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DIE FURCHE 24.08.2023

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DIE

DIE FURCHE · 32 10. August 2023 Von Jan Opielka m 6. August jährte sich der Abwurf der US-amerikanischen Atombombe über dem japanischen Hiroshima zum 78. Mal. Seit dem zweiten Abwurf über Nagasaki drei Tage später, am 9. August 1945, wurde die verheerendste aller Waffen bis heute nie wieder gegen Menschen und im Krieg eingesetzt. Doch nach Meinung vieler Experten steht die Welt heute so nah am möglichen Einsatz von Atomwaffen wie seit den Zeiten des Kalten Krieges nicht mehr. Bereits wenige Monate nach seinem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte Präsident Wladimir Putin den Einsatz von Atomwaffen als mögliches Szenario bezeichnet, sollte Russlands Existenz bedroht sein. „Das ist kein Bluff“, sagte der Kreml-Chef im September 2022. „Diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass sich die Wetterfahne drehen und auf sie zeigen kann.“ Die mögliche Stationierung von Atomwaffen in der Ukraine durch den Westen hatte Putin auch als Erklärung für den russischen Überfall auf das Nachbarland genannt. Wertloses Memorandum Russland und die USA verfügen über die weltweit mit Abstand größten Atomwaffenarsenale. Die Ukraine stand vor rund drei Jahrzehnten in dieser Rangliste kurzzeitig an dritter Stelle. Denn in dem 1991 unabhängig gewordenem Land waren damals noch riesige Bestände aus Sowjetzeiten stationiert – jedoch ohne operative wenn auch eher unter militär- Licht als auch im Prinzip die Existenz –, dann wird er anfangen, Kontrolle, die stets in Moskau lag. politischen Falken. Michael Rubin, Senior Fellow des einfluss- dem Kiewer Regime Atomwaffen Nach der Unterzeichnung des Budapester Memorandums im Jahr reichen US-Think-Tanks American Enterprise Institute (AEI), des russischen Außenministeri- zu liefern“, sagte die Sprecherin 1994 wurden die Waffen schrittweise nach Russland gebracht bzw. schreibt etwa: „Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive wird dieses Jahres. Doch sprechen moums, Maria Sacharowa, im Juni vernichtet. Im besagten Memorandum sicherten Russland, die USA die Drohung, dass Russland taktische Atomwaffen einsetzen immer deutlicher darüber, dass deratere Stimmen auch in Europa und Großbritannien der Ukraine im Gegenzug Sicherheitsgarantien zu. Doch der Überfall Russ- Doch diese Drohung solle nicht et- Abschreckung künftig wieder re- könnte, immer wahrscheinlicher.“ Atomwaffen als Instrument der lands hat gezeigt, dass das auf vier wa durch Verhandlungen gemindert werden, sondern durch eine siken. Denn mit jeder Verbreilevanter werden müssten. knappen Seiten gefasste Memorandum das Papier nicht wert war, Gegendrohung: „Präsident Biden Atomwaffen als „Versicherung“? tung und neuer Stationierung auf dem es stand. Auch deshalb sollte Russland klar und deutlich sagen, dass jeder Einsatz von deutung von Atomwaffen als „ul- Gefahr, dass sie eingesetzt wer- Der Ukrainekrieg habe die Be- von Atomwaffen steigt auch die deuteten ukrainische Politiker in der Vergangenheit immer wieder an, entweder würde die Ukragen die Ukraine dazu führen wird, unterstrichen, schreibt etwa die übereilte Reaktion auf missinter- Atomwaffen jeglicher Größe getimative Lebensversicherung“ den, auch ungewollt – etwa durch ine Teil der NATO – oder aber sie dass die USA der Ukraine die gleichen Arten von Atomwaffen zur von der deutschen Stiftung Wisseite. Während des Kalten Krie- Militärexpertin Claudia Major pretierte Handlungen der Gegen- müsse „über nukleare Aufrüstung nachdenken“, wie etwa der langjährige ukrainische Botschafter in trollieren, wo und wie die Ukrai- Prinzip der nuklearen Abschre- Rande eines atomaren Abgrun- Verfügung stellen, ohne zu konsenschaft und Politik (SWP). „Das ges stand die Welt mehrmals am Deutschland und spätere Vize-Außenminister der Ukraine, Andrej „Der Westen muss seine Nuklearten und Russland gleichermaßen. rufen durch das NATO-Manöver ne sie einsetzen könnte“, so Rubin. ckung schützt die NATO-Staades, etwa im Jahr 1983, hervorge- Melnyk, im April 2021 sagte. politik an der Realität ausrichten, Denn bislang hat Russland jeglichen Konflikt mit den Alliierten panikartig reagierten. Nach ei- „Able Archer“, auf das die Sowjets Nach dem aus Kiews Sicht ent- nicht an Wunschdenken.