DIE FURCHE · 4718 Wissen23. November 2023Teilchenund WelleLouis de Broglie(1892–1987) warPhysikprofessoran der Pariser Sorbonne.Seine Theoriegeht davon aus,dass sich Teilchenwie Wellen verhaltenkönnen. Inden Labors der UniWien konnte diequantenmechanischeWellennaturbereits selbstfür große Moleküleaus bis zu 2000Atomen nachgewiesenwerden(siehe Bild).Von Dorian Schifferdiesen neuenIdeen wird eswahrscheinlichmöglich„Mitsein, fast allemit Quanten verbundenen Problemezu lösen.“ Mit diesem selbstbewusstenSatz schließt eine derwohl folgenreichsten Veröffentlichungender Wissenschaft. DieAbhandlung, die ihr adeliger Autor,ein gewisser Louis-VictorPrinz von Broglie (1892–1987), sokühn enden lässt, erschien im Oktober1923 und ist nur eine knappehalbe Seite lang. Dennoch erschüttertesie das Weltbild vonGenerationen und prägt die Physikbis heute.Rätselhafter DualismusWas de Broglie, zu diesem Zeitpunkt31 Jahre alt und kurz vorder Dissertation in theoretischerPhysik stehend, in diesen wenigenZeilen vorschlägt, scheint zunächstso absurd zu sein, dass dieThese bei seinen Zeitgenossen aufVor 100 Jahren versetzte ein junger Franzose die Welt der Physik inAufruhr. Louis de Broglies wegweisende Erkenntnis zur Wellennatur derMaterie sorgt auch heute noch für Stirnrunzeln.Die seltsamenIdeen desPrinzende BroglieFotos: QNP Group, University of ViennaUnverständnis und Ablehnungstieß. Zu jung waren die revolutionärenIdeen der Quantenphysik,um in der PhysikergemeindeFuß zu fassen. Erst die FürspracheEinsteins verlieh de BrogliesIdeen Auftrieb – und experimentelleBelege seiner Materiewellen.De Broglie brachte zusammen,was eigentlich nicht zusammengeht: Bestens vertraut mit den Erkenntnissendes frühen 20. Jahrhundertszum Verhalten vonLicht, schlug er vor, den notorischenWelle-Teilchen-Dualismusauf Materie auszudehnen. ElektromagnetischeStrahlung verhältsich unter gewissen Umständenwie ein Teilchenstrom, unter anderenwiederum als Welle.„Das ist ein klassischer Widerspruch“,sagt Markus Arndt, Physikprofessoran der UniversitätWien und Experte für Materiewellen.Dennoch bestätigen zahlreicheExperimente die Doppelnaturvon Licht; eine Tatsache, die deBroglie wohl im Hinterkopf hatte,als er den Dualismus auf Teilchenübertrug: Auch Objekte wieElektronen, die man sich bis dahinwie kleine Billardkügelchenvorgestellt hatte, sollen sich wieWellen verhalten können.Verräterische MusterEine mathematische Formulierungseiner Eingebung hatte deBroglie auch parat: „Aus der Relativitätstheoriewusste er, dassjeder Masse eine Energie entspricht,und von Max Planck, dassdie Energie des Lichts an seineSchwingungsfrequenz gebundenist“, erläutert Arndt. „Also müssteetwas mit Masse auch eine oszillierendeNatur haben – bewegeich diesen Schwinger dann imRaum, beschreibt er eine Welle.“Ende 1923 war das reine Spielerei,doch schon bald folgten ersteNachweise der Materiewellen.Im Wesentlichen funktioniertendiese Experimente wie der Doppelspalt:Teilchen fliegen auf eineWand zu, in der sich zwei Spaltebefinden. Dahinter befindet sichein Detektor, im einfachsten Fallein Schirm, wo die ankommendenPartikel sichtbar gemachtwerden. Klassisch würde manerwarten, dass die Teilchen amSchirm nur zwei Streifen ausbil-FÜR EINE BESSERE ZUKUNFTBitte helfen Sie christlichenFamilien in Syrien durch den Winter!„In Syrien tobte jahrelang ein Krieg zwischen der Regierungund Islamisten, zwischen den Fronten die kleine Minderheitder Christen. Das Erdbeben am 6. Februar 2023 hat das Elendnochmals verschlimmert. Die meisten unserer Brüder undSchwestern leiden größte Not. Bitte fassen Sie sichein Herz und helfen Sie!“Pater Dr. Karl Wallner,Nationaldirektor von Missio ÖsterreichBitte beachten Sie den Spendenbeileger in dieser Zeitung!Verändern Sie mit uns die Welt!RZ_Anz_DieFurche_275x78mm_Kalkutta.indd 1 07.11.23 15:53
DIE FURCHE · 4723. November 2023Wissen19den, doch die Vorhersage des Materiewellen-Modellsist eine andere:Die Welle, die ein einzelnesTeilchen beschreibt, tritt durchbeide Spalte zugleich und wirdabgelenkt, wodurch sie mit sichselbst wechselwirkt – Fachleutesprechen von Interferenz. AmSchirm hinterlässt dieser Vorgangtypische Muster, die schonfrüh etwa für Elektronen beobachtetwurden.Doch bereits de Broglie fiel eineSchwierigkeit auf: Obwohldas Verhalten von Quantenteilchennur durch Materiewellenerklärt werden konnte, erreichtendie Teilchen wieder einzelnund punktförmig die Detektoren,ganz wie man es von Billardkugelnerwarten würde. Warumaber verschwindet das Wellenverhaltenso abrupt? Was führt zumKollaps der Wellenfunktion?Grenzen der QuantenweltNoch heute gehen bei dieserFrage die Meinungen unter Physikernund Philosophen auseinander.Letztlich kommt es daraufan, wie man sich Materiewellenvorstellt. Denn wichtig ist: Nichtdie Teilchen schwingen auf undab, wackeln also im Raum herum,sondern es ist vielmehr so, dassdort, wo der Ausschlag der ihnenzugeordneten Materiewelle besondersstark ist, auch die Teilchenmit hoher Wahrscheinlichkeit zufinden sind. Soweit der Formalismusder Quantentheorie – undso uneindeutig. Sind diese Wellennur ein Ausdruck dafür, dasswir den wirklichen Aufenthaltsortder Teilchen nicht besser kennen?Oder handelt es sich um echte Entitäten,und Teilchen sind entlangder Wellenfronten gleichsam verschmiert?Viele Fachleute findensich in einer dieser beiden Positionenwieder – und haben dennochihre liebe Not, etwa den Kollapszufriedenstellend zu erklären.De Broglie ging auch in dieserFrage einen neuen Weg: „Fürihn waren die Materiewellen etwasUngewöhnliches, nicht Lokales,aber dennoch real Seiendes,auf dem die Teilchen reiten“, sagtArndt. In de Broglies Vorstellungfühlen sich Teilchen von den Wellenkämmenangezogen und folgenihrem Pfad, kommen also selbstverständlichals Pünktchen beimSchirm an. Damit unterläuft derFranzose die Kollaps-Diskussion.Ob er recht hat, lässt sich leidernicht nachmessen: Sein Modell istempirisch äquivalent zu anderenLesarten der Quantentheorie.Die Interpretationsschwierigkeitenkommen wohl auch daher,dass alltägliche Objekte keineWellenphänomene zeigen: Nochnie ist ein Fußball sowohl linksals auch rechts vom Torhüter insNetz geflogen. Dennoch ordnet deBroglie grundsätzlich jedem Teilcheneine Welle zu. Warum sehenwir also keine makroskopischenEffekte? Kann es sein, dass dieQuantentheorie nur bis zu einerbestimmten Größe gilt – und dieQuantenwelt eine Grenze hat?Dieser Frage geht Arndt in seinenLaboratorien nach: In riesigenVakuumröhren lässt er Teilchenauf Schlitze fliegen – wobeidie Spalte wegen der bei hohenMassen winzigen de Broglie-Wellenlängebloß Nanometer großsind und mitunter aus Laserlichtbestehen. Bildet sich in den Detektorenein Interferenzmuster,ist die Wellennatur belegt. Bisherist Arndt und seinem Team dasfür dutzende Moleküle gelungen:von kleinen Bällchen aus Kohlenstoff-Atomenbis zu komplexenMolekülen wie Vitamine, Koffein„ Materiewellen haben viele praktischeAnwendungen – vom Elektronenmikroskopbis zu hochpräzisen Kraftsensoren, mitdenen man nach Dunkler Materie sucht. “Von Martin TaussHUMANSPIRITS„ Noch nie ist einFußball links undrechts vom Torhüterins Netz geflogen.Kann es sein, dassdie Quantentheorienur bis zu einer bestimmtenGröße gilt? “und Antibiotika, die aus tausendenAtomen bestehen.Mit Hochdruck arbeiten dieWissenschafter daran, die Grenzender Quantentheorie nachoben zu verschieben – ob sie aneinen Punkt stoßen, an dem siescheitern, an dem bessere Abschirmungund größerer experimentellerAufwand nicht mehrausreichen, um die Wellennaturzu demonstrieren, ist offen. FürArndt steckt aber mehr als Grundlagenforschungdahinter, dennMateriewellen haben auch zahlreichepraktische Anwendungen:Vom Elektronenmikroskop bis zusensibelsten Kraftsensoren, dieetwa bei der Suche nach DunklerMaterie oder Gravitationswellenzum Einsatz kommen könnten –Materiewellen sind die Triebfedereines ganzen Felds an Hochpräzisionsmessungen.Doch auch überEigenschaften der Teilchen selbstlassen sich anhand ihres WellenverhaltensAussagen treffen.Hat sich nun de Broglies Prophezeiungbewahrheitet, dass seineMateriewellen alle Quantenproblemelösen würden? „Nein“, sagtArndt, „es wurden neue Problemegeschaffen, aber auch viele Dingeunglaublich genau messbar gemacht.