DIE FURCHE · 43 8 Politik 24. Oktober 2024 Klarheit – ohne Kickl Nach der Nationalratswahl vom 29. September (im Bild eine Szene vom Wahlabend) verlangte der Bundespräsident Klarheit. Mittlerweile ist völlig klar: Niemand will mit Kickl. Also bekam Karl Nehammer (ÖVP) den Auftrag zur Regierungsbildung. Von Hellmut Butterweck Als im April 1945, unmittelbar nach der Befreiung, die Politiker der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ die Provisorische Staatsregierung bildeten, waren die Gräben tief. Auf der vielzitierten Lagerstraße hatten die Konservativen die Kommunisten kennengelernt, aber mit den Sozialdemokraten, mit denen sie nun verhandelten, hatte es kaum Kontakte gegeben. Die Emotionen von 1934 brodelten noch. Verglichen mit dem Misstrauen, das damals überwunden werden musste, ist der heutige ÖVP-Zorn auf Leonore Gewessler, was die Substanz der Sache angeht, wohl nur ein Klacks. Die Regierungsbildung ging damals dennoch blitzartig über die Bühne. Die unmittelbaren Probleme des Landes duldeten keinen Aufschub. Zerstörungen, Hunger und Mangel an allem waren gewaltig – und wenn man zusammenarbeiten muss, kann man es auch. Ein wichtiger Umstand erleichterte die Zusammenarbeit: Die Konfrontationspolitiker der Zwischenkriegszeit hatten die Nazis und den Zweiten Weltkrieg hinter sich und waren durch diese Erfahrung zu Konsenspolitikern geworden. Vielleicht sollten wir das historische Exempel im Hinterkopf haben, wenn wir darüber nachdenken, wie es mit Österreich weitergehen kann. Lesen Sie dazu auf furche.at von Helmut Wohnout: „Österreich 1945: Geschichte einer Wiederauferstehung“ (7.5.2020). Eine künftige Regierung unter Karl Nehammer muss sich mehr vornehmen, als fünf Jahre zu überstehen. Warum eine Rückbesinnung auf 1945 ratsam ist und nun alle Demokraten zusammenstehen müssen. Ein Gastkommentar. Begreift, was es geschlagen hat! Wunsch nach Veränderung Eine Koalition mit einer Stimme Mehrheit könne kaum fünf Jahre lang regieren, das hört man jetzt oft. Unter normalen Umständen stimmt es auch. Doch jetzt, unter den von den österreichischen Wählerinnen und Wählern am 29. September 2024 geschaffenen Umständen, ist es anders. Die Neos und die Grünen würden eine ÖVP-SPÖ-Regierung keinesfalls stürzen, solange die Drohung einer durch Neuwahlen noch stärker werdenden FPÖ über ihren und unseren Köpfen schwebt. Eine solche Regierung hätte daher gute Chancen, die volle Legislaturperiode zu überleben, wenn sie auch die eine oder andere Forderung der Neos oder der Grünen erfüllt und wenn sie nicht an inneren Zwistigkeiten zerbricht. Aber dann? Um einen breiten Wählerstrom von der FPÖ zu den demokratischen Parteien zurückzuholen, muss ganz sicher mehr geschehen, als jetzt bloß eine Regierung zu basteln, die als Zweieroder Dreierkoalition die nächsten fünf Jahre übersteht. Wenn die Demokratie überleben will, muss sie sich mehr vornehmen. „ Österreich braucht einen Karl Nehammer und einen Andreas Babler, die ihre Teams auf Partnerschaft statt auf Konkurrenz einschwören – koste es sie, was es wolle. “ Ein großer Teil der freiheitlichen Wähler will einfach Veränderung. Die Veränderungen, die der FPÖ-Führung vorschweben, laufen jedoch auf einen autoritären Staatsumbau hinaus. Das weiß jeder, der nicht davor krampfhaft die Augen verschließt. Dass es in den ORF-Diskussionen vor der Wahl um alle möglichen Übereinstimmungen zwischen den Parteien ging, das Verhältnis der FPÖ zu Freiheit und Demokratie aber vielfach ausgespart wurde, hat dieser am Wahltag nicht geschadet. Keiner der Despoten des 20. Jahrhunderts kam durch freie Wahlen an die Macht. Heute fürchtet sich Europa vor Populisten, die in freien Wahlen solange immer stärker werden, bis sie stark genug sind, um das zu tun, was sie angekündigt haben – und den Staat nach ihren Vorstellungen umbauen. Dass das größte Hindernis für eine Koalition von FPÖ und ÖVP offenbar darin bestand, dass Herbert Kickl Bundeskanzler werden will und keineswegs darin, dass die ÖVP weiß, was die FPÖ plant, beweist, an welch dünnem