DIE FURCHE · 4 22 Film 25. Jänner 2024 TRAGIKOMÖDIE Erinnerung an die Filme der 1970er Jahre Sechs Jahre nach „Downsizing“ (2017) meldet sich Alexander Payne mit seinem besten Film seit „Nebraska“ (2013) zurück. So vorhersehbar die Geschichte um einen misanthropischen Lehrer (Paul Giamatti), der sich im Internat während der Weihnachtsferien um einen rebellischen Teenager (Dominic Sessa) kümmern muss, im Großen ist, so überraschend und beglückend bleibt „The Holdovers“ im Detail. Nicht zufällig spielt diese Schulgeschichte dabei im Jahr 1970. Damit können Payne und sein Drehbuchautor David Hemingson das Trauma des Vietnam-Kriegs hereinspielen lassen und die Kluft zwischen Oberschicht und Unterschicht aufdecken. Schwer lastet so auf der afroamerikanischen Köchin (Da’Vine Joy Randolph) die Trauer um ihren Sohn, der aus Geldmangel zur Armee ging und in Vietnam fiel, während den reichen Schülern der privaten High-School nach Schulabschluss alle Möglichkeiten offenstehen. Keinen Hehl macht der von Paul Giamatti hinreißend gespielte Lehrer aus seiner Verachtung für die Sprösslinge dieses Geldadels. Doch langsam werden nicht nur bei ihm, sondern auch bei seinem Schützling hinter der aggressiven Fassade Frustration und Traumata sichtbar. Wunderbar trocken inszeniert Payne und sorgt mit pointierten Dialogen und einem sicheren Gespür für Situationskomik für hinreißenden Witz. Dazu beschwören ein großartiger Soundtrack und die an die US-Filme der frühen 1970er Jahre erinnernde Bildsprache dicht die Atmosphäre der Zeit. Getragen wird diese großartige Tragikomödie aber von der facettenreichen Figurenzeichnung und einem blendend harmonierenden Ensemble, das dafür sorgt, dass sich unter die Komik immer wieder berührende Momente mischen. (Walter Gasperi) The Holdovers USA 2023. Regie: Alexander Payne. Mit Paul Giamatti, Da’Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Dominic Sessa, Andrew Garman. Universal. 133 Min. Dominic Sessa, Paul Giamatti und Da’Vine Joy Randolph (v.li.) in „The Holdovers“ Das Gespräch führte Matthias Greuling Als sich Nicola Werdenigg 2017 über die Medien zu Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen im österreichischen Skisport äußerte, war Feuer am Dach des Skiverbandes. Werdenigg erhob schwere Vorwürfe, berichtete von ihrer Vergewaltigung und dem systemischen Machtmissbrauch in der Branche. Antonin Svoboda hat diese Geschichte nun verfilmt. DIE FURCHE: Herr Svoboda, wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu drehen? Svoboda: Ich hatte Nicola Werdenigg auf meiner Hochzeitsreise kennengelernt. Ich wusste damals nicht, dass sie Skirennläuferin war, und meine Frau und ich blieben lose in Kontakt mit ihr. Als Werdenigg 2017 mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit ging, war ich überrascht. Ich habe mich nicht gleich bei ihr gemeldet, sondern etwa ein Jahr später. Ich wollte wissen, wie es ihr mit der Geschichte ging. Damals gab es die Idee zum Film noch gar nicht. Aber ihre Erzählungen haben mir keine Ruhe gelassen, und ich entschloss mich, sie als Grundlage für einen fiktionalisierten, aus vielen Fallbeispielen erarbeiteten Film zu machen. DIE FURCHE: Wieso war es Ihnen wichtig, Werdeniggs Geschichte zu erweitern und aus ihr die Geschichte von Andrea Weingartner zu machen? Antonin Svoboda verfilmte mit „Persona non grata“ die Missbrauchs-Geschichte der Skirennläuferin Nicola Werdenigg. Im Gespräch beklagt er das System dahinter. „Sensorium entwickeln“ Svoboda: Das Fiktionalisierte will keinen Wahrheitsbeweis antreten. Es ging einerseits um künstlerische Freiheit, andererseits auch um den Schutz, damit der Skiverband, wenn