DIE FURCHE · 21 2 Das Thema der Woche Zwischen Goethe und AfD 23. Mai 2024 AUS DER REDAKTION Angst: So lässt sich die Gefühlslage in vielen Orten Ostdeutschlands charakterisieren. Mit größter Sorge blickt man dort auf die bevorstehenden Kommunal- und Landtagswahlen – und auf ein Gespenst namens Björn Höcke. Wie nah Hochkultur und Abgrund zusammenliegen, zeigt sich insbesondere in Weimar. Brigitte Quint hat die Klassikerstadt besucht und daraus den aktuellen Fokus „Zwischen Goethe und AfD“ gestaltet. Am Scheideweg befinden sich freilich auch andere Länder: Andreas Sieren beschreibt die Lage Südafrikas vor den Wahlen; und Wolfgang Bahr analysiert die Situation in der Slowakei, die sich nach dem Attentat auf Robert Fico im Schock befindet. Eine aufschlussreiche Analyse von Jehovas Zeugen, die seit 15 Jahren nicht mehr als Sekte, sondern als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft gelten, bietet Bernhard Baumgartner. Angelika Walser beschreibt in einer lesenswerten Polemik, warum sie sich als Opfer der Frauenquote fühlt, und Otto Friedrich widmet sich dem heiklen Thema Marienerscheinungen. Das Feuilleton schließlich eröffnet Christian Jostmann mit einem brillanten Essay über den vor 30 Jahren verstorbenen Soziologen Jacques Ellul. Ebenso empfehle ich Ihnen Brigitte Schwens-Harrants Besprechung des Buches „Tag der Befreiung“ von George Saunders, Manuela Tomics Porträt von Lise Meitner sowie den Text unserer Trainee, Astrid Wenz, über Raubkunst im Salzkammergut. Schönheit und Abgrund – das hat man dort mit Weimar gemein. (dh) Das Erbe in Ehren Mit einem Goethe- Zitat vor dem Stadtschloss versucht die Klassik Stiftung Weimar, auf das intellektuelle Erbe Weimars aufmerksam zu machen – nicht zuletzt ist es an die AfD adressiert. Von Brigitte Quint Im Vorfeld der Landtagswahlen in Ostdeutschland geht die Angst vor der AfD um, die insbesondere in Thüringen deutlich zulegen dürfte. Wie reagiert man in der Dichter-und-Denker-Stadt Weimar darauf? Ein Besuch. Kleinod des Widerspruchs „ Geeint wird gegen die ‚Überfremdung‘ demonstriert. Auch Antisemitismus spielt innerhalb der Gruppierung eine wesentliche Rolle. “ Fotos: Brigitte Quint Eine Geheimtür, versteckt hinter einer Wand im Stiegenhaus. Den Besuchern im „Frauenplan 1“ bleibt sie in der Regel verborgen. Nur ausnahmsweise wird sie für Gäste geöffnet. So hielt es auch der einstige Bewohner des Hauses: Johann Wolfgang von Goethe. Er ließ diesen Durchgang einbauen, um von seinen Amtsgeschäften auf direktem Weg in sein Studierzimmer zu gelangen. Wenn er davon ausging, dass jemand ihn beim Nachdenken zu inspirieren vermochte, durfte ihn dieser Jemand begleiten. Heute ist es Bettina Werche, stellvertretende Abteilungsleiterin des Goethe-Nationalmuseums in Weimar, die die Holzwand zur Seite schiebt und die Abkürzung zur historischen Schreibstube einschlägt. Dort angekommen, weist sie auf ein Unikat hin, das weltweit seinesgleichen sucht: Es ist jener Holzschrank, in dem die Nachlassverwalter nach Goethes Tod das unveröffentlichte Manuskript von „Faust II“ gefunden haben dürften. Auch Goethes Originalschreibtisch ist zu sehen. Dort soll er gesessen haben, um „Die Wahlverwandtschaften“, den „Zauberlehrling“ oder „Faust I“ zu verfassen. Es ist Literatur wie diese, die Touristen aus aller Welt ins thüringische Weimar strömen lässt. Jährlich besuchen etwa drei Millionen Gäste die Kulturstadt, deren Klassikerstätten zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen. In Weimar lebten neben Goethe auch Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Martin Luther, Johann Sebastian Bach, Franz Liszt oder Friedrich Nietzsche – nur um einige der berühmtesten Persönlichkeiten zu nennen. Auch