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DIE FURCHE 23.11.2023

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DIE FURCHE · 4710

DIE FURCHE · 4710 Diskurs23. November 2023Den gesamten Briefwechselzwischen Hubert Gaisbauerund Johanna Hirzberger könnenSie auf furche.at bzw. unterdiesem QR-Code nachlesen.ERKLÄRMIR DEINEWELTErkenne dichselbst, auchauf Tik-Tok!Hubert Gaisbauerist Publizist. Er leitete dieAbteilungen Gesellschaft-Jugend-Familie sowieReligion im ORF-Radio.Den Briefwechsel gibt esjetzt auch zum Hören unterfurche.at/podcastIm Laufe unseres Briefwechsels haben Sie mich einmalgefragt, was ich in letzter Zeit „zum ersten Mal“gemacht hätte. Ich habe Ihnen damals einen romantischenGang „barfuß im Wald“ vorgeflunkert, dannaber – meiner Seelenruhe zuliebe – diesen auch wirklichnachgeholt, aber vergessen, Ihnen mitzuteilen, dass dieWirklichkeit nicht ganz so erhebend war, wie die moosweicheVorstellung. Wie so oft im Leben.Auf Ihren jüngsten Brief hin habe ich – diesmal wirklich –etwas zum ersten Mal gemacht. Ich habe Tik-Tok geschaut.Zwar mit dem Gefühl, als hätte ichein Keuschheitsgelübde gebrochen.„ Es war ein Blickauf eine mir bislangvöllig fremde Ästhetik,wie Scherben eineszerbrochenen Spiegels,und ich mussachtgeben, dass ichmich nicht verletze. “Noch dazu, wenn sich das Objektmeiner Tik-Tok-Begierde als Künstlerin„Toxische Pommes“ nennt, alsomit zwei Wörtern, die sich auf meinemganz persönlichen Verzeichnisder geächteten Wörter befinden. „Toxisch“grinst ja bereits aus jeder staubigenEcke hervor – und das derbe„Pommes“ verdirbt mir den Genussan den köstlichen weich-knuspriggoldgelben Erdäpfelstäbchen. Aber:ich habe mir auf Ihre Empfehlung diePerformerin (sagt man so?) Irina mit dem toxischen Künstlernamenauf Tik-Tok angeschaut. Vorweg gesagt: Ich findesie außerordentlich gut. Es war ein Blick auf eine mirbislang völlig fremde Ästhetik, diese repetierten Sprechfragmente– wie Scherben eines zerbrochen Spiegels –und ich seh’ mich darin, je länger ich hinschaue - und mussachtgeben, dass ich mich nicht daran verletze.Also es ist gut, wenn man einen Grundsatz (es muss janicht gleich ein „Glaubenssatz“ sein) wie „Tik-Tok: pfuiTeufel“ auch einmal umstößt. Paulus hat den Thessalonichernschon zu Recht geschrieben: „Prüft alles – und dasGute behaltet.“ Und zwei Sätze davor kann man ja auchgleich mit-erinnern, wenn steht: „Löscht [aber] den Geistnicht aus!“ Eine recht gute Nachricht kann ich Ihnen nochvermelden: eine längst abgeblühte Orchidee auf meinemFensterbrett zeigt – neben nichtsnutzigen Luftwurzeln –das Kommen eines ganz jungen lebensfähigen Blütentriebsan. Sie müssen wissen, dass ich in meinem Arbeitszimmereine kleine Pflegestation betreibe. Wenn jemandaus meiner Familie eine Orchidee geschenkt bekommenhatte – an der eines Tages nur mehr der blütenlose Stammanklagend in die Luft ragt – , dannbringt man sie zu mir. Ich hätte nämlich– zumindest mit Pflanzen – dienötige Geduld, um zu warten, bissich ein neuer Blütenstamm langsamhervorwagt. Ich mache das gerne,seit ich von einer deutsch-amerikanischenKünstlerin folgendesgelesen habe: Wenn sie hörte, dassjemandem eine Zimmerpflanze verwelktwar, holte sie diese ab und stelltesie im Museum für moderne Kunstin Frankfurt aus. Dann ließ sie großeFotos davon machen, wie Porträts:Vertrocknetes, welk Hängendes, hilflos Gestikulierendes.Beim Betrachten dieser Fotos stellte sich unwillkürlichder Vergleich mit alten und gebrechlichen Menschen ein.Die Künstlerin gibt einen trockenen Befund: wer das Gefühlfür „anderes Leben“ verliert, verliert es schließlichfür sich selbst. Wenn wir vor künstlerischen Darstellungenalter oder einsamer