er denn hätte klagen wollen, keinen Grund für eine Klage gehabt hätte, weil ich vorweg erklärt habe, dass es eine fiktive Geschichte ist. DIE FURCHE: Gab es vom Skiverband ÖSV Bedenken zu Ihrem Film? Immerhin prangern Sie darin ein regelrechtes System von Übergriffen und Machtmissbrauch an. Svoboda: Ich stand schon von Beginn an mit dem ÖSV in regem Austausch, da ich „ Wenn die richtigen Menschen miteinander arbeiten und Vertrauen und Integrität gewahrt bleiben, ist Sport ohne Anflug von Missbrauch möglich. “ Foto: Wikipedia/ Manfred Werner (cc by-sa 3.0) Anonin Svoboda ist Filmproduzent und Regisseur („Spiele leben“ 2005, „Der Fall Wilhem Reich“ 2012). Gerti Drassel Die Südtiroler Schauspielerin spielt die Hauptrolle der Andrea in Antonin Svobodas Film „Persona non grata“. im Film ja das ÖSV-Logo verwenden wollte - und man genehmigte es mir auch. Natürlich hätte sich der Verband einen positiven Film gewünscht – das geschieht derzeit ohnehin durch die neue Serie „School of Champions“. Aber sie wussten, ich berichte von einem Fall aus den 1970ern, und man ist beim ÖSV ohnehin bemüht, den Mief der Vergangenheit loszuwerden. Ich habe schon den Eindruck, dass man sich dort der Vergangenheit ernsthaft stellt. DIE FURCHE: Im Vorjahr sah man im Dokumentarfilm „Stams“, wie körperlich nahe einander junge Sportlerinnen und ihre meist männlichen Trainer kommen. Begünstigt das sexuellen Missbrauch? Svoboda: Sport ist einfach sehr physisch. Ich glaube, wenn die richtigen Menschen miteinander arbeiten und Vertrauen und Integrität gewahrt bleiben, dann ist so etwas ohne Anflug von Missbrauch möglich. DOKUMENTARFILM Eine Künstlerfamilie aus den Schweizer Bergen Giovanni Giacometti (1869– 1933) brach in den 1880er- Jahren vom engen Südschweizer Bergtal Bergell nach München und Paris auf, um Kunst zu studieren. Schon im folgenden Jahrzehnt kehrte er aber wieder in seine Heimat zurück und entwickelte sich dort zu einem der ersten Schweizer Künstler der Moderne. An Bedeutung übertraf ihn schließlich sein Sohn Alberto (1901–1966), der in Paris als Bildhauer und Maler Karriere machte. Susanna Fanzun blickt in ihrem Dokumentarfilm nicht nur auf diese beiden bekannten Künstler, sondern zeichnet das Leben der gesamten Familie nach. So werden neben Giovanni und Alberto nicht nur Diego, der Jahrzehnte lang mit Alberto in Paris lebte und sich als Möbeldesigner einen Namen machte, und Bruno, der als Architekt vor allem in Zürich und Graubünden wirkte, gewürdigt, sondern auch Giovannis Ehefrau Annetta und die einzige, schon früh verstorbene Tochter Ottilia. Mit ruhigem Kommentar zeichnet Fanzun chronologisch die Familiengeschichte der Giacomettis von der Jugend Giovannis bis zum Tod Brunos im Jahr 2012 nach. Unterstützt wird die Erzählung, bei der die Dokumentarfilmerin immer wieder fließend zwischen den einzelnen Familienmitgliedern wechselt, durch zahlreiche private Briefe sowie durch Interviews mit Wegbegleitern, Verwandten und Freunden. Dazu kommen auf der visuellen Ebene neben Familienfotos und historischen Filmausschnitten zum zeitgeschichtlichen Hintergrund großartige Landschaftsaufnahmen (Kamera: Pierre Mennel), aber auch kurze nachinszenierte Szenen. Man spürt in der feinfühligen Mischung der unterschiedlichen Bild- und Textquellen nicht nur die Liebe und Sorgfalt, mit der Fanzun arbeitete, sondern auch ihre Wertschätzung dieser Künstlerfamilie. Etwas zu gleichförmig mag zwar der Film insgesamt dahingleiten und mehr Zurückhaltung bei der Untermalung mit Klavier- musik hätte nicht geschadet, aber wie rund und schlüssig die sich über mehr als hundert Jahre spannende Familiengeschichte nachgezeichnet wird, beeindruckt doch. Sichtbar wird dabei im Raum, der der Mutter Annetta, die der ruhende Pol der Familie war, und der Schwester Ottilia beigemessen wird, auch der weibliche Blick. Aber auch die Bedeutung des heimatlichen Bergells und die Verankerung in diesem wird spürbar, wenn die Kinder zwar in die Welt aufbrachen, aber doch auch immer wieder zurückkehrten. (Walter Gasperi) Die Giacomettis (I Giacometti) CH 2023. Regie: Susanna Fanzun. Polyfilm. 