entstand hier nach dem Ersten Weltkrieg das Bauhaus, das bis heute weltweit als Heimstätte der Avantgarde der Klassischen Moderne gilt. Aufgrund der hohen Dichte an Kultur und Geschichte, für die Weimar steht, zieht es vor allem gut gebildete Menschen in den Bann – und jene, die eine Affinität für diese Themen aufweisen. Allein, zu zweit oder in Gruppen spazieren sie durch die Gassen, bummeln durch die Buchhandlungen oder sitzen in einem der vielen Cafés, mit Blick auf die Denkmäler, Museen und Kirchen. Auffällig sind auch die vielen Schulklassen, die mehrtägige Lehrexkursionen nach Weimar führen. Insbesondere die Altstadt von Weimar wirkt wie ein homogenes Bildungsidyll. Ein Ort, abgekoppelt vom restlichen Thüringen. Obwohl in dem ostdeutschen Bundesland am 26. Mai Kommunal-, Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen sowie am 1. September Landtagswahlen stattfinden, ist im historischen Zentrum kein einziges Wahlplakat der rechtspopulistischen und in Teilen offen rechtsextremen „Alternative für Deutschland“ zu sehen. Omnipräsent sind stattdessen jene der Sozialdemokraten, die ihre Aushänge mit der Farbe Gold eingefärbt und mit dem Slogan „Gold statt Braun“ bedruckt haben. Die „Piraten“ kämpfen für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“; „Die Linke“ legt nahe: „Gemeinschaft ist Sicherheit“, und das „weimarwerk bürgerbündnis“ wirbt mit dem Statement: „Es liegt an uns, wie wir in diesem Land zusammenleben wollen und werden.“ Ein Zitat des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Der „Evangelische Kirchenkreis Mitteldeutschland“ wiederum hat vor der Stadtkirche St. Peter und Paul ein farbenfrohes Plakat mit der Aufschrift „Weltoffenes Thüringen“ platziert. Was aber ganz besonders ins Auge sticht, ist die Werbefläche der Klassik Stiftung Weimar vor dem Residenzschloss. In XXL-Lettern prangt hier ein Goethe-Zitat: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.“ Es ist offensichtlich, dass sich hier so gut wie alle Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen an einem Schreckgespenst abarbeiten, das dem ersten Anschein nach weit weg ist. Doch der Schein trügt. Das Kontrastprogramm Ein Montagabend gegen 19.15 Uhr im Mai. Der Touristentrubel ebbt ab. Die meisten Museen und Ausstellungen haben bereits geschlossen. Wer sich nicht in sein Quartier zurückzieht, sucht sich in einem der Gastgärten einen Tisch zum Abendessen – um unvermittelt Zeuge eines Weimarer Kontrastprogramms zu werden. Polizeibusse steuern in Kolonnen auf den Marktplatz zu, wo sich rund zwei Dutzend Demonstranten versammelt haben. Fast alle tragen schwarze Kapuzenpullis, dunkle Hosen und Sonnenbrillen. Viele von ihnen sind an exponierten Stellen wie Hals, Fingern oder Gesicht tätowiert. Auch etliche Kampfhunde sind zu sehen. Nachdem sich das Aufgebot – vor allem Männer unterschiedlichen Alters – formiert hat, zieht es, umringt von Einsatzkräften, mit Fahnen und Trommeln durch die Gassen. Einer der Sicherheitsbeamten bestätigt, dass es sich bei den Demonstrierenden weitgehend um Anhänger der AfD handelt. Aber auch Mitglieder der Reichs bürger-Szene sind vertreten. Geeint wird gegen die „Überfremdung“ demons-
