hatten kaum Besserung gebracht. Also konzentrierten wir uns auf ihre aktuellen Symptome. Dann passierte etwas Unerwartetes; plötzlich tauchten Erinnerungen an sexuelle Gewalt auf. Ob diese genau der Realität entsprachen, konnten wir nicht mit Sicherheit sagen. Aber das war auch nicht das Wichtigste. Denn sie fand einen guten Umgang mit diesen Erinnerungen – und ihre Lebensqualität verbesserte sich dadurch deutlich. DIE FURCHE: Sie hätten als Therapeut auch anders reagieren können – und die Erinnerungen der Klientin wären vielleicht in eine andere Richtung gegangen? Gysi: Es gibt immer die Möglichkeit, dass Menschen posttraumatische Symptome haben, diese aber falsch zuordnen. Das bedeutet Bild: Karin Birner nicht, dass die Person nichts Schlimmes erlebt hat. Es kann aber sein, dass sie zum Beispiel emotionale Vernachlässigung mit körperlichen Grenzüberschreitungen verwechselt. Ich lade Klienten und Klientinnen daher immer zum Warten ein. Heute haben wir folgende Haltung in der Therapie: kritisch glauben, mitfühlend zweifeln. Diese Einstellung braucht es überall – auch bei der Polizei und an den Gerichten: Kritisch sein, aber mitfühlend. „ In der Schweiz zeichnet sich eine besorgniserregende Entwicklung ab: Menschen, die unter Traumafolgen leiden, stehen vor immer größeren Hürden. “ DIE FURCHE: Was bedeutet das konkret? Gysi: Wir müssen zurückfinden zu einer sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung. In der Schweiz zeichnet sich jedoch eine besorgniserregende Entwicklung ab: Menschen, die unter Traumafolgen leiden, stehen vor immer größeren Hürden, um eine Therapie zu finden. Zugleich schwinden die stationären und ambulanten Angebote. Krankenkassen zögern, die Kosten zu übernehmen, insbesondere bei Menschen mit schweren dissoziativen Störungen. Einige Kliniken schließen ihre Türen für traumatisierte Personen oder setzen die Guidelines zur Behandlung posttraumatischer und dissoziativer Störungen nicht um. Auch niedergelassene Therapeuten und Therapeutinnen zögern zunehmend, mit diesen Personen zu arbeiten. Die Angst, in manchen Medien oder in bestimmten Fachkreisen an den Pranger gestellt zu werden, wenn sie Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen behandeln, ist derzeit groß. DIE FURCHE: Welche Lösung schlagen Sie vor, um weiteren Schaden von der Traumatherapie abzuwenden? Gysi: Wir sollten nicht länger in einem Entweder-oder-Denken verharren, das die Opfer sexualisierter Gewalt benachteiligt. Denn letztlich verfolgen wir alle dasselbe Ziel: Wir wollen nicht, dass unsere Kinder missbraucht werden – und wir wollen nicht, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt werden. Foto: Privat Von Dagmar Weidinger Was tut man, wenn die inneren Bilder nach außen drängen und gleichzeitig die Sprache fehlt? Karin Birner (60), Künstlerin aus Nürnberg, hat genau das erlebt. Ein langes Schweigen, Abspalten, nicht Hinsehen-Können auf das, was da in der Kindheit Monströses passierte. Es war der eigene Vater, der das Schlafzimmer der neunjährigen Tochter immer wieder betrat, um sie zu missbrauchen. Bis zu dem Tag, als Birner beschloss, ihm die Türe zu versperren. Damals war sie zwölf, wollte etwas machen aus ihrem Leben, das „Abi“ schaffen und alles hinter sich lassen. Nächtliche Kreativität Der Schulabschluss gelingt der hochbegabten jungen Frau; emotional ist es alles andere als leicht. „Ich war vor Angst innerlich erstarrt“, sagt sie heute im Rückblick und fügt hinzu: „... und tat doch alles, um normal zu funktionieren.“ Tatsächlich scheint es vorerst einen Weg für sie zu geben, die Erinnerungen nicht hochkommen zu lassen. Birner geht zum geisteswissenschaftlichen Studium nach Erlangen, wechselt nach kurzer Zeit zur Informatik und dann zur Kunstausbildung in Oldenburg. In dieser Zeit beginnt sie nachts zu malen. Wenn sie aufsteht, weiß sie nicht, was sie getan hat. Ihre Bilder sind ihr fremd. Eine Andere muss sie gemacht haben. Tatsächlich gibt sie sich bald den Künstlernamen „Komamok“ – ein Sinnbild für ihre innere Spaltung. „Koma“ beherrscht den Tag, während „Amok“ des Nächtens mit breiten, kräftigen Pinselstrichen die Leinwände befüllt. Farbintensive Bilder mit großflächigen Personen entstehen. Was Birner erst im Laufe der Zeit bewusst wird, ist: Ihre Persönlichkeit wurde durch das Trauma in mehrere Identitäten aufgesplittert. „Multiple Persönlichkeitsstörung“ Nächste Woche im Fokus: „ ‚Das ist die Dissoziation‘, erklärt Karin Birner und zeigt auf eines ihrer Bilder: ‚das Wegfliegen aller Gedanken und Erinnerungen‘. “ wird man ihr bei einem Klinikaufenthalt diagnostizieren. Heute spricht man von einer „dissoziativen Identitätsstörung“. Birner geht es zunehmend schlechter, sie bricht alle ihre Studien ab, muss immer öfters ins Krankenhaus. „Irgendwann kam’s einfach hoch“, sagt sie im Rückblick. Gemeint ist die Erinnerung, die so sicher verschlossen schien. Zuerst nur als „komisches Gefühl“ oder als sinnliche Flashbacks bei Schritten am Gang. Im Rahmen vieler Klinikaufenthalte und Therapien arbeitet Birner nun das Geschehen auf. Am wichtigsten bleibt dennoch der Weg der Malerei für sie. „Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen“, ist folgerichtig ein Satz, den man oft von ihr hört. Birner übersiedelt Anfang 40 in eine eigene Wohnung in Nürnberg in Bahnhofsnähe, wo sie bis heute lebt. In den Zimmern, auf den Möbeln und am Boden stapeln sich ihre Kunstwerke. Eines davon zeigt das Gesicht einer Frau, vor der weiße Vögel hochfliegen. „Das ist die Dissoziation“, erklärt Birner und zeigt auf das Bild: „das Wegfliegen aller Gedanken und Erinnerungen.“ (siehe links) Scheinbar verschwunden für viele Jahre. „Blindheit“ ist nicht umsonst ein häufiges Sujet bei Karin Birner – Frauen mit verbundenen Augen, die auf Drahtseilen balancieren, bevölkern ihre Malerei. Integration der Identitäten Ihre ersten nächtlich gemalten Bilder versteckte Karin Birner noch vor sich selbst. Mittlerweile kann sie auf viele Ausstellungen zurückblicken. Erst das Auftauchen der Erinnerungen hat für Birner den Genesungsweg geebnet. In vielen weiteren Werken reflektiert sie ihre verschiedenen Identitäten, etwa in der „Augsburger Puppenkiste“: Was auf den ersten Blick wie ein buntes Marionettentheater wirkt, sind die früheren Anteile der Malerin. Die Bilder und eine langjährige tiefenpsychologische Psychotherapie haben Karin Birner letztlich geholfen, ihre inneren Anteile zu „fusionieren“. Staatsanwaltliche Ermittlungen, Anklagen und höchstgerichtliche Entscheidungen dominieren die Innenpolitik. Und weltweit werden Prozesse für Minderheitenrechte und Klimaschutz oder gegen Kriegsverbrecher geführt. Wie sehr soll und darf die Justiz Politik machen?

DIE FURCHE · 4 25. Jänner 2024 International 5 Lesen Sie hierzu auch den Text: „Der Triumph des Enfant terrible“, ebenfalls von Tobias Müller (6.12.2023) auf furche.at. Von Tobias Müller Peripherer als Ter Apel wird es nicht in diesem Land. Gut 200 Kilometer entfernt liegen die großen Städte im Westen. Stundenlang dauert die Reise in immer kürzeren Zügen durch dunstige Felder, dann geht es mit dem Bus vorbei an einem schnurgeraden, dunklen Kanal. 10.000 Menschen wohnen hier im äußersten Nordosten des Landes, am strukturschwachen Rand der Provinz Groningen, kurz vor der deutschen Grenze. Ein Ort, möchte man meinen, an dem sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Doch während sie das tun, redet bisweilen das ganze Land, ganz Europa über Ter Apel. Zuletzt geschah dies im Dezember. Das Anmeldezentrum, in dem sich alle registrieren müssen, die in den Niederlanden Asyl beantragen wollen, war voll, so die Schlagzeilen der Nachrichten. Wieder einmal. 2000 Personen können dort unterkommen, ehe sie weiter über das Land verteilt werden. Doch bis zum Jahresende, so Eric van der Burg, der Staatssekretär für Asyl und Migration in Den Haag, fehlte es an 4000 Plätzen. Einmal mehr rief er die Kommunen auf zu helfen, einmal mehr weigerten sich viele. Weil doch noch einige einsprangen und auch Hotels Betten bereitstellten, brauchte diesmal niemand auf dem Boden vor dem Eingang zu schlafen. Bossink weist auf die Baracken Für Laura Bossink bedeutet das zunächst einmal Aufatmen. Doch von Entspannung kann keine Rede sein. „Gerade habe ich die aktuellen Zahlen bekommen“, sagt sie und blickt auf ihr Telefon. „Gestern mussten wir 2150 Personen Wer den jüngsten Erdrutschsieg der Rechtspopulisten in den Niederlanden verstehen will, sollte Ter Apel einen Besuch abstatten. Über einen Ort, der zum Symbol für eine eskalierende Asyldebatte geworden ist – und ein Sinnbild für den Umgang mit dem Thema in Europa darstellt. Das Dorf, die Angst, die Hetze unterbringen.