DIE FURCHE · 43 24 24. Oktober 2024 Neue Werte Die Matrosin Mary Anne Talbot und die Ballonfahrerin Willhelmine Schmidt zeigten, dass Frauen freier leben können. Illustration: Rainer Messerklinger Furchtlose Frauen und wie sie die Welt eroberten Von Armin Strohmeyr Piper 2024 352 S., kart., € 14,40 Von Manuela Tomic Amalgam MOZAIK In den 90ern spachtelte mir Herr N., mein Völkermarkter Zahnarzt, kiloweise Amalgam in mein elfjähriges Mäulchen. Abends bestaunte ich die metallischen Verzierungen meiner Zähne und färbte mir die Nägel mit Schwesters Nagellack dunkelviolett. Am nächsten Tag schimpfte mich die Lehrerin: „Was ist denn mit deinen Krallen los? Bist du etwa Satanistin?“ Mit Aceton musste ich mir in der Pause den schimmernden Moonlight-Lack wieder abschminken. Über Völkermarkts Satanistenszene las ich später in der Stadtzeitung. Seither fürchtete ich, dass mich Jugendliche in dunkler Kluft überfallen und mir Rauschgift spritzen würden. Gestern saß ich wieder auf dem Zahnarztstuhl und ließ mir unter satanischen Schmerzen die letzte meiner sechs Amalgamplomben entfernen. Berauscht von den Spritzen und vergiftet vom Quecksilber, fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause. Neben mir saßen vier Grufti-Mädels mit schwarzen Lippen und zerrissenen Strümpfen. Eine hatte ein verkehrtes Kreuz um den Hals. Ich lächelte ihnen zu und ein blutiger Speichelfaden tropfte von meiner betäubten Lippe. Die Mädchen tauschten verstörte Blicke aus. „Immer brav Zähne putzen“, brabbelte ich ihnen nach, als sie die U-Bahn verließen. Höhnisch lachend tauchte ein Gesicht aus der Zeitung. Der Blick von Herrn N. bohrte sich schmerzhaft in mein Herz. Manuela Tomic, Autorin und ehemals FURCHE-Redakteurin, ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Von Manuela Tomic Von der legendären Piratenkönigin Granuaile O’Malley über das turbulente Leben der Matrosin Mary Anne Talbot bis zu den Ballonfahrten von Wilhelmine Schmidt: In seinem neuen Buch nimmt Autor Armin Strohmeyr die Leser mit auf die aufregenden Abenteuer von zwölf der mutigsten Frauen zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Eine davon ist Granuaile (oder Gráinne bzw. Grace) O’Malley. Sie wurde um 1530 als Tochter des irischen Clanchefs Owen Dubhdara O’Malley und seiner Frau Margaret geboren. Der Legende nach erblickte sie das Licht der Welt auf hoher See, was symbolisch für ihr späteres Leben war, das stark mit dem Meer verbunden war. Als Tochter des mächtigen O’Malley-Clans, der das Gebiet um Clew Bay in Irland kontrollierte, wuchs sie inmitten einer rauen und gefährlichen Welt auf, die von Überfällen, Piraterie und der ständigen Bedrohung durch Feinde geprägt war. Bereits in ihrer Kindheit entwickelte Gráinne eine Faszination für das Meer und die Seefahrt. Ihr Vater, ein erfolgreicher Fischer und Händler, verfügte über eine eigene Flotte und beherrschte das Navigieren meisterhaft. Diese Kenntnisse gab er an seine Tochter weiter. Im Alter von 16 Jahren heiratete Gráinne den Anführer des O’Flaherty-Clans, Dónall an Chogaidh. Mit ihm hatte sie drei Kinder, darunter zwei Söhne, die später selbst Anführer wurden. Als Dónall in einer Schlacht fiel, übernahm Gráinne nicht nur die Verteidigung der Burg ihres Mannes, sondern auch seine Truppen. Sie führte zahlreiche erfolgreiche Raubzüge auf See durch und schuf so einen beachtlichen Wohlstand. Mehrfach geriet sie in Gefangenschaft, entkam jedoch immer wieder auf wundersame Weise. 1593 wandte sich Gráinne schließlich direkt an Königin Elisabeth I., um Schutz für sich und ihre Familie zu erbitten. In einer berühmten Begegnung, die in Latein stattfand – da Gráinne kein Englisch und Elisabeth kein Gälisch sprach –, verteidigte sie ihre Handlungen als notwendige Maßnahmen, um den Lebensunterhalt ihrer Leute zu sichern. Sie bot der englischen Krone ihre Dienste im Kampf gegen deren Feinde an, was Elisabeth dazu veranlasste, ihren Forderungen teilweise nachzukommen. Bis zu ihrem Tod blieb Gráinne eine schillernde und widersprüchliche Figur. Vermutet wird, dass sie in der Familiengruft der St. Brigid’s Abbey auf Clare Island ruht. Als Mann getarnt Eine andere faszinierende Lebensgeschichte ist jene der Matrosin Mary Anne Talbot. Geboren als jüngstes von 16 Kindern, wuchs sie in turbulenten Verhältnissen auf. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr lebte sie bei einer Amme in Shropshire, bevor sie auf ein privates Internat geschickt wurde. Ihre einzige bekannte Verwandte war ihre ältere Schwester Miss Dyer, die sie zunächst für ihre Mutter Collage: Manuela Tomic (unter Verwendung von Bildern von Pixabay „ Mit ihrem unerschütterlichen Mut und ihrer Entschlossenheit zeigen sie, wie man sich gegen alle Widrigkeiten behauptet und die Welt für sich in Anspruch nimmt. “ In seinem neuen Buch „Furchtlose Frauen und wie sie die Welt eroberten“ porträtiert der Autor Armin Strohmeyr zwölf Vorkämpferinnen, die mit ihren Abenteuern in die Geschichte eingegangen sind. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft hielt. Diese starb, als Mary Anne neun Jahre alt war, klärte sie aber noch kurz vor ihrem Tod über ihre wahre Herkunft auf und hinterließ ihr ein Vermögen. Dieses Erbe hätte Mary Anne ein komfortables Leben ermöglicht, doch ihr Vormund übergab sie stattdessen an Hauptmann Essex Bowen. Bowen missbrauchte sie und zwang sie später, als Junge verkleidet unter dem Namen John Taylor mit ihm nach Westindien zu reisen. Während der Überfahrt auf einem Kriegsschiff lernte Mary Anne, sich auf See zu behaupten. Später schloss sie sich den britischen Truppen in Frankreich als Trommler an. Nach Bowens Tod desertierte Mary Anne, um ihre Identität als Frau zu verbergen. Sie trat als Matrose auf, reiste durch Europa und heuerte schließlich auf einem französischen Kaperschiff an, ohne zu wissen, dass sie auf einem Piratenschiff diente. Das Schiff wurde von der britischen Marine aufgebracht, und sie kam als Gefangene an Bord der HMS Queen Charlotte, wo sie Admiral Howe auffiel. In der berühmten Seeschlacht vom Glorreichen 1. Juni 1794 wurde sie schwer verwundet und verbrachte Monate im Krankenhaus. Nach ihrer Genesung segelte sie auf verschiedenen Schiffen und geriet schließlich in französische Gefangenschaft, wo sie 18 Monate in Dunkerque verbrachte. Nach ihrer Freilassung kehrte sie nach London zurück, wurde jedoch von einer Pressgang aufgegriffen. Um der Royal Navy zu entkommen, offenbarte sie schließlich ihr wahres Geschlecht. Das spätere Leben von Mary Anne Talbot war von Armut und gesundheitlichen Pro- blemen geprägt. Ihre Geschichte wurde 1804 erstmals veröffentlicht. Doch trotz ihrer Berühmtheit starb sie verarmt und krank im Jahr 1808. Die Ballon-Pionierin Wilhelmine Schmidt hingegen wächst in guten Kreisen auf. Ihre Lebensgeschichte findet sich ebenfalls in Strohmeyrs Buch. Wilhelmine Schmidt, bekannt als Minna, wurde als Tochter eines herzoglich braunschweigischen Mundschenks in Braunschweig geboren. 1806 heiratete sie den Ballonfahrer Gottfried Reichard, der ihr Privatunterricht in Physik gab. Das Paar, das insgesamt acht Kinder hatte, teilte eine gemeinsame Leidenschaft für die Luftfahrt und baute 1810 ihren ersten Gasballon, mit dem sie in Berlin starteten. Am 16. April 1811 wagte Minna ihre erste Alleinfahrt und erreichte eine Höhe von 16.000 Fuß. Ihre Ballonfahrten umfassten bedeutende Rekorde, darunter eine Fahrt mit einer Dauer von 3,5 Stunden und eine Distanz von 225 Kilometern. Pionierin der Luftfahrt Wilhelmine war nicht nur Ballonfahrerin, sondern auch eine engagierte wissenschaftliche Mitarbeiterin ihres Mannes. Sie führte Wetterbeobachtungen und Temperaturmessungen durch, was ihre Flüge zu wertvollen wissenschaftlichen Unternehmungen machte. Ihre letzte Fahrt fand zum zehnten Oktoberfest in München statt. Nach dem Umzug nach Döhlen im Jahr 1814 lebte sie bis zu ihrem Tod dort. Wilhelmine bleibt als erste deutsche Ballonfahrerin und Pionierin der Luftfahrt und Chemie in Erinnerung. Gráinne O’Malley, Mary Anne Talbot und Wilhelmine Schmidt haben gezeigt, wie man sich als Frau in früherer Zeit behaupten konnte. In Armin Strohmeyrs Buch gibt es noch viele weitere Vorkämpferinnen, die es in jedem Fall zu entdecken gilt.
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