DIE FURCHE · 21 23. Mai 2024 Das Thema der Woche Zwischen Goethe und AfD 3 triert – wobei Thüringen mit 7,6 Prozent den geringsten Migrationsanteil Deutschlands aufweist. Im Innenministerium in Erfurt verweist man aber darauf, dass innerhalb der Gruppierung auch Antisemitismus eine maßgebliche Rolle spielt. Eine Gesinnung, die man auf den Montagsdemos in Weimar – rund zehn Kilometer Luftlinie vom ehemaligen KZ Buchenwald entfernt – derzeit nur bedingt öffentlich zur Schau stellt. Was aber dennoch offensichtlich ist: Die rechte Bedrohung, die sich deutschlandweit im Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Bahn bricht (laut Umfragen hält sich die AfD stabil bei 30 Prozent), ist plötzlich auch inmitten der Kulturhochburg mit Händen zu greifen. Seit 2019 ist die Kulturhistorikerin Ulrike Lorenz die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. „Methoden der Vagheit“ „Die Welt, Deutschland, Thüringen stehen vor einer Prüfung in Demokratie. Die Bevölkerung in Thüringen wird sich entscheiden, welche Politik in den kommenden vier, fünf Jahren das Bundesland, den Alltag, den Beruf der Menschen prägen wird“: Es waren bemerkenswerte Worte, die Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar (jener Organisation, die den Großteil der Kulturstätten der Stadt verwaltet), in ihrer Neujahrsansprache 2024 wählte. Auch gegenüber der FURCHE wird sie deutlich: „Björn Höcke (Vorsitzender der AfD Thüringen, vgl. Seite 5; Anm. d. Red.) und andere Parteigenossen nehmen teilweise direkt Bezug auf nationalsozialistisches Vokabular. Die AfD arbeitet mit Methoden der Vagheit, mit populistischen Aussagen. Weil aufgrund der aktuellen Kriege, der Migrationsbewegungen, des Klimawandels oder der Spätfolgen der Pandemie ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit herrscht, hat diese populistische und in Teilen rechtsextreme Partei ganz klar Vorteile.“ Weil die AfD mit ihrer Taktik vor allem die Menschen in den ländlichen Gebieten oder im Thüringer Wald für sich gewinnen könne, entschied sich die Klassik Stiftung Weimar für einen eigenen Weg in den ländlichen Raum. Durchaus ungewöhnlich für eine Kultureinrichtung: „Unsere mobile, aufsuchende Kultur arbeit geht mit ausgebauten Lastenrädern und Pop-up-Werkstätten in die kleineren Gemeinden Ostund Westthüringens“, beschreibt Kunsthistorikerin Lorenz ihre Strategie. „Wir erarbeiten mit Akteuren vor Ort und für den Ort bedarfsgerechte eigene Kulturprogramme. Dabei suchen wir Bezüge zum humanistischen Fundament, das sich in der Goethe-Zeit in Weimar herausgebildet hat. Ich sehe die Klassik Stiftung als ‚Labor der Humanität‘ für das gegenwärtige Publikum und zukünftige Generationen.“ Auf diese Art will die Stiftung „den Humanismus von Goethe und Schiller und die Weltläufigkeit dieser Denker“ breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich machen und zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein beitragen. Laut Lorenz mit Erfolg. Ungewöhnlich viele Menschen, vor allem Junge, würden die Angebote der Stiftung annehmen und sich einbringen. Gleichzeitig betont Lorenz die Ambiguität, die extreme Widersprüchlichkeit, mit der man sich – und keineswegs allein im Hinblick auf die AfD – auseinandersetzen muss: „Weimar ist eben nicht nur die Hochburg für Hochkultur, Weimar ist auch der Ort, an dem sich der Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten beispielhaft verdichtet hat.“ Die kritische Öffentlichkeit Gibt es Gedanken aus diesem geistigen Epizentrum, die die Präsidentin besonders hervorheben will? „Es ist vor allem das immaterielle Erbe, das uns helfen kann, die Herausforderungen der Gegenwart zu bestehen. Angefangen beim Weltbürger Goethe über Herders Vielstimmigkeit der Völker bis hin zu Wieland, der vorgemacht hat, wie es geht, eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland herzustellen.“ Letzteres könnte der Schlüssel sein, meint Lorenz. „Es geht darum, diametrale, sich ausschließende Sichtweisen miteinander ins Gespräch zu bringen, einander zuzuhören und wahrzunehmen.