“Und auch wenn die Interpretationnoch offen ist: 100 Jahrenach ihrer Vorhersage sind Materiewellenso aktuell wie je.Markus Arndt, Physikprofessor an derUni Wien, untersucht das Verhaltenvon Teilchen in großen Experimenten.Blutmalerei statt KriegZUM BILD AUF SEITE 20Die Flaggen des Erwin WurmEs war die erste Ausstellungnach dem Ableben desKünstlers, die sich demHerzstück seines Schaffens widmete:Am 26. November schließtdie Jahresausstellung zum „6-Tage-Spiel“im Nitsch-Museum Mistelbachmit einer großen Finissage.Mit dem „Orgien MysterienTheater“ schuf der weltberühmteWiener Aktionist eine neue Formdes Gesamtkunstwerks. Theater,Performance, Musik und Malereifließen ineinander und sollendas Publikum über alle Sinne berühren.Zu erinnern ist, dass dasLebenswerk von Nitsch im Angesichtdes Krieges entstand – wases gerade heute wieder so aktuellmacht. Der 1938 geborene Künstlerwuchs unter Bomben auf; seinenVater verlor er an der russischenFront. Diese Urerfahrungerscheint gleich zu Beginn in seinenautobiographischen Notizen:„Der Krieg machte mich schon alsSchüler zum Kosmopoliten undGegner aller Nationalitäten undaller Politik“, schrieb er dort. „Aufder Brieftasche meines Vaters, derim Krieg gefallen ist, findet sichbraunes, eingetrocknetes Blut.Solche Eindrücke sind durch Mediennicht zu vermitteln“, sagte erspäter im Profil-Interview (2004).Die traumatische Erfahrung desKrieges brachte ihn dazu, nach einemästhetischen Gegenentwurfzu suchen, in dem durch „sinnlichenExzess“ alle aggressivenund grausamen Impulse des Menschenabgeführt werden können,sublimiert und veredelt durchdie Kraft der Kunst. Die Archaikdes Kampfes sollte durch künstlerischeEkstase ersetzt werden– symbolisiert durch einen Panzer,der am Ende des großen „6-Tage-Spiels“durch den Schlosshof inPrinzendorf ratterte, um von denTeilnehmer(inne)n mit Blumenbeworfen zu werden. Im „Orgien„ Bei Nitsch ist es keineerotische, sondern eineexistenzielle Nacktheit,die als Zeichen einergeläuterten Menschheitvor Augen geführt wird. “Mysterien Theater“, das zugleich„Volksfest und zu Bewusstsein gebrachtesMysterium der Existenz“sein sollte, gibt es tatsächlich keinenPlatz für partikulare Identitäten,die heute an vielen Frontenfür Konfliktstoff sorgen. Soerscheinen die Aktionsteilnehmermythisch weiß gewandet oderganz hüllenlos. Es ist keine erotische,sondern eine existenzielleNacktheit, die hier als Zeicheneiner geläuterten Menschheit vorAugen geführt wird.Im letzten Halbjahr präsentierte museum in progress im StadtraumWiens, in virtuellen sowie in medialen Räumen (u.a. in der FURCHE)die Flaggen von 27 Künstlerinnen und Künstlern. Aktuell sind auf derStubenbrücke vier Flaggen von Erwin Wurm zu sehen. Die ursprünglichgemalten Textarbeiten „DEEP“, „HOPE“, „LIFE“ und „DOPE“ sindTeil der Werkserie Flat Sculptures. Weitere Infos: raisingflags.mip.at.SINNVOLLES SCHENKENBereiten Sie mit einem FURCHE-GeschenkaboIhren Liebsten eine Freude!Sie schenken damit Zeit für neue Perspektiven,für Zugänge, die zum Weiterdenken anregen.›› Immer und überall digital und entspannt auf Papier›› Alle Artikel seit 1945 im FURCHE-NavigatorHEUTE BESTELLEN,ZU WEIHNACHTENSCHENKEN!furche.at/abo/schenkenaboservice@furche.at01 512 52 61 52
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