“ täuschenden Ergebnis des NATO- Diese Position ist zwar selbst vermieden.“ Die Lehre, die viele Staaten aus dem Ukrainekrieg marer Abrüstung wurden seit Bener seit 1986 folgenden Phase ato- Gipfels von Mitte Juli in Wilna in den USA keine Mehrheitsmeinung – zumindest noch nicht. Vor ziehen würden, sei: „Wer Atomginn der 2000er Jahre Verträge dürften diese Erwägungen an Nahrung gewinnen. Zwar fordert allem, weil Russland einen solchen Schritt als ultimativen End- hat: ist vogelfrei.“ aufgeweicht oder aufgekündigt. waffen hat, ist sicher, wer keine zur Kontrolle atomarer Rüstung die ukrainische Regierung offiziell keine Atomwaffen vom Westen. punkt bezeichnet. „Wenn jemand Doch die scheinbar einfache Einer der letzten und wichtigsten, Dennoch glüht die Debatte darüber im Hintergrund weiter – ten ausschalten will – sowohl das ckung birgt unberechenbare Ri- den USA und Russland zur im Westen alles auf diesem Plane- Formel der nuklearen Abschre- der New-Start-Vertrag zwischen Redu- Auf furche.at bzw. diesem QR-Code finden Sie das Dossier „Atomwaffen: Lehren aus Hiroshima“ mit Texten aus dem FURCHE- Navigator. Seit Hiroshima (Bild) ist atomare Abschreckung Teil der Kriegs- und Friedenslogik. Der von Österreich mitinitiierte und seit 2021 geltende Atomwaffenverbotsvertrag soll dies beenden; bislang hat ihn freilich keine Atommacht unterschrieben. zierung strategischer Trägersysteme für Atomwaffen, steht derzeit auf der Kippe, seit Putin im Februar die Teilnahme daran aussetzte. Einen Monat später kündigte er an, in Belarus russische Atomwaffen zu stationieren – und hat dies nach eigenen Angaben im Juni bereits getan. Die NATO hat bislang zwar keine entsprechenden Verlegungen bestätigt. Doch laut der Nachrichtenagentur AP weisen einige Militär-Experten darauf hin, dass „westliche Geheimdienste möglicherweise nicht in der Lage sind, solche Bewegungen zu überwachen“. Taktische Atomwaffen sind vergleichsweise leicht zu transportieren, ihre Sprengkraft ist um etwa das fünfzehnfache geringer als etwa jene der Atombombe, die in Hiroshima zum Einsatz kam. Geht es nach dem russischen Außenpolitik-Experten Sergej Karaganow, der den russischen Sicherheitsrat berät, sei es aus Moskaus Sicht daher „notwendig, die Angst vor nuklearer Eskalation wiederaufzubauen“. Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus sei dabei der erste Schritt, so Karaganow – ein erster Schritt, dem eine Warnung an ethnische Russen in Ländern, die die Ukraine unterstützen, folgen könnte, Gebiete in der Nähe von Einrichtungen zu evakuieren, die nukleare Ziele sein könnten. Spiel mit dem Feuer Offen ist, wie viel reale Gefahr eines russischen Atomeinsatzes in oder außerhalb der Ukraine besteht – und was eine offen angekündigte oder geheime Verlegung taktischer Atomwaffen durch die USA in die Ukraine bewirken würde. Fakt ist: So oder so ist es ein Spiel mit unberechenbarem Feuer, währenddessen sich die Eskalationsspirale konventioneller Angriffe unentwegt weiterdreht. Die zuletzt immer häufigeren Angriffe der Ukraine auf russischem Staatsgebiet – die Drohnenangriffe auf Moskau, aber auch die Bombardierung eines russischen Tankers nahe der Krim und die Zerstörung von dortiger Infrastruktur – machen die Lage noch explosiver. „Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück – in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte“, sagte Wolodymyr Selenskyj Ende Juli. Dies sei ein „unvermeidlicher, natürlicher und absolut fairer Prozess“. Russland antwortete auf die Angriffe mit Bombardements auf Getreidelager in Odessa sowie in Ismajil an der ukrainisch-rumänischen Grenze; und Putin kündigt die Ausweitung der Drohnen-Produktion an. Steht am Ende der langen Eskalationsspirale ein „kalter Frieden“, wie bis heute zwischen Nord- und Südkorea am 38. Breitengrad – oder der Einsatz von Atomwaffen? 