104 Min. Die Familie Giacometti 1911: Alberto, Bruno, Vater Giovanni und Mutter Annetta, vorne Diego und Ottilia (v. li.).
DIE FURCHE · 4 25. Jänner 2024 Film 23 Und das will man ja auch. Wir wollen uns ja nicht in eine aseptische Gesellschaft entwickeln, die Nähe verbietet, weil dabei etwas passieren könnte. Ich glaube, es braucht ein Sensorium, das schon früh anschlägt, wenn sich etwas komisch anfühlt, und man dann schon prophylaktisch eingreifen kann, anstatt hinterher als Reaktion auf Missbrauch. „The Klezmer Project“: Der semidokumentarische Film von Paloma Schachmann und Leandro Koch hält nicht, was der Titel vorgibt, entpuppt sich aber als faszinierendes Roadmovie. Spuren jiddischer Kultur DIE FURCHE: Also Missbrauch gar nicht erst entstehen lassen? Svoboda: Körperlichkeit zulassen, freudig leben, aber ein Sensorium haben und stets aufeinander zu achten. DIE FURCHE: Wieviel Nicola Werdenigg steckt in dieser Andrea Weingartner? Svoboda: Hätte ich Nicolas Geschichte 1:1 verfilmt, hätte das nicht funktioniert. Das, was sie gemacht hat, nämlich sich ohne Coaching einer medialen Schlacht auszuliefern, schafft normal kein Mensch. Mir ging es darum: Wie fühlt sich ein Mensch, der es wagt, diesen Mut aufzubringen, obwohl ihm so ein Gegenwind widerfährt. KRITIK ZUM FILM Außerordentliches Feingefühl Gerti Drassl spielt die Abfahrtsläuferin Andrea, die es in den 1980er Jahren zu einigen Triumphen gebracht hat und als Hoffnung des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) galt. Bergab zu fahren, das sollte ihr Ruhm, Ehre und eine Karriere bescheren, aber die Hocke-Haltung mit dem herausgestreckten Gesäß, die hat so manchen Trainer auch mal zulangen lassen; geradezu systemisch sexualisiert sei die Zeit beim Weltcup gewesen, geradezu systematisch seien junge Mädchen von vielleicht 15, 16 Jahren vergewaltigt und misshandelt worden, wird Andrea in diesem neuen, außerordentlichen Film von Antonin Svoboda mehrmals berichten. Von Seiten des ÖSV wird hingegen geleugnet, was das Zeug hält. Antonin Svoboda hat das wahre Schicksal von Nicola Werdenigg, die seinem Drehbuch zugrunde liegt, fiktionalisiert. Er tut dies mit viel Feingefühl und schafft auch Gänsehaut-Momente. Drassl brilliert in der Hauptrolle dank ihres emotionalen Spiels aus Resignation, Verzweiflung, leiser Hoffnung und unbedingtem Mut zur Aufklärung. Ein famoser, wichtiger Film. (Matthias Greuling) Persona non grata A/I 2023. Regie: Antonin Svoboda. Mit Gerti Drassl, Maya Unger, Lukas Miko, Krista Posch, Peter Mitterrutzner. Filmladen. 90 Min. Von Otto Friedrich Selten führt ein Filmtitel so in die Irre wie in der großartigen semifiktionalen Erstlingsarbeit „The Klezmer Project“ von Leandro Koch und Paloma Schachmann. Der spanische Titel der argentinisch-österreichischen Produktion, „Adentro mío estoy bailando“ (In mir tanze ich) gibt viel weniger vor, worum es nicht geht. Denn wer sich von „The Klezmer Project“ erwartet, filmisch in die verschwundene Welt jiddischer Musik geführt zu werden, wird eines Besseren belehrt: Das im Titel angesprochene Projekt ist einem Dokumentarfilm geschuldet, den die beiden Argentinier für den ORF auf die Beine stellen wollen – allerdings