“ Bossink ist die lokale Sprecherin der Behörde COA, zuständig für die Unterbringung von Asylsuchenden. An einem der ersten Morgen des neuen Jahres steht sie unter dem Vordach des Wohnkomplexes aus rotem Backstein. Es regnet in Strömen, doch die Erstunterkunft wirkt auf den ersten Blick nicht abweisend. Die zweistöckigen Gebäude, in denen jeweils acht Menschen kurzfristig verbleiben können, erinnern an eine Reihenhaussiedlung. Hinter diesem Eindruck jedoch liegt das, was Bossink einen „permanenten Krisen-Zustand“ nennt, und den zu moderieren ihr Job ist. Daher empfängt sie in diesem Winter ab und an Medien auf dem eigentlich nicht zugänglichen Gelände. „Wir wollen die Situation hier zeigen“, erklärt sie, und weist auf die zusätzlichen Baracken, die wegen der latenten Überfüllung zwischen den Wohnhäusern aufgestellt sind. In einer warten Männer und in der anderen Familien darauf, sich registrieren zu lassen. Wann das geschehen wird und wo man ihnen am Abend ein Bett zuweisen kann, wird sich im Laufe des Tages zeigen. Das Problem von Ter Apel ist eigentlich simpel – arithmetisch gesehen. „Im Moment kommen mehr Menschen an, als untergebracht werden können“, bringt es die COA-Website auf den Punkt, weshalb man weiter nach „strukturellen Lösungen“ suche. Die Behörde erfasst die Situation in den technischen Begriffen instroom und uitstroom. Dass der „Einstrom“ den „Ausstrom“ übersteigt, liegt freilich nicht an einem „Asyl-Tsunami“, den der Rechtspopulist Geert Wilders immer wieder beschwört. Im November ging die Regierung von insgesamt rund 68.000 Menschen aus, die 2023 einen Antrag stellen - zu Jahresbeginn hatte man noch 76.000 erwartet. Foto: Tobias Müller Wilders Botschaft Zwar löst sich das Wahlplakat von Geert Wilders Rechtsaußen-Partei witterungsbedingt ab, doch seine Botschaften bleiben: „Voll ist voll.“ „ Der Begriff ,Glückssucher‘ wird hier abschätzig als Synonym für alle Geflüchteten verwendet. “ Verursacht werden die Schwierigkeiten eher dadurch, dass es an Unterkünften im Land mangelt, etwa weil Kommunen solche geschlossen haben oder keine neuen eröffnen wollen. Und noch etwas fehlt, erklärt Laura Bossink: „Wohnungen für Menschen, die anerkannt wurden. Die bleiben dann in den Asylwohnheimen. Im November waren es 16.000.“ Für diese Komplexität fehlt im politischen Diskurs oft der Platz. Stattdessen wird die soziale Misere jahrzehntelanger neoliberaler Politik gewohnheitsmäßig mit dem Thema Asyl verknüpft. Wilders, dessen Partij voor de Vrijheid (PVV) Ende November mit großem Vorsprung die Parlamentswahlen gewann, hetzte Anfang 2023 bei einer Demonstration in Den Haag gegen „Asylbewerber, die sich jeden Tag vollfressen, während unsere Alten im Heim 100 Gramm Fleisch und 150 Gramm Gemüse täglich bekommen.“ Im Herbst zeterte er, Asylsuchende würden auf Luxusschiffen untergebracht, mit „gratis Heizung“ und medizinischer Versorgung, während Einheimische jahrelang auf eine Wohnung warteten und kaum die Energiekosten stemmen könnten. Titel seiner Videobotschaft: „Voll ist voll.“ Neun Tage Wartezeit auf ein Bett Das Anmeldezentrum Ter Apel ist das Symbol dieses Diskurses. Das weiß auch Laura Bossink, die es als Aufgabe ihrer Behörde ansieht, denen, die hier ankommen, Warten und Ungewissheit so komfortabel wie möglich zu machen - „wenn das möglich ist“. Die Zustände des Spätsommers 2022, als Hunderte Menschen vor dem Eingang auf dem Boden schlafen mussten und die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ wegen hygienischer und medizinischer Notstände ein Team schickte, gibt es derzeit nicht, doch ein entsprechendes Alptraum-Szenario hängt noch immer über dem Zentrum, und die Bilder dieser Zeit haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. „Ter Apel ist ein Flaschenhals“, erklärt Sprecherin Bossink und berichtet von einem Mann, der ihr kürzlich per Übersetzungs- App mitteilte, er warte seit neun Tagen auf ein Bett in einer Notunterkunft. Bei ihrer Analyse legt sie Wert auf Nuancen. „Ich habe eine Weihnachtskarte bekommen, von Menschen, die sich für unsere Arbeit bedanken, und sich für die Unterbringung für Asylsuchenden in diesem Land schämen.“ Hetzerische Social Media-Berichte, etwa Trending-Themen auf X wie „Voll ist voll“ oder die Forderung nach einem „Asyl- Stop“, beträfen nur einen Teil der Bevölkerung. Doch auch ihr ist klar: „Das Wahlergebnis zeigt, dass die Leute eine Veränderung beim Zustrom wollen.“ FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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