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DIE FURCHE 24.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 43 6 International 24. Oktober 2024 Offshore- Prozess Vor der australischen Küste halten Seepatrouillenflugzeuge der RAAF Ausschau nach Booten mit Geflüchteten an Bord. Werden sie entdeckt, geleitet sie die australische Marine im Zuge von „Offshore-Prozessen“ auf eine Insel außerhalb der Landesgrenzen. Von Barbara Barkhausen Allen voran FPÖ- Chef Herbert Kickl lobte in der Vergangenheit immer wieder die extrem restriktive Asylpolitik Australiens. Österreich oder die EU möge sich ein Beispiel daran nehmen, forderte er. „Australia und Austria sind nicht so weit auseinander – und das gilt nicht nur für die Schreibweise und den Namen der Länder. Ich glaube man sollte sich am australischen Modell orientieren.“ Wirklich? In der Tat galt Australien lange als Hardliner beim Thema Asyl: Bootsflüchtlinge, die die gefährliche Überfahrt von Indonesien nach Australien wagten, wurden in Lager auf Pazifikinseln wie Nauru oder auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus eingesperrt – ohne Hoffnung auf ein Visum in Australien. Die Lebensbedingungen vor Ort hatten schockierende Auswirkungen auf die Menschen, die oft über Jahre hinweg festsaßen. Sie litten unter Angstzuständen, Albträumen, Schlafstörungen, waren apathisch und verzweifelt. Nicht selten kam es in den Lagern zu Aufständen, Selbstmorden, zerstörerischem Verhalten und Vergewaltigungen. Vor allem für Kinder und ihre Entwicklung waren die Konsequenzen verheerend. Im Gegensatz zu Europa schafft Australien das Erstarken von Rechtspopulisten zu verhindern. Viele führen das auf die restriktive Asylpolitik der Volksparteien – oder aber auf die Wahlpflicht im Land – zurück. Eine politische Nachschau in Down Under. Mittelwege und ihre Grenzen Anti-Islam-Gruppen Mit dem Regierungswechsel in Canberra 2022 ist die Asylpolitik ein wenig humaner geworden, doch Bootsflüchtlinge haben nach wie vor kein Anrecht auf ein Visum in Australien. Obwohl in den vergangenen Jahren für viele dieser „unerwünschten“ Asylsuchenden (über offizielle Wege wird eine begrenzte Anzahl Flüchtlinge durchaus aufgenommen) Lösungen in anderen Ländern gefunden wurden, sitzen nach wie vor Menschen in Lagern fest. Laut einer Mitteilung des Asylum Seeker Resource Centre waren Mitte August 46 Menschen in Papua-Neuguinea gestrandet, während 94 im Auffanglager auf Nauru festsaßen – ein Zentrum, das zwischenzeitlich leer war. Diese strikten Ansätze werden von beiden Seiten des politischen Spektrums getragen – sowohl von der konservativen Liberal Party, die derzeit in der Opposition ist, wie auch von den regierenden Sozialdemokraten. Letzterer Konsens der großen Parteien nimmt bizarrerweise den Extremrechten wie der Partei One Nation oder der Lobby-Gruppe „Advance“ den Wind aus den Segeln. Sie spielen beide eine untergeordnete Rolle in der politischen Landschaft. „ Die Liberal Party hat eine lautstarke Rechtsaußen-Fraktion integriert, die den Rechtspopulisten nach dem Mund redet. “ Foto: Getty Images / Scott Fisher Obwohl die Gesellschaft bunt zusammengewürfelt ist – 30 Prozent wurden in einem anderen Land geboren – ist Rechtsextremismus auch in Australien Thema. Wie brandgefährlich nur kleine Gruppierungen sein können, zeigte nicht zuletzt der grausame Terroranschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im Jahr 2019, bei dem 51 Menschen ums Leben kamen. Der Attentäter war ein australischer Rechtsradikaler. Vor allem Mitte der 2010er Jahre nahmen radikale und rechtsextreme Bewegungen zwischenzeitlich im Land zu. Schuld daran