Menschen Mitleid empfinden, istdies eine angemessene Reaktion. Besser wäre Einfühlung.Und die Beherzigung dessen, was über allen Kunstwerken,die uns berühren, steht – des delphischen Satzes: Erkennedich selbst! Wenn’s sein muss auch auf Tik-Tok.Die SPÖ ließ dieser Tage mit radikalenReformplänen aufhorchen.So fordert sie unter anderem dieAbschaffung der Noten für alle Sechs- bis14-Jährigen sowie die Streichung derMaturaprüfung. Dass diese Ideen vonBildungsminister Martin Polaschek (ÖVP)als „Hirngespinste linker SPÖ-Träumer“diskreditiert wurden, ist nicht weiter verwunderlich.Das ist reine Parteipolitik.Dass er sich davon gar nicht lösen kann,ist allerdings schade. Es täte allen voranden Kindern gut, festgefahrene Strukturengründlich zu überdenken. Wer kannin Österreich mit gutem Gewissen behaupten,das Bildungssystem sei nicht verbesserungswürdig?Niemand. Die Vorschlägeder Sozialdemokraten haben also durchausihre Berechtigung.Eltern von Volksschüler(inne)n kennendas: Die meisten Kinder gehen anfangsgern in die Schule. Sie lernen Lesen,Schreiben, Rechnen, finden neue Freunde.Doch der Zauber verfliegt fast zeitgleich anjenem Tag, an dem ihre Leistungen mit Notenversehen werden. Von nun an beginntbei den einen die Jagd auf die Note eins undbei den anderen wächst die Furcht, nichtzu genügen. Die eigene Neugier, das Interessean neuen Inhalten, der individuelleFortschritt (falls er nicht eins zu eins mitdem Lehrplan übereinstimmt) steht fürviele mit Beginn der Notenvergabe nichtmehr im Vordergrund. Stattdessen fokussierensich Kinder (und häufig auch ihreEltern) auf externe Erwartungen und Ziele.Bewertung heißt in der Volksschule allzuoft Entwertung – für die Entwicklung Heranwachsenderist das mitunter eine Tragödie.Oftmals haben jene, die in Mathematikoder Deutsch eher schlecht abschneiden,in anderen Bereichen herausragendeFähigkeiten. Es täte den betroffenenKindern nur zu gut, wenn diese ebensoberücksichtigt würden. Also ja, weg mitden Noten!Ob es die Matura braucht, ist dagegen weitausschwieriger zu beantworten. Vermutlichschadet es jungen Erwachsenen nicht, einegroße Prüfungssituation zu erleben und zumeistern. Spätestens auf der Universität istman damit sowieso konfrontiert. Aberob die Matura wirklich abbildet, was derPrüfling tatsächlich kann und gelernt hat,ist dennoch zu bezweifeln. (Brigitte Quint)LASS UNSSTREITEN!Noten und Maturaabschaffen?Vergangenen Samstag hat sich dieWiener SPÖ bei einer Konferenzgegen die Matura und gegen Notenausgesprochen. Anstelle der Matura solleine Projektarbeit treten. Die Vorschlägedürften nun auch in der Bundesparteidiskutiert werden. Nachdem die Überlegungenzu Bildungsfragen publikwurden, regnete es prompt Kritik vonallen anderen Parteien. Und das nichtzu unrecht.Noten ermöglichen es Lehrern, Elternund Schülern schließlich, die individuellenStärken und Schwächen zu identifizieren.Sie bereiten Schülerinnen und Schülerzudem auf ein Hochschulstudium vorund bringen Transparenz in das Bildungssystem.Nicht nur individuelle Leistungenkönnen gemessen werden, sondern auchder Bildungsstand einer ganzen Klasseoder eines Jahrgangs. Das schafft wiederumeine gute Grundlage für evidenzbasierteBildungspolitik und ermöglichtes, Schwachstellen zu identifizieren undgezielt zu verbessern.Die Matura als landesweit einheitlicheAbschlussprüfung gewährleistet zudemeine vergleichbare Qualifikation für alleAbsolventen österreichischer Schulen. DieMatura, als Abschlussprüfung der österreichischenSekundarschule, ist ein wichtigesKriterium für die Zulassung zu vielenStudiengängen. Sie stellt sicher, dassStudierende über ein bestimmtes Grundwissenund die notwendigen Kompetenzenverfügen, um