31 · 3. August 2023 Deckel der Urne Franz Jägerstätters mit dem Geburts­ und dem Hinrichtungsdatum. DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– der Jungen bei der legendären „Rede zur Zukunft der Nation“ von Bundeskanzler Karl Nehammer nur in Form von „Klimaklebern“ zur Sprache kamen, deren „Untergangsapokalypse“ man im „Autoland“ Österreich bekämpfe, sprach Bände. Dass der Kanzler zuletzt die – nervigen, aber gewaltfrei agierenden – Aktivistinnen und Aktivisten in Von Doris Helmberger eine Reihe mit rechtsextremen Identitären und islamistischen Hasspredigern stellte, is zu 1,5 Millionen sollen kommen – aus 184 Ländern, aus altischen Niederschlag erst finden müssen. Auch bei den jüngsten großen politi- Goldene Worte, die freilich ihren prak- macht indes nur noch sprachlos. len Kontinenten, aus aller Welt. Nicht nur das Thema Missbrauch liegt als schen Reden im Rahmen der Salzburger Nach vier Jahren Coronapause Schatten über dem Weltjugendtag, auch Festspiele kamen die Jungen nur am Rande vor. Dezidiert angesprochen wurden sie ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft, und ja, auch nach Event, denkbar Institution, die zwischen vatikanischen nur von Nobelpreisträger Anton Zeilinger, die innere Zerrissenheit einer globalen groß geworden. Und der diesen Mittwoch Machtkämpfen, lebensweltlicher Entfremdung und freikirchlichen bzw. reaktionä- Begegnung und weniger Digitalisierung der in den Schulen für mehr persönliche in Lissabon gestartete und noch bis Sonntag dauernde katholische Weltjugendtag ren Anfechtungen um ihre Zukunft ringt. warb – und insgesamt für mehr „Offenheit ist zweifellos ein solches Event. Neben allem gemeinsamen Singen und Beten geht es de im Vatikan ist, hat Ende Juni ein Besuch Für eine solche – wie auch für den „be- Wie groß die Ratlosigkeit auch und gera- für das Unvorhersehbare“. eben auch darum, eine Auszeit zu erleben österreichischer Journalistinnen und Journalisten gezeigt. Die junge Generation sei präsident beschwor – braucht es freilich e gründeten Optimismus“, den der Bundesund am Ende vielleicht sogar den Papst zu sehen – jenen alten, weißen Mann, der wie kaum mehr zu erreichen, klagte damals ine ernsthaftere Politik und mehr Chancen kaum ein anderer die Sprache der Jungen Kurienerz bischof Rino Fisichella, immerhin Pro-Präfekt im Evangelisierungsdireich, sondern auch in Sachen Generati- für die Jungen; nicht nur im Bildungsbe- beherrscht und ihre Sorgen und Nöte versteht. Auch und gerade hinsichtlich ihrer kasterium. „Wir sprechen nicht mehr ihre Sprache“, erklärte er – und hielt dabei erhöhung um zehn Prozent) und der exisonengerechtigkeit (Stichwort Pensions- Zukunft auf diesem Planeten. „Jugendliche sind die VIPs der Kirche“, ein Smartphone hoch. Zudem gebe es in tenziellen Frage des Klimaschutzes. meinte der Innsbrucker Bischof Hermann den Familien kaum mehr den „Willen, den Den Jungen nicht nur Mut zuzusprechen, Glettler im Vorfeld des Weltjugendtags Glauben weiterzugeben“. Woran das liegen sondern sie auch nicht weiter wie eine Zumutung zu behandeln: Darum ginge es – beim „Österreich-Treffen“ in der Deutschen Schule von Lissabon. Es gehe nun auch in der Kirche. Dass der Start des Welt- könnte? Schweigen. darum, auch für den Alltag frische Impulse zu liefern, das Feuer des Glaubens neu Nicht nur in der Kirche, auch in der Politik an dem alle jährlichen Ressourcen aufge- Nur noch „Klimakleber“? jugend tages und der „Welterschöpfungstag“, zu entzünden und die „Buntheit“ des Weltjugendtags zu nutzen, um die „Vielstim- gegenüber der jungen Generation. In Ös- kann dafür ein Weckruf sein. herrschen massive Verständnispro bleme braucht sind, am 2. August zusammenfielen, migkeit der Kirche“ kennen und schätzen terreich tendiert man derzeit sogar zu Ignoranz, ja Feindseligkeit: Dass die Probleme zu lernen. doris.helmberger@furche.at „Präfaschistoid“ sei das Gerede von „den Normalen“, meinte Vizekanzler Kogler. Doch was meint „Faschismus“ überhaupt? Eine Analyse nach Umberto Eco. Seite 7 Das Erbe der Kolonialkriege, stadtplanerisches Versagen und ein fragwürdiges Polizeikonzept: über die Ursachen der jüngsten Gewaltexzesse in den Banlieues. Seite 8 Die Experimentalarchäologie erlaubt neue Einblicke in das Leben unserer Vorfahren. Mit vollem Körpereinsatz geht man auf Tuchfühlung mit der Vergangenheit. Seite 12 In seinem neuen Brief an Johanna Hirzberger schreibt Hubert Gaisbauer über seine Barbie­Aversion und das Sammeln als „Kompetenz des Alters“. Seite 14 Eine bessere Welt kann greifbar werden, meint Katharina Renner im „Diesseits von Gut und Böse“ – durch Avantgarde, Anwaltschaft