Faden das Schicksal unseres Landes schwebt. Ein bisserl mehr vom Autoritären wäre wohl einem gewissen Teil innerhalb der ÖVP ganz recht. Sie meinen, sie könnten der FPÖ den kleinen Finger reichen und wollen nicht glauben, wie schnell die Freiheitlichen daran gehen würden, zumindest in „ihren“ Ministerien vollendete Tatsachen zu schaffen. Daran könnte auch ein ÖVP-Bundeskanzler von Gnaden der Freiheitlichen wenig ändern. Die ÖVP- Führung weiß aber mittlerweile Foto: APA / Hans Klaus Techt auch, dass eine Koalition mit der FPÖ das Letzte ist, was eine große Mehrheit ihrer Wähler wünscht. Doch die FPÖ legt weiter zu. Nun hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen ÖVP-Chef Karl Nehammer den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Dieser soll mit der SPÖ ausloten, ob eine stabile Zweier-Regierung möglich ist oder ob es dazu einen dritten Partner braucht. Aber wie lässt sich das Szenario abwenden, dass zwar eine Koalition ohne FPÖ zustande kommt, die demokratischen Parteien in den nächsten fünf Jahren aber so weitermachen wie bisher und die Demokratie ihren Feinden 2029 noch weniger entgegenzusetzen hat als 2024? Kooperieren, weil man muss In dieser prekären Lage empfiehlt sich eine Rückbesinnung auf die unmittelbare Nachkriegszeit. Streit und Aufeinanderprall divergierender Standpunkte gehören zum parlamentarischen Leben. Aber es gibt eben auch Situationen, in denen das Zusammenstehen der demokratischen Kräfte wichtiger ist. In einer solchen Lage war Österreich in der Besatzungszeit von 1945 bis 1955 – und ist es jetzt wieder. Denn wenn die ÖVP und die SPÖ so weitermachen wie die ÖVP und die Grünen in der vergangenen Legislaturperiode, bekommen sie bei den nächsten Wahlen vielleicht überhaupt keine Mehrheit für Freiheit und Demokratie mehr zusammen. Das Letzte, was Österreich jetzt braucht, sind zwei eingeschrumpfte ehemalige Großparteien, die unnötig Zeit damit vertun, einander zu beriechen, ob sich ihre Chemie verbessert hat und ob sie vielleicht wieder einmal miteinander können. Was Österreich jetzt braucht, sind zwei Parteiführer, die in dem Bewusstsein aufeinander zugehen, dass sie zusammenarbeiten können, weil sie es können müssen. Die wissen, dass die Freiheit, die Demokratie und die Rechtsordnung ihres Landes in ihren Händen liegen und dass es keinen Notausgang gibt, weil sich der eine vom Gedanken an eine Koalition mit der FPÖ und der andere vom Gedanken an die Opposition als Option endgültig verabschiedet hat. Verzicht auf Demütigungen Österreich braucht einen Karl Nehammer und einen Andreas Babler, die erkennen, dass die unerlässliche Voraussetzung einer erfolgreichen Zusammenarbeit so ungleicher Partner die Kompromissbereitschaft ist, die entdecken, welch interessanten Sport es für einen Politiker darstellen kann, über den eigenen Schatten zu springen, und die ihre Teams auf Partnerschaft statt Konkurrenz einschwören – koste es sie, was es wolle. Auf eine Koalition also, in der keiner den anderen demütigt und die mit dem Bild, das ÖVP und Grüne zuletzt abgegeben haben und das deren unbestreitbare Leistungen in der Wahrnehmung der Wähler untergehen ließ, nichts gemeinsam hat. Nur so können sie sich nämlich nicht nur auf Vorhaben einigen, deren Verwirklichung sie in fünf Jahren vorweisen wollen, sondern diese auch realisieren. Nur so – nicht zu vergessen die unbedingte Transparenz – kann eine Politik gelingen, die kein Wasser auf die blauen Mühlen ist, sondern diesen das Wasser abgräbt. Karl Nehammer und Andreas Babler sind klug genug, um zu begreifen, was es für sie, die vier demokratischen Parteien, und für Österreich geschlagen hat. Sie sind auch klug genug, um zu erkennen, dass die Anliegen der Grünen zu wichtig sind, um sie einfach links liegen zu lassen. Ein großes Problem sind freilich auf beiden Seiten die divergierenden Interessen. Die Einflüsse aus dem Hintergrund. Auf der einen Seite jene, denen es am liebsten wäre, wenn SPÖ, ÖGB und Arbeiterkammern überhaupt nicht mitreden könnten; auf der anderen das Gezerre um die Vorherrschaft in der Partei. Es wäre ein Unglück für alle, sollte das Zusammenstehen gegen die größte Bedrohung der österreichischen Demokratie seit 1945 daran scheitern. Der Autor (Jahrgang 1927) war viele Jahre FURCHE-Redakteur und ist Publizist sowie Autor zeithistorischer Standardwerke.