waren laut Mario Peucker, einem Forscher der Victoria University, spaltende Botschaften von Politikern und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Auch die rechtsgerichtete Murdoch-Presse trug ihren Teil mit teils sensationslüsterner Berichterstattung bei. „In diesem Zusammenhang entstanden verschiedene Anti-Islam-Gruppen, von denen einige in den Jahren 2015 und 2016 landesweit koordinierte Kundgebungen im ganzen Land abhielten“, schrieb der Forscher in einer wissenschaftlichen Abhandlung. Dass diese Gruppierungen trotzdem nicht denselben Zulauf gewinnen konnten wie derzeit in Europa, liegt neben der restriktiven Asylpolitik an verschiedenen anderen Besonderheiten des Landes. So hat die Mitte-rechts-Partei – die Liberal Party – bereits eine recht lautstarke Rechtsaußen-Fraktion integriert, die Rechtspopulisten nach dem Mund redet. Selbst der derzeitige Parteichef Peter Dutton fiel über Jahre hinweg mit provokanter Rhetorik auf. So machte er sich 2015 – damals in der Rolle des Einwanderungsministers – über die Notlage der pazifischen Inselstaaten lustig, die aufgrund des Klimawandels unter dem steigenden Meeresspiegel leiden. Dabei unterhielt er sich mit dem damaligen Premierminister Tony Abbott, der gerade von Gesprächen über den Klimawandel mit den politischen Führern der Pazifikinseln in Papua-Neuguinea zurückgekehrt war. Nur ein Jahr später machte er despektierliche Kommentare über Asylsuchende. So behauptete er, Flüchtlinge könnten weder rechnen noch lesen und schreiben und würden Arbeitsplätze in Australien wegnehmen. Auch der damalige Regierungschef Anthony Abbott war immer wieder mit schlagkräftigen Slogans wie „Stoppt die Boote“ aufgefallen, Worte die im vergangenen Jahr auch der frühere britische Premier Rishi Sunak abkupferte. Damit deckt die rechte Mitte bereits einige der Themen ab, die vielen rechtsgerichteten Wählern wichtig sind, ohne dabei völlig an den rechtsextremen Rand zu rutschen. Hauptgrund, warum rechtspopulistische Parteien in Australien aber nicht wirklich zum Zug kommen, ist die Wahlpflicht des Landes. Diese sei der Schlüssel dafür, die Politik eines Landes mehr „in der Mitte“ zu halten, schrieb ein renommierter Politikexperte der Australian Financial Review, Phillip Coorey, vor Kurzem erst in einer Analyse. „Das hindert die Parteien auf beiden Seiten nicht daran, ihre Grenzen auszutesten, aber im Mittelweg werden Wahlen gewonnen und verloren“, schrieb er. Er verwies dabei auf die Erklärung des früheren australischen Regierungschefs Scott Morrison, der argumentierte, eine Wahlpflicht sei wichtig, um „die Extreme sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite in Schach zu halten“. Dies zwinge die Politiker dazu, sich an die Mitte zu wenden, wo die überwiegende Mehrheit der Wähler angesiedelt sei. Wer nicht wählt, zahlt 55 Dollar Die Erkenntnis ist so neu nicht. Schon die Politikwissenschaftlerin Anthoula Malkopoulou zitierte 2020 im Australian Journal of Political Science wissenschaftliche Untersuchungen, die herausfanden, dass diejenigen, die starke parteiische Überzeugungen vertreten – wie es Anhänger rechtspopulistischer Parteien normalerweise tun – tendenziell eher wählen gehen als diejenigen mit gemäßigteren Ansichten. „Dies führt bei Wahlen zu einer Überrepräsentation radikaler Parteien“, erklärte die Forscherin. Auch der frühere US-Präsident Barack Obama lobte Australiens Wahlpflicht einst vollmundig. „Wenn man eine Abstimmungsquote von 70 bis 80 Prozent erreicht, ist das transformativ“, sagte er 2016 im Gespräch mit australischen Studierenden. Bei der jüngsten Wahl im Jahr 2022 hatte die Wahlbeteiligung sogar bei 89,7 Prozent gelegen. Bemerkenswert ist das auch, weil die Buße für diejenigen, die nicht an die Wahlurnen treten, nicht allzu hoch ist: Im Bundesstaat New South Wales etwa, in dem Sydney liegt, müssen Wahlverweigerer 55 Australische Dollar, umgerechnet rund 34 Euro, zahlen.