erfolgreich an einer Hochschulezu studieren. Diese Selektion trägtdazu bei, dass diejenigen, die ein Studiumaufnehmen, gut vorbereitet sind.Ein weiterer Aspekt, der oft übersehenwird: Noten fördern den Wettbewerb. DieBewertung von Leistungen schafft einenAnreiz für Schüler, ihr Bestes zu gebenund sich kontinuierlich zu verbessern.Schließlich gehört Wettbewerb später auchim Berufsleben zum Alltag. Je früher manLernende darauf vorbereitet, desto besser.Natürlich kann man darüber diskutieren,ob die Matura an Bedeutung verlorenhat, wenn es an Universitäten und Fachhochschulenzunehmend Aufnahmetestsgibt. Die Reifeprüfung oder das Notensystemdaher aber gänzlich abzuschaffenwäre ein Weg in die Orientierungslosigkeit –für Lehrer und Schüler. (Manuela Tomic)Medieninhaber, Herausgeberund Verlag:Die Furche – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KGHainburger Straße 33, 1030 Wienwww.furche.atGeschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner,Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-FlecklChefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-FlecklRedaktion: Philipp Axmann, Dr. Otto Friedrich(Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche,Dipl.-Soz. (Univ.), Brigitte Quint (Chefinvom Dienst), Victoria Schwendenwein BA,Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss,Mag. (FH) Manuela TomicArtdirector/Layout: Rainer MesserklingerAboservice: +43 1 512 52 61-52aboservice@furche.atJahresabo (inkl. Digital): € 298,–Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. 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DIE FURCHE · 4723. November 2023Diskurs11Paul-Henri Campbell kritisierte in der Vorwoche an dieser Stelle das „arglose Kumbaya“ christlicherFriedensappelle hinsichtlich Nahost – und forderte ein „wehrhaftes Christentum“. Eine Replik.Der gerechte Friedenist nicht gewaltblindScharf kritisiert der Schriftsteller undTheologe Paul-Henri Campbell in derFURCHE die christliche Friedensethikund insbesondere Papst Franziskussowie mit ihm Organisationenwie Pax Christi oder die Caritas, weil sie aufgrundihrer pazifistischen Grundhaltung unfähigwären, nach dem Terroranschlag der Hamas„die absolute Solidarität mit Menschen inIsrael und jüdischen Menschen weltweit“ auszudrücken.Barmherzigkeit erzeuge „Komplizenvon Gewalt“. Der Kommentar gipfelt imAufruf zu einem „wehrhaften Christentum“.Schon der Begriff „wehrhaft“ zwingt zu kritischenRückfragen. Ist das Christentum desMoskauer Patriarchen Kyrill I., der Putins Angriffskrieggegen die Ukraine theologisch unterstütztund diesen zum „metaphysischenKrieg“ erklärt, schon wehrhaft genug? Oder warenes die Theologien der Vergangenheit, die zumindestindirekt auch zu den Gewaltkatastrophender beiden Weltkriege beitrugen, weil sieunfähig waren, für eine nachhaltige Gewaltpräventionzu sorgen? Zurecht warnt Campbellzwar vor einer „Normalisierung von Gewalt“,versteht aber nicht, dass gerade diese Einsichteine Distanzierung von Krieg und Gewalt erforderlichmacht, von der nur in berechtigtenAusnahmefällen abgegangen werden darf.Der jüdische Philosoph Walter Benjamin gabin seinem Essay „Zur Kritik der Gewalt“ schon1921 eine ethische Wegweisung. Er kritisiertezurecht eine naturrechtlich geprägte Tradition,die „Gewalt“ als ein „Naturprodukt“ ansah,„gleichsam ein Rohstoff, dessen Verwendungkeiner Problematik unterliegt, es sei denn,dass man die Gewalt zu ungerechten Zweckenmissbrauche“. Diese Naturalisierung der Gewaltlegitimierte beispielsweise die Todesstrafe,den Terrorismus der Französischen Revolutionund auch die faktische Handhabung derLehre vom gerechten Krieg.Vom gerechten Krieg zum gerechten FriedenSpätestens die Katastrophe des ZweitenWeltkriegs hat zu einem Umdenken in denchristlichen Kirchen geführt, die anstelle desgerechten Krieges zunehmend für eine Theoriedes gerechten Friedens eintraten. Kriegund Gewalt gelten damit nicht mehr längerFoto: Privatals normal oder natürlich, sondern als begründungspflichtigeAbweichungen vom immeranzustrebenden Ziel des Friedens. WennCampbell diese friedensethische Wendeals „argloses Kumbaya“ bezeichnet, das die„christliche Nachkriegstheologie benebelt“ habe,so zeugt das von seiner Unkenntnis aktuellerchristlicher Friedensethik.Im Zentrum des gerechten Friedens findetsich zwar die vorrangige Option für dieGewaltfreiheit. Diese schließt aber den Einsatzvon Gewalt in Ausnahmefällen nicht aus.Im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“von 2004 wird unter Hinweis auf die SchoaDIESSEITSVON GUTUND BÖSEVon WolfgangPalaver„ Der Konfliktin Israel/Palästinabraucht eine politischeLösung. ,AbsoluteSolidarität‘ muss allenGewaltopfern gelten.“und andere Beispiele von Völkermord festgehalten,dass die internationale Gemeinschaftverpflichtet ist, zum Schutz bedrohterBevölkerungsgruppen einzugreifen und fürdie „Entwaffnung des Aggressors“ zu sorgen,wenn alle anderen Mittel wirkungslos bleiben.Aus der Sicht des gerechten Friedens gibtes auch einen moralischen Unterschied zwischenAggressor und Verteidiger. Die Ukraineverteidigt sich mit Recht gegen den AngriffRusslands. Israel verteidigt sich mit Recht gegenden Terror der Hamas. Sowohl der Außenministerdes Vatikans, Erzbischof Paul Gallag-her, als auch Papst Franziskus haben daher– wenn ethische Kriterien eingehalten werden– Waffenlieferungen an die Ukraine fürzulässig erklärt. Auch das Recht Israels, sichgegen den Terrorismus zu verteidigen, wurdevon Papst Franziskus und anderen Vertreterndes Vatikans bejaht. Wenn dabei gleichzeitigauch auf die notwendige Verhältnismäßigkeithingewiesen wird, ist das der Einsicht verpflichtet,dass immer alles getan werden muss,um eine Eskalation der Gewalt zu vermeiden,die einen zukünftigen Frieden noch mehr erschwerenwürde.Mensch muss immer der Zweck werdenIm „Kompendium“ wird der Terrorismus „inallerschärfster Form“ verurteilt, weil er eine„totale Verachtung für das menschliche Lebenzum Ausdruck“ bringt und „durch nichts zurechtfertigen“ ist. Der Mensch muss nämlich„immer der Zweck“ bleiben und darf nicht zumbloßen „Mittel“ degradiert werden. Diese klareVerurteilung darf aber nicht davon abhalten,auch den Ursachen nachzugehen, die denTerrorismus begünstigen: „Die möglichen Ursacheneiner so inakzeptablen Form, Ansprüchezu vertreten, dürfen jedoch auch nicht vernachlässigtwerden. Der Kampf gegen denTerrorismus setzt die moralische Verpflichtungvoraus, einen Beitrag zur Schaffung vonBedingungen zu leisten, in denen dieser nichtentstehen oder sich entfalten kann.“Vor diesem Hintergrund muss die Stellungnahmevon Pax Christi verstanden werden,die den Terrorismus der Hamas klar verurteilt,aber auch die Frage nach den begünstigendenUrsachen stellt. Der seit Jahrzehnten andauerndeKonflikt in Israel/Palästina brauchteine politische Lösung. Sicherheit bloß militärischgarantieren zu wollen, hat sich als tödlicheSackgasse erwiesen. Und was die „absoluteSolidarität“ betrifft, so muss sie weltweitallen Opfern von Gewalt und Diskriminierunggelten.Der Autor ist Sozialethiker und Präsident vonPax Christi Österreich. Sein Buch „Für denFrieden kämpfen: In Zeiten des Krieges vonGandhi und Mandela lernen“ wird im Februar2024 im Verlag Tyrolia erscheinen.ZUGESPITZTNein zu Alkoholund GenerikaÖsterreich bekommt eine Gesundheitsreform.Also ein echte– perdefinitonem – „planvolle Umgestaltungbestehender Verhältnisse“?Bedingt, denn zum Glück gibtes hier noch die Ärztekammer. Soliest man dieser Tage in den ZeitungenFolgendes: „Die Regierungist der Ärztekammer auf dem letztenDrücker entgegengekommen.Die Idee, dass Ärzte statt eines konkretenArzneimittels künftig nurmehr einen Wirkstoff verschreibensollen, wurde ad acta gelegt.“ Mankann also beruhigt sein. Wo kämenwir denn hin, wenn Ärzte plötzlichWirkstoffe verschreiben würdenund sich nicht darum kümmernmüssten, welches Pharmaunternehmensich am ehesten anbiedert;wenn der Handlungsspielraum beiLieferengpässen größer würde undwenn sich dann womöglich auchnoch die Farbe einzelner Pillenveränderte? Letzteres ist in einemLand, in dem „Alkohol und Psychopharmaka“eine ganz eigene Bedeutunghaben, wahrlich das stärksteArgument. Schließlich wird auchbeim Alkohol nicht nur auf denWirkstoff geschaut, sondern auf dieMarke. Man will ja Werbung machen.Mit Mut zu Reformen ist dasnatürlich schwierig – in Österreichmuss schließlich alles in Ordnungbleiben.Victoria SchwendenweinPORTRÄTIERTEine neue, starke Stimme für Menschen in NotDas Schwarz-Weiß-Bild ist ikonisch: Ein alter,bärtiger Mann auf einem Metallbett liegend, denBlick schon in eine andere Welt. Neben ihm, amBettrand sitzend, eine junge Frau. In ihrer Rechten hältsie die knorrige Hand des Alten, mit ihrer Linken stütztsie seinen Kopf. Ihr Blick ist ihm ganz zugewandt, mild,stark, präsent. „Ich bin da“, will er sagen. Gerade jetzt,bei einem Abschied in Würde.Das Foto von Andreas Hofer entstand im Rahmen einerKommunikationskampagne für ehrenamtliches Engagementin der Diözese Graz Seckau. Es zeigtNora Musenbichlerals Hospizbegleiterin im VinziDorf, einer Container-Unterkunftfür obdachlose Männer. 2017 wirddas Bild für eine Reportage über Palliative Care für Menschenam Rand der Gesellschaft in der FURCHE abgedruckt.„Auch wenn das Leben dieser Menschen nichtimmer ein gelingendes war“, wird Musenbichler in demArtikel zitiert, „zumindest am Schluss soll man ihnenein friedvolles und würdevolles Leben ermöglichen.“Engagiert, charakterstark und „eine unglaubliche Liebezu den Menschen“: So beschreiben Weggefährten NoraTödtling-Musenbichler. Dienstag dieser Woche wurde die40-jährige gebürtige Judenburgerin bei der Caritas-Vollversammlungim Bildunghaus St. Arbogast zur Nachfolgerinvon Michael Landau gewählt. Erst in der Vorwochehatte dieser nach zehn Jahren seinen Rückzug als Caritas-Präsident auf Österreich-Ebene bekanntgegeben (dieCaritas Europa wird er weiterhin leiten). Mit Tödtling-Musenbichler rückt ab Februar 2024 nicht nur eine ausgewieseneSozialexpertin an die Spitze der katholischenHilfsorganisation, sondern erstmals auch eine Frau sowieein Laiin – wie ihr Vorgänger Franz Küberl. Gerade inZeiten multipler Krisen sei es wichtig, „dass die Caritasmit Zuversicht und Hoffnung antwortet und Menschen inNot eine starke und laute Stimme gibt“, gibt Tödtling-Musenbichlerals Motto aus. Initiativen hat sie bereits gesetzt:als Begründerin des ersten Lerncafés für benachteiligteKinder, das mittlerweile 67 Nachfolger gefundenhat; als langjährige Leiterin der von Wolfgang Puchergegründeten VinziWerke sowie als Caritas-Direktorinder Diözese Graz-Seckau. Dass nun neben der evangelischenDiakonie (mit Maria Katharina Moser an derSpitze) auch die Caritas von einer Frau geleitet wird, ist inZeiten katholisch-synodaler Selbstfindung ein Zeichen:Kompetenz und Liebe zu den Menschen – mehr brauchtes auch in kirchlichen Topjobs nicht. (Doris Helmberger)Foto: Tim ErtlLesen Sie inder Reportage„Im Sterbensind alle gleich“(30.3.2017) –auch über dasVinziDorf-Hospiz in Graz,siehe furche.at.

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