und Vergemeinschaftung. Seite 15 Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 34 16 Diskurs 24. August 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at „Ich hatte einen Traum“ Atomares Minenfeld Von Jan Opielka Nr. 32, Seite 5 „Ich hatte einen Traum“ lautet der Kernsatz einer Rede von Martin Luther King, die er vor genau 60 Jahren hielt. Mein Traum letzte Woche handelte von dem sich immer steigenden Ausmaß einer möglichen Atom-Katastrophe, in der sich die Ukraine befindet. Ich träumte, das Präsident Wolodymyr Selenskyj, nach dem Treffen von Diplomaten aus vielen Ländern (…außer Russland, Träume können grotesk sein…!!) in der Hafenstadt Dschidda, dennoch seinen Außenminister zu Diktator Putin sandte und den Vorschlag unterbreitete, er könne die beiden einseitig selbstständig gewordenen Provinzen Luhansk und Donezk in sein Imperium einverleiben, allerdings die bisherigen an sich gerafften Gebiete außerhalb dieser beiden Provinzen, an die Ukrainer zurückgeben. Die Krim würde zwischen den kriegsführenden Staaten auf Quadratmeter genau aufgeteilt. Beide Mächte könnten ohne Gesichtsverlust zufrieden sein: Die Ukraine wäre die unbotmäßigen Russen und total zerstörtes Land an der Westgrenze losgeworden, Putin könnte sich als „Mehrer des Reiches“ mit einem Lorbeerkranz schmücken. Ein neuer Vertrag wäre in Sicht. Ich schreckte durch den wohl einzigen realistischen Gedanken hoch, dass Martin Luther King, fünf Jahre später in Memphis Tennessee, durch einen Killer ermordet worden war. Keine schönen Aussichten für einen Traum über ein positiv-friedliches Schicksal der Ukraine. Mag. Georg Reichlin-Meldegg A-2371 Hinterbrühl Soll und kann die Ukraine Atomwaffen erhalten? Die Frage steht zumindest im Raum – doch die Konsequenzen eines solchen Schrittes könnten verheerend sein. Eine Analyse. A International Atomares Minenfeld „ Viele Länder ziehen eine Lehre aus dem Ukrainekrieg: ,Wer Atomwaffen hat, ist sicher; wer keine hat: ist vogelfrei.‘ “ Militärexpertin Claudia Major Foto: picturedesk.com/ imagebroker / Moritz Wolf Politik des Schreckens 5 Ukrainekrieg beenden Der Pazifist, der Lennons „Imagine“ lebt Von Wolfgang Machreich Nr. 32, Seite 15 Dankenswert, wie Wolfgang Machreich den immer gefährlicher werdenden Einsatz des ukrainischen Friedensaktivisten Scheljaschenko kommentiert und berichtet, dass der Pazifist, der John Lennons „Imagine“ lebt, von der ukrainischen Justiz nun der „Rechtfertigung russischer Aggression“ angeklagt wird. Aber angesichts von über 100.000 Todesopfern auf beiden Seiten, lassen gerade die Friedensaktivisten durch ihren Mut, nicht schießen zu wollen, bei manchen Politikern die Erkenntnis aufkommen, dass Kriege nur durch Verhandlungen beendet werden können. Einstige harte Kriegsherren wie Rabin, Arafat und Sadat wurden nach dem Friedensschluss nicht als Kriegsverbrecher angeklagt, sondern erhielten den Friedensnobelpreis. Dass nachfolgende Politiker den Nahostfrieden gerade wieder torpedieren, andere Kriegstreiber im Jemen, Sudan, Niger, Kriege und Bürgerkriege führen und ein wahnsinniges neues Wettrüsten diese befeuert, gibt den wirklichen Helden, den Kriegsdienstverweigerern und Friedensaktivisten recht. Und weist den politischen Entscheidungsträgern die dringende Pflicht, die Waffengänge, besonders den Ukrainekrieg schnellstmöglich zu beenden. Karl Semmler, Bad Blumau Frauenfeindliches Bild „Zugespitzt“: Die Schändung Von Otto Friedrich Nr. 32, Seite 15 In der Glosse wurde die Metapher: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ verwendet. Ich weiß nicht mehr, von welchem Autor. Ja, die Metapher stammt von Bertolt Brecht. Und sie wird häufig verwendet, mit dem genüsslichen Unterton, dass man weiß, was falsch ist und sich zu den klugen Warnern zählen darf. Aber dennoch ist sie frauenfeindlich. „Schoße“ gibt es nur bei Frauen – und aus denen kriecht kein Gewürm oder Ähnliches, auch nicht kleine Menschen, die von vornherein böse sind. Daraus „kriechen“ tut gar nichts und niemand, vielmehr: kleine Menschen mit einer offenen Zukunft werden durch die Kraft der Natur und die Anstrengung und den Schmerz der Frauen zur Welt gebracht. Bernadette Wagnleithner per E-Mail Verrohter Charakter wie oben Dank und Respekt für den Aufschrei von