DIE FURCHE · 43 24. Oktober 2024 International 7 Die EU-Mitgliedsstaaten sollen künftig ihre Rüstungsgüter gemeinschaftlich anschaffen. Auf die Art will die Kommission bilaterale Waffengeschäfte mit den USA reduzieren. Wie realistisch ist dieses Vorhaben? Angst vor Abnabelung Von Jan Opielka Das Ziel ist ambitioniert: Bis zum Jahr 2030 will die EU-Kommission, dass rund 40 Prozent an neuen Rüstungskäufen ihrer Mitgliedsländer gemeinsam getätigt werden. Zugleich soll bis dahin rund die Hälfte der so verausgabten Mittel zu Herstellern in EU-Staaten geleitet werden, bis 2035 dann gar 60 Prozent. Erreichen will dies die EU-Kommission über finanzielle Anreize, die sie in dem im März 2024 vorgestellten „Europäischen Programm für die Verteidigungsindustrie“ (EDIP) gefasst hat. Das EDIP ist der finanzielle Teil der zeitgleich vorgestellten „Europäischen Strategie für die Verteidigungsindustrie“ (EDIS). Von einer koordinierten Rüstungspolitik ist die EU trotzdem noch weit entfernt. Bislang versucht jedes EU-Land eher, vor allem die heimischen Unternehmen zu bevorteilen, und wo das technologische Know-How und das gewünschte Rüstungsprodukt fehlen, landen die Aufträge meist bei Rüstungsherstellern in den USA. Im März dieses Jahres, bei der Vorstellung der EDIS, machte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager die aktuellen Größenverhältnisse deutlich: Fast 80 Prozent der Rüstungsausgaben der einzelnen EU-Staaten gingen im Zeitraum von Februar 2022 bis Juni 2023 an Länder außerhalb der EU, allein 63 Prozent in die USA. In den Jahren 2014 bis 2018 waren es noch rund 35 Prozent, die an US- Konzerne gingen. „Das ist nicht mehr tragbar, wenn es überhaupt jemals tragbar war”, sagte Vestager . Krieg in der Ukraine als Katalysator Der Katalysator für die avisierte, gestärkte gemeinsame Rüstungspolitik der EU ist freilich der russische Krieg gegen die Ukraine. Diese Entwicklung korreliert aber auch mit den vagen Ankündigungen von Ex-US-Präsident Donald Trump, die Europäer notfalls im Stich zu lassen, sollte er erneut die Wahl gewinnen. Doch schon vor Trumps zweiter Präsidentschaftskandidatur hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel im französischen Versailles vorgenommen, die Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen und Investitionen in Rüstung und Verteidigung künftig stärker gemeinsam zu tätigen – um auf die Art strategische Abhängigkeiten abzubauen . Doch ob die Pläne Brüssels realistisch sind und wie sie letztlich umgesetzt werden, hängt vor allem an zwei Dingen: dem d’accord der Mitgliedsländer sowie den Finanzmitteln, die die EU mobilisieren kann. Um gemeinsame Rüstungskäufe mehrerer EU-Staaten anzustoßen, sind im EDIP-Programm bislang rund 1,5 Milliarden Euro direkt aus dem EU-Haushalt vorgesehen – ein Betrag, der keine Revolution auslösen dürfte. Die kumulierten Rüstungs- und Verteidigungsausgaben aller EU-Mitgliedsländer beliefen sich 2023 auf rund 310 Milliarden Euro, für 2024 wird ein Plus von 15 Prozent geschätzt. Auch wenn nach wie vor der geringere Teil dieser Ausgaben in neue Rüstungsgüter fließt, analysiert der Ökonom Guntram Wolff vom Wirtschafts-Think-Tank Bruegel, „werden die vorgeschlagenen 1,5 Milliarden Euro für die industrielle Entwicklung keinen signifikanten Unterschied machen bei einem Sektor mit einem Umsatz von 70 Milliarden Euro“. Zumal die politischen Vorbehalte in vielen EU-Staaten ob des Wie teils massiv sind. Für den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz obliegt die Causa Aufrüstung jeder Nation selbst. Die EU solle lediglich „industrielle Prozesse voranbringen“ sowie Forschung EU-Panzer für die EU Ein Panzerlager des belgischen Rüstungskonzerns OIP. Ziel ist, dass europäische Rüstungs- konzerne vermehrt für euro- päische Belange produzieren. und Entwicklung in der Rüstung unterstützen. „Soll die EU zur Rüstungsfinanzierung gemeinsame Schulden machen? Antwort: nein. Sollen nationale Verteidigungsaus gaben aus dem EU-Budget refinanziert werden? Antwort: nein“, erklärte er. Scholz spricht selten so deutlich – und es ist nicht nur ein Contra gegen die französischen Vorstellungen, sondern auch gegen die der Osteuropäer, allen voran Polen, wenn auch aus einem anderen Grund. Die Länder wollten und wollen aus EU-Budgets ihre nationalen, horrenden Rüstungsausgaben – in Polen 4,1 Prozent des BIP in diesem Jahr (für 2025 sind 4,7 Prozent geplant) ‒ kofinanzieren. Unabhängig davon, woher die gekauften Waffen stammen. Die Osteuropäer verlassen sich bisweilen, wenn auch nicht nur, vor allem auf US-Waffen – und wollen das auch in Zukunft tun. „ Frankreich und einige osteuropäische Staaten – allen voran Polen – wollen aus den unterschiedlichen EU-Budgets ihre nationalen, horrenden Ausgaben für Militärgerät kofinanzieren. “ Die Differenzen ob einer gemeinsamen EU-Rüstungspolitik hatten sich indes bereits vor dem Ukraine-Krieg gezeigt, etwa in dem 2017 gestarteten „Programm zur Entwicklung gemeinsamer militärischer Fähigkeiten“ (PESCO). Und auch bei dem neueren Instrument der „Europäischen Friedensfazilität“ (EFF) gibt es Differenzen. Mit diesem Fonds, der 2021 außerhalb des EU-Budgets geschaffen wurde, sowie mit der nach Russlands Überfall auf die Ukraine eingerichteten „Ukraine-Fakzilität“, will die EU den Mitgliedstaaten einen Teil der Kosten ihrer Waffenlieferungen an die Ukraine erstatten. Ein Streitpunkt beim EFF war, ob er auch Waffen- und Munitionskäufe für die Ukraine stützen soll, die die Mitgliedstaaten außerhalb der EU tätigen – vor allem in den USA. Dass Frankreich eines der Länder war, die dies beschränken wollten, scheint klar – die Rüstungsindustrie an der Seine mit ihren rund 4000 Unternehmen ist bedeutend, sie beschäftigt mehr als 165.000 Menschen und stand bei den weltweiten Rüstungsexporten in den Jahren 2019 bis 2023 hinter den USA auf Rang zwei. Dieser Umstand könnte zumindest einer der Gründe dafür sein, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Franzosen Thierry Breton, bis September dieses Jahres EU-Kommissar für den Binnenmarkt mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt, aus KLARTEXT Drohnenzeitalter Foto: Getty Images / Bloomberg / Valeria Mongelli Im August 2022 führte Wolfgang Machreich ein Interview mit dem designierten Verteidigungskommissar Kubilius: In der ersten Phase des Ukrainekriegs war man überrascht, dass es sich um einen höchst konventionellen Krieg zu handeln schien: Panzervorstöße, Artillerieduelle, Luftschläge und Schützengräben erinnerten an den Zweiten Weltkrieg. Doch bald begannen sich die Parameter der Kriegsführung zu verschieben. Inzwischen ist, wie Militärexperten feststellen, kaum noch etwas wie vor zwei Jahren: Das digitale Zeitalter hat übernommen. Drohnen sind zu den Universalgeräten des Krieges geworden. Die Transformation zum digital geprägten Krieg hat die Schlachtfelder verändert. Panzereinheiten sind weniger effektiv als zu Beginn, denn sie werden von Schwärmen von Überwachungsdrohnen beobachtet. Bei