kann es diesen Film nicht geben, weil im Osten Europas die Klezmer-Musik nicht mehr existiert. Eigentlich handelt der Film von Lügen oder nicht einzuhaltenden Versprechungen: Da ist die Geschichte vom Lügner Yankel und der von ihm verehrten Taibele, die von einer Frauenstimme im Off auf Jiddisch erzählt wird. Diese Episode findet Entsprechung im Zueinander der realen Figuren Leandro, seines Zeichens Hochzeitsfilmer auf jüdischen Feiern in Argentinien, und Paloma, der dort – nicht nur, aber auch Klezmer- Musik – aufspielenden Klarinettistin. Weil Paloma nach Europa geht, erfindet Leandro das Film projekt, der Klezmer-Musik im Osten Europas nachzuspüren – er will seiner Angebeteten nahe sein. Leandros wie Palomas jüdische Großeltern sind einst aus dem Schtetl emigriert: Das krude Filmprojekt im Film wird so auch zur Spurensuche nach der je eigenen Vergangenheit. „The Klezmer Project“ entwickelt sich zu einem Roadmovie in verwunschene Winkel Europas, wo zum einen die Vergangenheit stehen geblieben, zum anderen aber die „ Eigentlich handelt ‚The Klezmer Project‘ von Lügen oder nicht einzuhaltenden Versprechungen. “ blühende jiddische Kultur verschwunden ist. Auch wenn Leandro und Paloma auf der Suche nach Klezmer sind, finden sie davon nur noch kleinste Reste vor – etwa in Melodien der Roma in Bessarabien, dem Grenzgebiet, das vom heutigen Rumänien über Moldawien in die Ukraine reicht. Dass zwei Monate nach Drehschluss der russische Überfall auf die Ukraine begann, ist eine weitere historische Zäsur rund um „The Klezmer Project“: Den Filmemachern ist bewusst, dass sie da in der Einschicht der Ukraine, wo sie mit dem letzten Jiddisch- Regisseurin (und Klezmer- Klarinettistin Paloma Schachmann) mit den letzten Musikern im Länder-Dreieck Rumänien-Moldawien-Ukraine, die noch Klezmer- Melodien kennen. sprechenden, der in Rumänien lebt, aber als Kleinhändler immer wieder über die Grenze in die Ukraine kommt, etwas zeigen, was es anno 2024 schon nicht mehr gibt. „The Klezmer Project“ thematisiert noch eine weitere, hierzulande kaum noch präsente innerjiddisch-kulturelle Auseinandersetzung, die Leandro Koch und Paloma Schachmann auch schon in Argentinien umtreibt: Klezmer wie auch die jiddische Sprache und Kultur sind untergegangen – und zwar nicht nur durch die Schoa. Sondern, erzählt der Film, auch als Folge eines politischen Streits zwischen den Zionisten, die in Israel eine auf dem Hebräischen fußende Nationalkultur neu aufbauten, und den „Bundisten“, die zunächst nicht emigrieren wollten und das Jiddische als länderund regionen übergreifende Kultur verstanden. Das Hebräische wurde bekanntlich dominant, das Jiddische hingegen verschwand weitgehend. Gerade aktuell taucht diese Kontroverse wieder auf (vgl. dazu die Kolumne „Glaubensfrage“, Seite 10). Man kann die Facetten, die dieser Film hergibt, gar nicht aufzählen. Ein berührendes, geradezu grandioses Kleinod stellt „The Klezmer Project“ in jedem Fall dar. The Klezmer Project (Adentro mío estoy bailando) A/ARG 2023. Regie: Leandro Koch, Paloma Schachmann. Filmgarten. 115 Min. KREUZ UND QUER MARIA STROMBERGER DI 30. JÄN 22:35 Sie meldete sich freiwillig nach Auschwitz – zum Krankenpflegedienst in der SS Krankenstation des KZ: Maria Stromberger (1898-1957), gebürtige Kärntnerin, wohnhaft in Vorarlberg. Sie entkam nur knapp den Schergen der Gestapo: Stromberger schmuggelte Flugschriften aus dem Vernichtungslager und versuchte Menschen zu retten. Unter Überlebenden der KZ-Hölle blieb sie als „Engel von Auschwitz“ in Erinnerung. religion.ORF.at Furche24_KW04.indd 1 17.01.24 16:29
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE