Aufrufe
vor 2 Monaten

DIE FURCHE 24.10.2024

DIE

DIE FURCHE · 43 18 Theater & Literatur 24. Oktober 2024 Mit György Kurtágs „Fin de partie“ glückte der Wiener Staatsoper eine Modellproduktion, musikalisch wie szenisch. Becketts Spuren Seit den späten 1950er Jahren beschäftigt das Drama „Fin de partie“ von Samuel Beckett den Komponisten György Kurtág. Die gleichnamige Oper wurde 2018 in Mailand uraufgeführt. Mit Philippe Sly als Hamm und Georg Nigl als Clov in der österreichischen Erstaufführung. Von Walter Dobner Die Geschichte von György Kurtágs bisher einziger Oper, „Fin de partie“, begann damit, dass ihn sein prominenter Komponistenkollege György Ligeti auf Samuel Beckett hinwies. Während eines Paris-Aufenthalts 1957 besuchte Kurtág dann eine Aufführung von Becketts Schauspiel „Fin de partie“. Trotz seiner damals noch mangelhaften Französischkenntnisse war er davon sogleich fasziniert. Schließlich lud Alexander Pereira, damals Intendant des Zürcher Opernhauses, Kurtág ein, darüber eine Oper zu schreiben. Eine Arbeit, die den ungarischen Komponisten zwischen 2010 und 2017 beschäftigen sollte und die er – mittlerweile 98 Jahre alt – nach wie vor nicht als völlig abgeschlossen sieht. Trotzdem kam es 2018 in Mailand – Pereira war mittlerweile von Zürich über Salzburg als Intendant an das Teatro alla Scala gewech- Filigranarbeit auf höchstem Niveau selt – zur akklamierten Uraufführung. Pierre Audi inszenierte, Markus Stenz dirigierte. So wie sich die Entstehungsgeschichte in die Länge zog, scheint auch die Rezeption dieses Einakters nur langsam Fahrt aufzunehmen. Auf Mailand folgten bisher erst zwei Neuinszenierungen, beide übrigens in diesem Jahr: zuerst „ Dirigentin Simone Young begab sich extra zum Komponisten, um mit ihm das Werk bis ins letzte Detail durchzugehen. “ in Dortmund und jetzt ‒ zugleich die österreichische Erstaufführung ‒ an der Wiener Staatsoper. Ihr ist damit ein besonderer Wurf gelungen, was nicht zuletzt einer gewissenhaften Vorbereitung geschuldet ist. Denn die Dirigentin, Simone Young, begab sich extra zum Komponisten, um mit ihm das Werk bis ins letzte Detail durchzugehen. Gerade in den zahlreichen Details verbirgt sich der eigentümliche Charme dieses knapp zweistündigen Musiktheaters. Kurtág geht es um die Gleichwertigkeit von Text und Musik. Deshalb entwickelt er seine Musik bewusst aus dem spezifischen Sprachduktus, zielt auf höchstmögliche Textdeutlichkeit. Was, wie Simone Young an der Spitze der exzellent musizierenden Wiener Philharmoniker souverän demonstrierte, selbst bei rascheren Tempi möglich ist. Nicht die sprichwörtliche große Linie, was den einen oder anderen lyrischen Bogen nicht ausschließt, steht in Kurtágs Fokus, sondern differenzierteste musikalische Filigranarbeit. Jeder einzelne Ton, jede noch so kleine Tonfolge haben ihre Bedeutung. Zudem lassen sich selbst in diesem Mikrokosmos innerhalb der einzelnen Abschnitte – die Oper ist in dreizehn Teile mit Epilog gegliedert – zahlreiche Gemeinsamkeiten erkennen. Vorausgesetzt, man geht so analytisch Foto: Wiener Staatsoper / Sofia Vargaiová und penibel zu Werk, wie man es bei dieser gefeierten Wiener Premiere erleben konnte. Dazu hatte man mit Herbert Fritsch den idealen Regisseur für diese Produktion engagiert. Er hat seine Karriere als Schauspieler begonnen, unter anderem auch mehrfach die Rolle des Clov gespielt. Weil für ihn Kunst nichts für den steifen Elfenbeinturm ist, sondern vielmehr Ausdruck realen Lebens, damit auch mit Leichtigkeit, Spiel und Spass zu tun haben kann, dominieren diese Elemente in seiner