Vorstößen können Drohnen mit Sprengsätzen präzise zuschlagen. Eine kostengünstige Neuentwicklung: Tausende von ihnen werden täglich verbraucht, auch für herkömmliche „Bombardierungen“. Der Ukrainekrieg ist ein Experimentierfeld geworden: Denn letztlich müssen sich Rüstungsgüter im Gefecht beweisen, Simulationen dem Amt drängte. Der neue und zugleich überhaupt erste EU-Kommissar mit dem ausschließlichen Ressort Verteidigung und Raumfahrt wird Andrius Kubilius, ehemaliger litauischer Premierminister. Die osteuropäischen EU-Länder, die als deutlich US-affiner gelten als die Franzosen und deren Rüstungsunternehmen insgesamt eher unbedeutend sind, sind zufrieden. Und die USA wohl auch. „Es braucht nur ein paar zögerliche EU-Mitgliedstaaten, die sich über die Reaktion ihres Sicherheitsgaranten (d. USA, Anm. d. Red.) Sorgen machen, um die gemeinsamen EU- Bemühungen zu bremsen“, schreibt der Politologe Max Bergmann. Der Direktor des Programm Europa, Russland und Eurasien am US-Think-Tank „Center for Strategic and International Studies” sieht es als entscheidend, dass die USA diese europäische Schwäche bewusst zu ihrem eigenen Vorteil nutzten. Für Bergmann, der bis 2017 sechs Jahre lang in verschiedenen Positionen im US-Außenministerium tätig war, stoßen die Bemühungen Europas „auf den erbitterten Widerstand der amerikanischen Behörden, die die Bedenken der US-Unternehmen, vom europäischen Markt ausgeschlossen zu werden, kanalisieren“, schreibt er in Foreign Affairs, der wichtigsten US-Fachzeitschrift für Außenpolitik. Das Problem sei, dass ein Land mit der Beschaffung eines großen Waffensystems eine Verpflichtung eingehe, diesen Panzer oder dieses Flugzeug jahrzehntelang zu kaufen und zu warten, wodurch die nächste Gelegenheit, den Lieferanten zu wechseln, vertagt und die Fragmentierung Europas zementiert werde. Unabhängigkeit unerwünscht? Thierry Breton wollte diesen Rückgang der europäischen Kooperationen wieder europäisch in Gang bringen. Inwieweit das der Litauer Kubilius mit Nachdruck fordern wird, ist unklar. Bei seiner Ernennung sagte er zwar, dass in den nächsten zehn Jahren zusätzliche Investitionen von mindestens 500 Milliarden Euro nötig seien, um Europa abzusichern ‒ und bestätigte damit die Aussagen von der Leyens und Scholz’. Letzterer hatte beim EU-Gipfel Ende Juni allerdings das fundamentale Aber deutlich gemacht: keine gemeinsame europäische Finanzierung der Rüstungspolitik. Aber den USA dürfte auch in Zukunft kaum daran gelegen sein, dass die Europäer allzu unabhängig werden und langfristig einen allzu großen Teil ihrer Rüstungsprodukte bei europäischen Unternehmen einkaufen. Aus Washingtons Sicht ist das Interesse klar: Die Europäer sollten selbst und besser kriegstüchtig werden – aber möglichst mit US-Waffen. Von Manfred Prisching sind oft nicht ausreichend. Rüstungsunternehmen und Militärwissenschaftler haben deshalb an den gewonnenen Erfahrungen höchstes Interesse: Neue Techniken, Strategien und Taktiken stehen auf dem Prüfstand. Die Transformation bringt neue Abwägungen ins Spiel. Wenn eine hochleistungsfähige Abwehrrakete das Zehnfache einer Drohne kostet, ist die Verteidigung unerschwinglich. Somit verschiebt sich der Konflikt zur Softwareebene: Drohnensteuerung wird gestört oder manipuliert. Als Gegenmaßnahme werden die Drohnen immer autonomer. Es geht mit Riesenschritten hin zu KI-gesteuerten selbstständig entscheidenden Waffensystemen. Gaza-Erfahrungen ergänzen das. Einmal mehr „Lehrmeister Krieg“: Diese Lektion hätten wir uns lieber erspart. Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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