Otto Friedrich in der Kolumne „Zugespitzt“. Es ist unglaublich, dass es in unserem Heimatland möglich ist, ein Mahnmal, wie jenes „gegen Krieg und Faschismus“ vor der Albertina, zu schänden. Den straßenwaschenden Juden als Sitzbank zu verwenden, ist eine verwerfliche Tat eines Menschen mit verrohtem Charakter. Bei der Betrachtung dieses großartigen Werkes von Hrdlicka entwickelt man Mitgefühl und hofft, dass so etwas nie mehr vorkommt. Diese Schändung ist wahrlich eine Schande! Werner Huber, Götzis „FPÖ gefährdet Österreichs Sicherheit“ Gesichter des Zusammenhalts Salzburg, wie es spielt, scheitert und jubelt Thomas Starlinger, österreichischer Militärvertreter DIE FURCHE holt „Systemerhalterinnen“ vor den Vorhang. Zum Auftakt spricht Bianca Sünbold über ihr „Le nozze di Figaro“, Lessings „Nathan der Weise“ Vier Mal Festspiele: Verdis „Macbeth“, Mozarts bei EU und NATO, über die Neutralität, „Sky Shield“ und die NATO­Zukunft. · Seiten 5–6 Leben als Intensivpflegerin. · Seiten 9–10 und „Liebe (Amour)“. · Seiten 18–19 Das Thema der Woche Seiten 2–4 „Frische Impulse“ und „Offenheit für das Unvorhersehbare“ wurden jüngst in Lissabon und Salzburg beschworen. Doch gerade den Jungen wird das schwergemacht – in Politik wie Kirche. Jugend als Zumutung B „ Gegenüber den Jungen herrschen Verständnisprobleme. Österreichs Politik tendiert sogar zur Feindseligkeit. “ Unbedingtes Gewissen Katholik und Nationalsozialist sein – das geht nicht zusammen. Für diese Überzeugung ging vor 80 Jahren Franz Jägerstätter in den Tod. Foto: FFJI/Bildersammlung (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Foto: APA / dpa / Patrick Seeger Vom Mythos der Normalität Der Arzt und Bestsellerautor Gabor Maté über unsere toxische Kultur, die die psychische Gesundheit schädigt. · Seite 13 Walsers Wege und Abwege Der streitbare „Großschriftsteller“ hat die deutschsprachige Nachkriegsliteratur geprägt – und heftige Debatten ausgelöst. Nun ist Martin Walser 96­jährig gestorben. Ein Nachruf von Anton Thuswaldner. Seite 17 AUS DEM INHALT Die mystische Erhöhung Was geht in Frankreich vor? Zeitreisen ist ein Handwerk „Ich bin ein Sammler im Garten“ Handfeste Visionen furche.at Jägerstätter & Klimaprotest I Leserbrief von Irene Noszian zum Leserbrief von Helmut Waltersdorfer zu Jägerstätter Nr. 33, Seite 16 Frau Noszian meint, dass mein Vergleich von Franz Jägerstätter mit der „Letzten Generation“ zynisch sei. In meinen Augen ist es zynisch, der „Letzten Generation“ zu unterstellen, dass sie „andere Menschen aufhält oder Einsatzfahrzeuge behindert“. Wobei Letzteres gar nicht bestätigt wurde. Weisen diese Leute doch darauf hin, dass es ihnen bei den Protesten um die menschenverachtende Umweltpolitik der heutigen Zeit geht. Die Folgen sind mehr als dramatisch und mit jenen des 2. Weltkrieges vergleichbar. Die Extremwetterereignisse und die Klimaerwärmung rund um den Globus werden Tod und Vertreibung für Millionen Menschen bedeuten. Ganze Regionen werden zu Wüsten oder vom steigenden Meeresspiegel überschwemmt. Es werden Kriege um fruchtbare Ackerböden geführt werden. Eine heute noch nicht absehbare Fluchtbewegung wird auf Länder in den gemäßigten Klimazonen zukommen. Man kann natürlich der Meinung sein, dass solche Protestaktionen, wie die der „Letzten Generation“, nichts bringen. Aber, um noch einmal den Vergleich mit Franz Jägerstätter zu strapazieren: Was hat sein Verhalten geändert, außer, dass er zum Vorbild geworden ist? Auch diesbezüglich sind beide also absolut vergleichbar. Der einzige Unterschied bleibt darin, dass Jägerstätters Verhalten mit seiner Exekution geendet hat. Aber, muss man es heutzutage gleich mit dem Tod bezahlen, wenn man auf eine menschenverachtende Politik hinweist? In vielen Ländern ist das tatsächlich auch heute noch so. Nicht aber in den meisten Ländern der „westlichen Welt“. Zum Glück, kann ich nur sagen, auch bei uns. Helmut Waltersdorfer Neuhofen an der Krems Jägerstätter & Klimaprotest II Leserbrief von Helmut Waltersdorfer zu Jägerstätter Nr. 32, Seite 16 So plausibel es vordergründig auch sein mag, die „Letzte Generation“ mit der seinerzeitigen Beharrlichkeit der NS-Diktatur gegenüber zu vergleichen, seien hier einige wesentliche Merkmale beachtet, welche diese beiden Situationen