Inszenierung. Fritsch geht es um lebendiges, nicht verkopftes Theater. Von Beginn an zeichnet er die Darsteller als reale Charaktere, entkleidet sie damit allem verkrampft Figürlichem. Er holt ihre Aktionen, so ungewöhnlich sie auch sind, aus der Ecke des Absurden ins wirkliche Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Hoffnungen und Erwartungen. Wie Beckett und Kurtág in seiner Oper, in der im Übrigen nur sechzig Prozent des Textes vertont sind, keine Finallösung anstreben, lässt auch Fritsch in seiner Interpretation das Ende offen. So kann der Zuschauer resonieren, in welche Zukunft es Clov mit seiner plötzlich seriöseren Uniformierung führen könnte. Gesanglich brillant Bis ins Detail bedacht und auf das Wesentliche konzentriert präsentiert sich auch das von Fritsch entworfene Bühnenbild: ein schräger, sich nach hinten verjüngender, in Grautönen gehaltener Raum mit einem Fenster. Dazu eine gelbe Leiter und zwei graue, für die hier ausgebreitete Endzeitstimmung fast zu elegant wirkende Mülltonnen als letzte Behausung von Nagg und Nell. Sie versuchen, sich mit outriert vorgebrachten Erinnerungen das Ende ihres Lebens zu erleichtern, denn bei einem Tandemunfall wurden ihnen die Beine abgetrennt. Grandios, wie Charles Workman und Hilary Summers – sie bestritt schon die Mailänder Uraufführung – diese überdrehte Groteske in ihren von höchster gesanglicher Virtuosität begleiteten Gestaltungen als letzten Schutzschirm herausarbeiteten, um nicht völlig in den Untiefen ihres Schicksals unterzugehen. Der erblindete, an den Rollstuhl gefesselte, in seinem bunten Gewand (auch für die Kostüme zeichnete Fritsch verantwortlich) an einen Paradiesvogel gemahnende Hamm von Philippe Sly wiederum zeigte vor, wie man mit quasi Nonchalance seinem unausweichlichen Schicksal wenigstens halbwegs trotzen kann. Georg Nigl prunkte mit seinem schier unerschöpflichen Bewegungsvokabular als Clov. Dass er auch vokal sämtlichen Herausforderungen brillant gewachsen war, hinter jeder seiner Pointen stets Züge von Nachdenklichkeit aufblitzen ließ, braucht man bei diesem außergewöhnlichen Singschauspieler fast nicht mehr betonen. Hinreißend. Fin de partie Wiener Staatsoper, 25.10., 29.10. LITERATUR Der gedehnte Augenblick Von Andreas Wirthensohn Nein, um Fußball geht es nicht wirklich in diesem Buch. Allenfalls gelegentlich ist vom runden Leder die Rede: von alten Ascheplätzen, von der Tabelle der deutschen Bundesliga oder vom Torwart des 1. FC Nürnberg in den 1930er Jahren. Aber das ist stets Teil des fortlaufenden literarischen Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Erinnerungsprozesses, an dem der 1932 geborene Jürgen Becker seit nunmehr sechs Jahrzehnten schreibt. Das Ich dieses poetischen Werks dürfen wir einerseits umstandslos mit dem seines Verfassers ineins setzen. Andererseits trat es von Anfang an als multiples Ich auf, als eines, das fortwährend Selbstgespräche führt und sich assoziativ zwischen den verschiedensten Zeiten und Orten hin und her bewegt. Für dieses Ich ist nun die Nachspielzeit des eigenen Lebens angebrochen: „Zeit vorbei, kein Warten mehr; fürs Nachspiel / laufen die Vorbereitungen. / Noch dehnen sich die Augenblicke aus, und / wie sie ihre Geschichte erzählen –“ Der gedehnte Augenblick, er ist so etwas wie der Kern von Beckers Poetik. Ausgehend von den gegenwärtigen, oft ganz profanen Wahrnehmungen und Beobachtungen beginnt sich dieser Augenblick zu dehnen, im Bewusstsein des Ichs regen sich Erinnerungen und Assoziationen, die Gedanken schweifen ab hin zu ganz anderen Orten und Zeiten. Der Blick – oft aus dem Fenster, oft in die Natur – weitet sich, die Gegenwart vermischt sich mit der Vergangenheit, Geschichten deuten sich an. Seit den Anfängen seines literarischen Schaffens geht es Becker aber vor allem darum, den Bewusstseinsvorgang so authentisch wie möglich abzubilden, dieses Ineinander von Heute und Damals, von Hier und Dort, das sich eben nicht zu geschlossenen Erzählungen fügen will. Becker selbst spricht gerne von einem „Netz der Zusammenhänge“: Man muss nur irgendwo ziehen, schon kommt das ganze Netz in Bewegung, aus dem Heute rutscht die Wahrnehmung urplötzlich zurück in die eigene Kindheit. Erinnerungsfetzen an Krieg und Nachkrieg tauchen auf, einzelne Bilder, die allenfalls in ihrer Summe so etwas wie eine Kindheitsbiografie ergeben. Seit über sechs Jahrzehnten schreibt Jürgen Becker im Grunde an einem einzigen großen Buch, das man vielleicht am besten – über alle Gattungen hinweg – als Journal des Erinnerns bezeichnen könnte. Schreiben, das ist für ihn eine unendliche, nicht beendbare Aufgabe des Herstellens von Zusammenhängen, deren Schönheit und Stimmigkeit nur im Moment des Aufschreibens, im poetischen Augenblick gegeben ist. Das literarische Sprechen, es ist eine Art Atmen, Existieren, stets bedroht vom Verstummen, vom Schweigen, von der leeren Seite, die sich nicht mehr mit Wörtern füllen will. „Nachspielzeit“ meint aber auch noch etwas anderes. Vor drei Jahren ist Jürgen Beckers Frau, die Malerin Rango Bohne, gestorben. Die Zeit seither ist die Zeit nach der Gemeinsamkeit, die Zeit des Alleinseins, und so ist dieses Buch auch eines der Trauer und der Erinnerung an die Lebensund Arbeitsgefährtin: „Echofetzen hängen im Haus. Wo unsere Stimmen sich trafen, / liegt Staub auf Tisch und Bank, fehlt Wasser in Vase und Topf.“ Aus dieser Verlusterfahrung erwachsen Verse, die zum Schönsten und Berührendsten gehören, was dieser große Dichter je geschrieben hat. JÜRGEN BECKER NACH ZEIT SPIEL Sätze und Gedichte Suhrkamp Nachspielzeit Sätze und Gedichte Von Jürgen Becker Suhrkamp 2024 112 S., geb., € 24,70

DIE FURCHE · 43 24. Oktober 2024 Literatur 19 Von der Themse bis zum Tigris: In ihrem neuen Roman „Am Himmel die Flüsse“ umkreist Elif Shafak ausladend, süffig und metaphernreich das Thema Wasser und spinnt ihre Geschichte dabei gekonnt vom 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart. Alle Wege führen zum Wasser Von Rainer Moritz Die seit langem in London lebende und mittlerweile auf Englisch schreibende Elif Shafak gehört fraglos zu den bekanntesten türkischen Stimmen auf der literarischen Bühne. Zudem meldet sie sich regelmäßig mit politischen Statements zu Wort, die das türkische Regime und die Justiz auf den Plan rufen. In ihrem neuen opulenten Roman „Am Himmel die Flüsse“ versucht sie, ihr ausschweifendes, sinnenfrohes Erzählen mit aktuellen gesellschaftlichen Themen zu verknüpfen. Getragen von einem langen epischen Atem lässt sie ihre Figuren auf drei Zeitebenen agieren und führt diese am Ende geschickt zusammen. Zu Anfang sind wir im London des Jahres 1840. Unter schockierenden und abenteuerlichen Umständen kommt ein Kind zur Welt, Arthur Smyth, der fortan den Beinamen „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“ tragen wird. Allen Widrig keiten zum Trotz lässt sich Arthur, der über erstaunliche Fähigkeiten – ein „irres Gedächtnis“ zum Beispiel – verfügt, nicht unter kriegen und verfolgt hartnäckig seinen Weg. Er begeistert sich für die alte Welt Meso potamiens, gerät in Entzücken, wenn er den Namen Ninive hört, und widerlegt alle seine Skeptiker, die dem