DIE FURCHE · 43 24. Oktober 2024 Religion/International 9 US-Theologe H. David Baer über den „Heilsbringer“ Donald Trump, die Attraktivität des Ständestaats in den USA – und welche Rolle ein Heiligenkreuzer Mönch dabei spielt. Das Gespräch führte Christoph Konrath Dass viele Evangelikale für Donald Trump votieren, ist bekannt. Doch wie katholische Integralisten – die den Führungsanspruch der katholischen Lehre in Staat und Gesellschaft fordern – den Populisten Trump für ihre Vorstellungen vereinnahmen wollen, ist bislang unterbelichtet. H. David Baer, Professor für Theologie an der Texas Lutheran University, forscht über das Zusammenspiel von Religion und Politik. Der Jurist und Politikwissenschafter Christoph Konrath hat mit ihm für DIE FURCHE über die Sympathien der Religiösen für Trump, das Verhältnis von Christentum und nationaler Identität, die Rolle illiberaler katholischer Konservativer und Polarisierung als Symptom der Säkularisierung gesprochen. DIE FURCHE: Die ganze Welt wartet auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen. Dort scheint es, als ob Donald Trump einmal mehr als Retter erwartet würde. Wie konnte es dazu kommen? H. David Baer: Es ist üblich, dass autoritäre Regime Personenkulte um ihre Anführer aufbauen. Einige meinen, dass dies einen religiösen Impuls widerspiegelt, der in die Politik einfließt. Wenn wir von Religion in diesem weiten Sinne sprechen, dann gibt es vielleicht sogar einen religiösen Kult um Trump. DIE FURCHE: Spielen hier christliche Vorstellungen hinein? Baer: Ich denke nicht, dass dies auf spezifisch christlich-religiösen Impulsen beruht. Das ist von allgemeinerer Natur und hat mit Prominenz zu tun. Alle Prominenten haben begeisterte Fans – denken Sie nur an Taylor Swift. Ich glaube also nicht, dass die meisten Amerikaner Trump als Heilsbringer betrachten. Sie sehen ihn als einen TV-Star. Aber es ist beunruhigend, dass so viele bereit sind, für einen Mann zu stimmen, nur weil er eine Berühmtheit ist. Das ist ein Zeichen dafür, dass in der US-Politik etwas nicht funktioniert. „Katholische Illiberale wollen Trump nutzen“ DIE FURCHE: Woher kommt die nachhaltige Stärke Trumps – trotz aller Vorwürfe und Verfahren? Baer: Trump hat bei einer bestimmten Gruppe von Wählern Anklang gefunden. Diese haben in der Regel keinen College-Abschluss, sind männlich und „Wähler mit geringer Wahlneigung“. Oft gehen sie gar nicht wählen, aber sie gehen wählen, um für Trump zu stimmen. Er aktiviert eine Gruppe, die sich nicht besonders für Politik interessiert und nicht gut informiert ist. Das ist die Hauptquelle seiner Stärke. Er kontrolliert vielleicht 40 Prozent der Wähler der Republikanischen Partei, und das reicht aus, um sie zu dominieren. Republikaner, die besser informiert und engagierter sind, mögen Trump nicht wirklich, aber sie wählen ihn am Ende trotzdem. DIE FURCHE: Aber warum unterstützen ihn auch viele Christinnen und Christen, die ihren persönlichen Glauben sehr ernst nehmen? Baer: Trump hat ein angespanntes Verhältnis vor allem zum evangelikalen Flügel der Republikaner. Diese Beziehung ist höchst zweckorientiert. Viele Evangelikale glauben, dass Trump in den Bereichen, die ihnen wichtig sind, Ergebnisse liefern wird, und deshalb ignorieren sie die Dinge, die ihnen nicht gefallen. Die parteipolitische Bindung ist so stark, dass die Menschen seine offensichtlichen Fehler und Gefahren ignorieren. DIE FURCHE: In diesem Wahlkampf wurden viele darauf aufmerksam, dass es in den USA eine größere Gruppe an konservativen Intellektuellen gibt, die der Demokratie skeptisch gegenüber stehen. Warum ist das so? Baer: Es gibt in den USA intellektuelle Eliten, die sich offenbar nicht der liberalen Demokratie verpflichtet fühlen. Es kann sein, dass Konservative in den Kulturkonflikten, die ihnen wichtig sind, den Kürzeren gezogen und danach begonnen haben, die liberale Demokratie insgesamt abzulehnen. Es kann sein, dass ihre Frustration über die zeitgenössische amerikanische Kultur sie dazu gebracht hat, die Demokratie dafür verantwortlich zu machen. Diese illiberalen konservativen Eliten versuchen, den Trumpismus zu vereinnahmen, um ihn für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Sie sehen Trump als Zerstörer und glauben, dass sie, wenn er die Demokratie zerstört oder schwer beschädigt, anrücken und Amerika nach ihren eigenen Vorstellungen aufbauen können. Foto: picturedesk.com / Zuma / Jack Kurtz Zur Person: H. David Bear lehrt Theologie an der Texas Lutheran University. Seine Schwerpunkte sind Religion und Politik, politische Ethik und Religionsfreiheit. Im Frühjahr 2024 war er Gastforscher am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. „ Es kann sein, dass Konservative in Kulturkonflikten den Kürzeren gezogen haben – und nun die liberale Demokratie insgesamt ablehnen. “ Verurteilter als Messias Nicht nur (evangelikale) Protestanten, auch Katholikinnen und Katholiken wählen Donald Trump – und ignorieren dafür Dinge, die ihnen nicht an ihm gefallen. DIE FURCHE: Zu dieser Gruppe zählt auch J. D. Vance, Trumps Kandidat für den Vizepräsidenten. Er ist Katholik geworden. Mit dem Harvard-Professor Adrian Vermeule diskutiert er die Idee des Gemeinwohls. Wie passt das zur Politik Trumps? Baer: Trump spricht nie über das Gemeinwohl und hat nie eine große Vision für Amerika formuliert. Er ist ein Populist, der Ressentiments schürt. Aber es gibt, wie gesagt, konservative Intellektuelle, die den Trumpismus für ihre Agenda nutzen wollen. Dazu gehören die katholischen Integralisten, die den Führungsanspruch der katholischen Lehre in Staat und Gesellschaft fordern. Vermeule ist der prominenteste unter ihnen, aber auch ein Mönch aus Heiligenkreuz, Edmund Waldstein, spielt eine wichtige Rolle bei der Verbreitung dieser Idee in den USA. Sie beziehen sich offen auf Modelle des Korporatismus und des klerikalen Faschismus, so wie man es in Österreich unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg tat. Vermeule beruft sich dabei auf den Wiener Theologen Johannes Messner. DIE FURCHE: Welches Menschenbild vertreten diese Intellektuellen? Baer: Sie verbringen viel Zeit damit, über das Gemeinwohl im Sinne der Soziallehre zu sprechen. Aber das ist ein weitgehend formales Konzept, das je nach den politischen Präferenzen der Menschen, die es beschreiben, mit Inhalten gefüllt werden kann. Die Integralisten haben meiner Meinung nach ein kollektivistisches Verständnis des Gemeinwohls. Sie sehen den Einzelnen als Teil eines Kollektivs und wollen die individuelle Freiheit in einer Weise einschränken, die sie dem Gemeinwohl unterordnet – aber so, wie sie es für richtig halten. DIE FURCHE: Wie könnten sie das politisch umsetzen? Baer: Diese Katholiken spiegeln keine Massenbewegung wider – oder eigentlich überhaupt keine Art von sozialer Bewegung. Ihre Weltanschauung findet in der Gesellschaft keine Resonanz. Trump weiß das, und er würde niemals versuchen, viele der Maßnahmen umzusetzen, die seine illiberalen katholischen Anhänger wollen. Diese wissen das auch, aber sie glauben, dass sie Trump nutzen können, um sich langfristig durchzusetzen. DIE FURCHE: An diesem Beispiel wird dennoch deutlich, wie politische Ideen auf beiden Seiten des Atlantiks neu interpretiert werden. Sie untersuchen grundsätzlich die Rolle von Religion in der US-Politik und in Europa. Welche Unterschiede stellen Sie fest? Baer: Das Verhältnis zwischen Religion und Politik war in Europa und den USA historisch sehr unterschiedlich. In Europa war Religion lange mit dem Ancien Régime und Institutionen verbunden, die durch den Aufstieg des Liberalismus ins Hintertreffen gerieten. In den Vereinigten Staaten gab es kein Ancien Régime und die FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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