prinzipiell voneinander unterscheiden. Zunächst müssen die demonstrierenden Jugendlichen – von etwaigen Verwaltungsstrafen abgesehen – mit keinerlei Sanktionen seitens der Obrigkeit rechnen. Tatsächliche Beeinträchtigungen erleiden lediglich diejenigen, welche in eine Verkehrsstockung geraten – zuzüglich geharnischter Strafpredigten, warum sie mit dem Auto unterwegs sind, statt sich für eine klimafreundlichere Alternative zu entscheiden. Was hingegen die Kanonisierung durch die Amtskirche betrifft, so wird diese lediglich Personen zuteil, die wegen ihrer Religiosität und der daraus resultierenden Positionen verfolgt werden. Folglich wird das zweifellos heroische Engagement dieser Jugendlichen später eher in den Geschichtsbüchern seine Würdigung finden, wo es durchaus auch hingehört! Von kirchlicher Seite freilich wird der Hinweis, wie tapfer sie für eine gute Sache kämpfen und damit vielleicht doch unseren Globus und damit auch uns alle retten, vollauf genügen. Auch ein Anliegen unseres Heiligen Vaters übrigens . . . Dr. Martin Grünzweig 8010 Graz In dieser Ausgabe der FURCHE finden Sie Zahlscheinbeilagen von Missio, Päpstliche Missionswerke in Österreich. Von Caritas betreute Familien genossen beim Märchensommer NÖ eine Auszeit vom Alltag. Zauberhafte Momente beim Märchensommer NÖ Der Märchensommer im nördlichen Weinviertel bietet seit vielen Jahren ein hochwertiges Wandertheater für Familien. Im Rahmen der Kooperation mit den Österreichischen Lotterien werden dazu bereits seit 2011 Bewohner:innen der Mutter-Kind-Häuser Immanuel und Frida der Caritas der Erzdiözese Wien eingeladen, einen Nachmittag lang in eine Märchenwelt einzutauchen und das Ambiente und die musikalische Darbietung zu genießen. Auch heuer haben die Österreichischen Lotterien die Bewohner:innen dieser Mutter-Kind-Häuser mit diesem Sommer-Highlight überrascht. Dank der liebevollen Inszenierung bot der Märchensommer NÖ den betreuten Familien wieder einen Nachmittag lang viele zauberhafte Momente und eine willkommene Abwechslung zum Alltag. Ganz im Sinne des Playsponsible-Leitsatzes „Gemeinsam Verantwortung leben!” sind die Österreichischen Lotterien bereits seit Jahrzehnten Förderer von Institutionen und Projekten im Kunst- und Kulturbereich und pflegen damit eine Tradition, die von gesellschaftlichem Engagement zeichnet, von Verantwortung, und vor allem von Beständigkeit. Szene aus dem Programm „Rapunzel – neu frisiert“ Foto: © Märchensommer NÖ IN KÜRZE RELIGION ■ Franz Padinger (1942–2023) RELIGION ■ Pakistan: Mob gegen Christen BILDUNG ■ Neue Lehrpläne GESUNDHEIT ■ Durchimpfungsrate Der Salzburger Domkapitular verstarb im 82. Lebensjahr. Der ehemalige Salzburger Hochschul- und Laientheologenseelsorger war auch als Stadtpfarrer bekannt und geschätzt. Zwölf Jahre lang begleitete Padinger die „Katholische Aktion“ der Erzdiö zese Salzburg als Generalassistent. KA-Salzburg-Präsidentin Elisabeth Mayer würdigte den nach langer Krankheit Verstorbenen als „kompetenten theologischen Interpreten des Konzils“. Mayer wörtlich: „Franz Padinger war einer der Stillen, die sich nicht aufdrängen, aber vielen Männern und Frauen in der Kirche Rüstzeug für ihren Dienst in Kirche und Welt mitgaben.“ Die jüngsten Übergriffe gegen Christinnen und Christen in Pakistan sind Anlass für einen Appell der überkonfessionellen NGO „Christen in Not“ an Außenminister Alexander Schallenberg. In einem offenen Brief wird Österreichs Chefdiplomat ersucht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, „um den Opfern dieser Hetzjagd auf Christen beizustehen“. Nahe der Großstadt Faisalabad im Nordosten des Landes stürmten rund 7000 Muslime das christliche Viertel der Stadt. Ein Mob meist junger muslimischer Männer brannte 21 Kirchen nieder, zerstörte christliche Häuser und schändete den christlichen Friedhof. Mit Beginn des Schuljahres 2023/24 werden in den Volks- und Mittelschulen sowie den AHS-Unterstufen jeweils in den 1. Klassen neue Lehrpläne ausgerollt. In weiterer Folge sollen darauf aufbauend die Lehrpläne im sonderpädagogischen Bereich modernisiert und bis 2025/26 umgesetzt werden. Die Grundlagen des derzeit eingesetzten Sonderschullehrplans stammen noch aus den 1960er-Jahren. Knapp 30.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden derzeit zumindest teilweise nach diesem Plan in Sonderschulklassen oder inklusiv in Regelschulen unterrichtet. Ein 13-Jähriger, der wegen eines fehlenden Impfschutzes eine schwere Tetanus-Infektion erlitt und in Linz ins Koma versetzt wurde, lenkte auch in Österreich das Augenmerk wieder auf das Thema Schutzimpfungen. Laut einer aktuellen Untersuchung gehört Österreich zu den Ländern in Europa mit den geringsten Durchimpfungsraten. Die Folgen seien steigende Zahlen etwa bei Masern, Diphtherie und eben das Wiederauftreten von Wundstarrkrampf (Tetanus). Experten raten dringend dazu, das kostenlose Kinderimpfprogramm zu nutzen, um das Wiederauftreten von lange zurückgedrängten Krankheiten zu verhindern.

DIE FURCHE · 34 24. August 2023 Literatur 17 Der bekannte und vielfach ausgezeichnete österreichische Autor Peter Henisch feiert im August seinen 80. Geburtstag. Rechtzeitig zu diesem Anlass erscheint sein neuer Roman „Nichts als Himmel“. Ein Porträt. Von Maria Renhardt schreibe in vielen Schichten wie ein mittelalterlicher Tafelmaler“, antwortet der österreichische Autor „Ich und Liedermacher Peter Henisch einmal auf die Frage nach seinem ästhetischen Programm. Von einem politischen Bewusstsein imprägniert ist die Literatur dieses großen Erzählers und Chronisten der Zweiten Republik jedoch allemal, von Anfang an und selbstverständlich auch heute noch, wie sein soeben erschienener neuer Roman „Nichts als Himmel“ beweist. „Außersprachliche Wirklichkeit“ von gesellschaftlicher Relevanz und leichte Lesbarkeit trotz eines ungemeinen, auch sprachlichen Facettenreichtums liegen ihm für sein Schreiben besonders am Herzen. Diese Ansprüche zu verbinden, ist tatsächlich wahre Kunst. Als Vertreter der revolutionären 68er-Generation ist Henisch, der in diesen Tagen seinen 80. Geburtstag feiert, in eine Zeit des Aufbruchs und der gesellschaftspolitischen Neuorientierung hineingeboren. Diese Phase hat ihn fernab avantgardistischer Strömungen zu sozialkritischen Zeitdiagnosen inspiriert und sein politisches Interesse verstärkt. Zum ersten Paukenschlag wird sein berühmt gewordener Roman „Die kleine Figur meines Vaters“. Damit hat er die Väterliteratur, nämlich die Vergangenheitsbewältigung der Kriegsgeneration, die Fragen der Söhne und das Brechen des Schweigens angestoßen. Obwohl sein Vater jüdischer Herkunft ist, kollaboriert er mit den Nazis, wird Parteimitglied und hält als Pressefotograf Kriegspropaganda fest. Im Roman „Suchbild mit Katze“ reflektiert Henisch seine Kindheit zur Zeit der Besatzungsmächte und die einstige Funktion des Vaters erneut, indem er sich auf Spurensuche aus unterschiedlichen zeitlichen Blickwinkeln begibt und sie mit dem Öffnen zahlreicher „Fenster der Erinnerung“ verbindet. Die Verdrängung der Kriegsvergangenheit bleibt für ihn ein präsentes Thema. Unwidersprochenes und Aspekte der Schuld werden 1988 auch zum Hauptmotiv seiner Prosa „Steins Paranoia“, die 2018 aufgrund der innenpolitischen Ereignisse in Österreich eine Fortsetzung im Roman „Siebeneinhalb Leben“ findet, quasi als beharrliches Anschreiben gegen das Vergessen und als Zeichen des Widerstands. Der Mut zum Widerspruch, ja die Courage, „gegen den Ungeist der Zeit zu arbeiten“, wozu er in seiner Feierrede anlässlich der Verleihung des Kunstpreises 2014 aufruft, ist seinem Schaffen geradezu inhärent. Henisch ist auch eine wertvolle literarische Dokumentation der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien zu verdanken, weil er aufgrund seines Interesses für Zeitgeschichte, für sprachliche Varietäten und Milieustudien aus einem lebendigen Erinnerungsreservoir seiner Kindheit schöpfen kann. Diese Zeit bildet für ihn die „Basis der Erfahrungen“, „die Zeit, in der das Bewusstsein des Kindes aufwacht“, heißt es in einem seiner Texte. Besonders prägend sind damals die Spaziergänge mit seiner Großmutter durch das zerstörte Wien, die Fotos seines Vaters von den Schutthalden der Stadt, die dieser in Alltagsbildern festgehalten hat, oder die Erinnerung an das eigene Haus, das über Nacht aufgrund einer Bombendetonation plötzlich zu einem halben geworden ist. Tief eingesenkt in sein Schaffen hat sich ein Crossover von Anspielungen aus Literatur, Kunst und Musik, womit sich der Kreis zur Vielschichtigkeit seiner Texte wieder schließt. Literarische Traditionen wirken in Form mannigfaltiger intertextueller Bezüge fort, etwa in Rückgriffen auf E. T. A. Hoffmann, Nestroy oder Kafka. Oft hat er schon erwähnt, dass ihm seine Großmutter die erste literarische Bildung vermittelt hat. Ein besonders feinsinniges Spiel mit dieser Art von Querverbindungen treibt Henisch in seinem vor kurzem erschienenen „Jahrhundertroman“. Wien und Toskana Und Wien? Diese Stadt ist untrennbar mit seinen Werken verbunden, und zwar nicht nur als Schauplatz. Aufgrund seiner luziden Erinnerungen und genauen Beobachtungsgabe kann er eine Sicht quer durch die Zeiten mit oft erstaunlichen Blickachsen auf Gegenden und Bezirke bieten, auf Foto: IMAGO / Viennareport Lesen Sie auch das Gespräch mit Brigitte Schwens- Harrant: „Peter Henisch: ‚Ich bin ein Kind der Zweiten Republik‘“ vom 15.2.2018, auf furche.at. „Gegen den Ungeist der Zeit arbeiten“ brachliegende, verwunschene Orte an der Peripherie und überhaupt auf die Wiener Mentalität. Eine besondere Liebe verbindet Henisch aber auch mit der Toskana. Die Handlung seines jüngsten Romans spielt wie bereits „Mortimer & Miss Molly“ im fiktiven Dörfchen San Vito. An diesem Ort tauchen wieder Figuren aus früheren Romanen auf - als Klammer quer durch sein Werk, die Henisch laut einem Interview bewusst setzt: „Ich halte ja viele meiner Bücher prinzipiell für nicht abgeschlossen und arbeite gegebenenfalls auch daran weiter.“ Den Protagonisten Paul Spielmann, einen Musiker und aus dem Beruf ausgestiegenen Lehrer, kennt man bereits aus anderen Büchern wie etwa aus den Romanen „Eine sehr kleine Frau“ oder „Siebeneinhalb Leben“. Diese Figur, sagt er, habe es ihm als sein Alter Ego schon öfters erlaubt, aus einem gewissen Abstand heraus verschiedene Versionen durchzuspielen und mit Autofiktion zu verweben. Das Liebespaar aus „Mortimer & Miss Molly“, Julia und Marco, bildet diesmal nur einen Bezugsrahmen. Die beiden sind Pauls Freunde. Trotz dessen Liebe zu Julia werden sie nie zu direkten Handlungsträgern, sondern stellen vielmehr eine Art Kommunikationsbrücke dar. Weil Paul angesichts der Pandemie und aus persönlichen Gründen eine Auszeit braucht, reist er nach San Vito und bezieht dort deren „toskanisches Refugium“. Der Blick von der Dachwohnung in den Himmel hoch über der „ziegelroten Dachlandschaft“, den Paul unentwegt in Fotos bannt, ist atemberaubend. Eine „Hügellandschaft – wie hingemalt in zartesten Farben. Schicht um Schicht.“ Henisch beschreibt das langsame Ankommen und die Konzentration auf die kleinen Dinge, auf Farben, Sinne und den Dialog mit den Tauben auf der Terrasse als nötigen Prozess für den Protagonisten, um Abstand gewinnen zu können. Rein äußerlich Peter Henisch Geboren 1943 in Wien. Studium der Philosophie und Psychologie. Seit den 1970er Jahren freischwebender Schriftsteller. „ Und Wien? Diese Stadt ist untrennbar mit seinen Werken verbunden, und zwar nicht nur als Schauplatz. “ schlüpft er in Marcos Rolle, indem er draußen dessen Jacke trägt. Was eigentlich ein unkomplizierter Aufenthalt werden hätte sollen, das wächst sich, während Paul ob des Müßiggangs beinahe die Zeit entgleist, zu einem abenteuerlichen, gewagten Unterfangen aus. Mit leichter Hand streut Henisch zunächst aktuelle gesellschaftspolitische Themen ein wie das langsame Erwachen des Lebens nach den Einengungen durch Corona, das Geschäftesterben im Ortskern oder den Ansturm der Touristenmassen, die von diesem kleinen Ort kaum bewältigt werden können. Kampfflugzeuge donnern mit ohrenbetäubendem Lärm über den Himmel und verpesten die Atmosphäre. „Wer den Frieden will, muss den Krieg vorbereiten – oder wie war das?“, wird hier sinngemäß Platon zitiert. Der politische Umsturz in Afghanistan ist ebenso Thema wie die Abholzung des Regenwaldes oder rücksichtslose Bodenversiegelung mit unvollendeten Baustellen. Seinen kritischen Blick auf das Leben mit der Natur verbindet Henisch auch mit Historischem, mit Naziverbrechen und Zeitgeschichtlichem. Zum inhaltlichen Kulminationspunkt wird allerdings die aktuelle Flüchtlingsproblematik, vor allem im Süden Italiens. Dabei gibt es Verweise auf Giorgia FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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