im verdreckten Themsewasser geborenen Jungen nichts zutrauen. Auf den Spuren von George Smith Elif Shafak hat sich für die Figur des eigenwilligen, kein Privatleben kennenden Arthur an einem realen historischen Vorbild orientiert, an dem als Autodidakt zum renommierten Assyriologen gewordenen George Smith (1840–1876), der als Entdecker des Gilgamesch-Epos gilt und auf zwei Reisen nach Mesopotamien bahnbrechende Entdeckungen machte. Wie sein „Modell“ George Smith besucht Arthur in jeder freien Minute das British Museum, begeistert sich für die Keilschrift, die er zu entziffern versteht, und erregt die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt. Zuerst findet er eine Anstellung beim Verlag Bradbury & Evans, wo er die Bekanntschaft Charles Dickens’ macht. Dessen „David Copperfield“ erinnert ohnehin in manchem an Arthurs ungewöhnlichen Aufstieg aus dem sozialen Nichts. Aus dem Verlagsgehilfen wird schließlich, wie von ihm ersehnt, ein Mitarbeiter des British Museum, der sich in einem düsteren Kabuff Tag für Tag über Keilschrifttafeln beugt und schließlich eine medial aufwendig begleitete Expedition zu Euphrat und Tigris unternimmt. Arthurs Lebensweg kontrastiert Elif Shafak mit zwei anderen Handlungsebenen. Zum einen befinden wir uns im Jahr 2014 im einstigen Zweistromland, wo die neunjährige, von Taubheit bedrohte Narin mit ihrer Großmutter aufwächst. Beide gehören der Gruppe der Eziden an, die „seit Menschengedenken verkannt, verleumdet und misshandelt“, als „Teufelsanbeter“ verschrien und immer wieder zu Opfern von Massakern gemacht werden. So auch im Jahr 2014, als der sogenannte Islamische Staat viele Eziden tötet und vertreibt – eine Bluttat, die auf komplett andere Weise Ronya Othmann vor kurzem in ihrem Roman „Vierundsiebzig“ verarbeitet hat. Zum anderen rückt Shafak in ihrem dritten – deutlich schwächeren – Erzählstrang der Gegenwart noch näher. Da verfolgen wir die junge Londoner Hydrologin Zaleekhah Clarke, die erkannt hat, dass die künftigen globalen Kämpfe vor allem dem Wasser und seinen Vorräten gelten werden, und Foto: Getty Images / David Levenson das „Gedächtnis des Wassers“ erforschen will. Sie lebt auf einem Hausboot und ficht Kämpfe mit ihrem Ziehvater Malek aus, der es als Selfmademan allen zeigen möchte, wie man als Migrant zu Reichtum und Ansehen gelangen kann. Dass seine geliebte Zaleekhah ihren Mann verlässt, auf ein Hausboot zieht und sich gar mit einer Frau, einer Tätowiererin, zusammentut, droht sein Verständnis zu überfordern. „ Getragen von einem langen epischen Atem lässt Elif Shafak ihre Figuren auf drei Zeitebenen agieren und führt diese am Ende geschickt zusammen. “ FEDERSPIEL Mehr zur Autorin lesen Sie unter „Hört einander zu!: Immer unterwegs“ von Brigitte Schwens-Harrant (16.6.2021) auf furche.at. Seit 1994 veröffentlicht die britisch-türkische Autorin Elif Shafak (*1971) Erzählungen und Romane in türkischer und englischer Sprache. Ihre Bücher wurden in 57 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Elefant im Porzellanladen Clemens Meyer, der Nichtgewinner des Deutschen Buchpreises, hat der Gewinnerin Monika Hefter ohne Zweifel die Show gestohlen. Zunächst indem er nach der Verkündigung der Preisträgerin im Frankfurter Römer laut schimpfend die Festversammlung verließ, dann indem er dem Spiegel erklärte, was er da gerufen hatte, nämlich dass es „eine Schande für die Literatur“ sei, dass sein Buch – der Roman „Die Projektoren“ – den Preis nicht erhalten hat, mehr noch: „eine Scheiße, eine Unverschämtheit“. Quasi nach der Devise „Ich bin nicht mehr jung und brauche das Geld“ begründet Meyer seinen Anspruch mit einem laufenden Scheidungsverfahren und 35.000 Euro Steuerschulden. Mit dem Buchpreis wäre er seine „finanziellen Sorgen für eine Weile los“. Ja, wenn das die Jury gewusst hätte! Peinlicher kann man sich als Autor tatsächlich nicht benehmen, gar nicht zu reden von dem schweren Foul an der siegreichen Kollegin. Und doch verspürt man eine gewisse Genugtuung darüber, dass hier einer den Konsens über die Kunst des guten Verlierens aufgekündigt Um Wasser geht es in diesem Roman auf allen Ebenen, um die verschmutzte Themse, um Dammbauprojekte der türkischen Regierung, die Narin und ihrer Großmutter ihre Heimat nehmen wollen, um Narins Wassertaufe im irakischen Laliş-Tal oder um die von Arthur entdeckte Sintfluterzählung aus dem Gilgamesch-Epos, die deutlich älter ist als das, was die Bibel dazu zu sagen hat. Von all dem erzählt Elif Shafak ausladend, süffig und metaphernreich, basierend auf offenkundig intensiven Recherchen. Das zeugt von einer imponierenden literarischen Kraft, die man auch aus ihren früheren Büchern kennt, und von dem Vermögen, über eine lange Strecke die Erzählfäden souverän in der Hand zu halten und zusammenzubinden. Dennoch lässt sich schwerlich leugnen, dass die Figuren in erster Linie Funktionen zu erfüllen haben und manche Konstruktion recht bemüht erscheint. Vor allem Zaleekhah, die Wasserwissenschaftlerin, verdankt ihr literarisches Dasein dem Umstand, dass Shafak für ihre Geschichte eine Wasserwissenschaftlerin benötigte. Überzeugende Eigenständigkeit hat diese stets das Gute wollende Figur kaum. Im Farbenrausch der Sprache Ebenso wenig kann man übersehen, dass Elif Shafak in ihrem oft erfolgreichen Bemühen, sinnlich gesättigte (Landschafts-)Bilder zu malen, immer wieder zu grelle Farben verwendet, die die Kitschalarmglocken läuten lassen. Und wenn Verleger Bradbury sich zu Sätzen wie „Wer Bücher veröffentlicht, lässt gefangene Vögel frei. Sie können dann fliegen, die höchsten Mauern überwinden, die längsten Strecken zurücklegen … Man weiß nie, wen die Wörter erreichen, wessen Herz ihren süßen Liedern erliegt“ versteigt, hätte man darauf gern verzichtet. So bleibt der Eindruck, den „Am Himmel die Flüsse“ hinterlässt, ein zwiespältiger. Da gibt es zweifelsohne die gewiefte Erzählerin Elif Shafak, die große Stoffe zu bändigen weiß, doch gleichzeitig stehen wir vor einem Roman, der zu viele Themen verhandeln will und in seiner Fabulierlaune zu oft über die Stränge schlägt. und das tapfere Lächeln wie den kollegialen Applaus beim Vernehmen des Juryspruchs verweigert hat. Meyer hat vorgeführt, dass Literatur unter den Bedingungen des verschärften Wettbewerbs zur bloßen Variable in einem Geschäftsmodell wird und die Solidarität der Konkurrenten zur Fiktion. Zugleich hat er den Blick zurück auf die Kriterien des kritischen Urteils gelenkt: Meyers Tausend-Seiter war von vielen als ein Jahrhundertbuch und großer Wurf gerühmt und allgemein als Favorit gehandelt worden. Was mag die Jury bewogen haben, es just nicht zu würdigen? Sein Umfang und die vermutete Skepsis des Buchhandels? Dass nun eine Frau an der Reihe war? Die notorische Rüpelhaftigkeit des Autors? Wir wollen nichts davon annehmen, sondern hoffen, dass die Mehrheit der Mitglieder Hefters Roman einfach für das bedeutendere Buch hielt. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. Am Himmel die Flüsse Roman von Elif Shafak Aus dem Englischen von Michaela Grabinger Hanser 2024 592 S., geb., € 28,80 Von Daniela Strigl

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023