“ Wie eine Gebrauchsanweisung für diese Disziplin läsen sich Wielands „Göttergespräche“. Der Autor habe es vermocht, einem Publikum metaphorisch die Zeitenwende der Französischen Revolution nahezubringen. Und zwar nicht, indem er moralisierte oder (ver)urteilte, wie es heute viele täten, sondern indem er die verschiedenen Per spektiven gleichzeitig und nebeneinander darstellte. „Er ließ den Adel, die Bürgerlichen und Intellektuellen, die Revolutionsbegeisterten und die Revolutionsgegner gleichermaßen zu Wort kommen. Und er hat seinem Zeitungspublikum das Urteil darüber selbst überlassen.“ Die große Leistung der Weimarer Denker sieht Lorenz in diesem Einüben der eigenen Meinung und Urteilskraft – und sie sieht sich und die Klassik Stiftung mitverantwortlich, diese Tradition zu stärken. „ Wielands ‚Göttergespräche‘ lesen sich wie eine Gebrauchsanweisung für die Gegenwart. Der Autor hat der Bevölkerung die Zeitenwende metaphorisch nähergebracht. “ Ulrike Lorenz Vermutlich wäre alles viel eindeutiger, wenn sich die rechte Szene in Thüringen offen gegen die Bewahrung des humanistischen Erbes ausspräche. Doch die Tatsache, dass ein Johann Wolfgang von Goethe als bedeutendster deutscher Dichter gilt und seine Werke bis heute zu den wichtigsten der Weltliteratur gehören, macht ihn auch für Nationalisten interessant. Der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, Maximilian Krah, forderte jüngst eine Gesellschaft, die von einer deutschen „Volkszugehörigkeit“ geprägt ist. „Das Verfassungsrecht ist kein Kulturersatz. Im Grundgesetz gibt es weder Goethe noch Schiller. Verfassungspatriotismus ist unpraktisch“, erklärte Krah gegenüber der Welt am Sonntag. „Ich möchte, dass wir eine Jugend haben, die stolz auf das ist, was sie geerbt hat. Ich verwahre mich dagegen, dass ich über die deutsche Geschichte nur sprechen darf, wenn ich explizit den Nationalsozialismus erwähne.“ Und auch die Nationalsozialisten selbst instrumentalisierten die Weimarer Klassik. Im Februar 1942 fand in der Stadt eine Beratung zum „Schutz von Kulturstätten, Kunstschätzen und Kulturgütern“ statt. Eine der dort Hören Sie das gesamte Gespräch mit Ulrike Lorenz auf furche.at/ podcast. FURCHE-Politikressortleiterin Brigitte Quint mit Peter Kleine, Bürgermeister der Stadt Weimar (Interview Seite 4), auf dem Balkon des Rathauses in der historischen Innenstadt. beschlossenen Maßnahmen sah vor, die Häftlinge des KZs Buchenwald Kopien der Einrichtungsgegenstände des Schiller- Hauses anfertigen zu lassen und diese auszustellen. Das Schiller-Museum sollte der kriegsmüden „Volksgemeinschaft“ mit ihrem „Volksgut“ Durchhaltewillen suggerieren. Auch die Geschichte des Bauhauses steht in einem engen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. Die entsprechende aktuelle Ausstellung, die dieses Thema an drei Orten aufgreift – von 9. Mai bis 15. September 2024 im Schiller-Museum, Bauhaus-Museum sowie dem Museum Neues Weimar –, wurde von der Klassik Stiftung Weimar ganz bewusst in das Wahljahr gelegt. Intellektuelle Debatte als Weg? Ein Vorgehen, das der Wahlweimarer Johann Wolfgang von Goethe vermutlich goutiert hätte. „Er war stets bestrebt, eine Frage in einen übergeordneten Zusammenhang einzuordnen“, sagt Goethe-Kustodin Bettina Werche. Und wie wäre Goethe mit den AfD-Anhängern vor seiner Türe umgegangen? Werche zögert, ringt um eine Antwort auf die hypothetische Frage. „Ich kenne keine Äußerungen von ihm, wo er Leute direkt angefeindet hat, die nicht seiner Meinung waren. Ich glaube, er hätte die intellektuelle Auseinandersetzung gewählt. Auch, denke ich, hätte er zugesehen, mit den Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen.“ Vor dem Weimarer Schloss ist freilich groß zu lesen, für wie gefährlich der Dichter ein Land hielt, das die Fremden nicht beschützt. Man ist geneigt, sich vorzustellen, wie er seine Geheimtür öffnet und sich Denker aus aller Welt zur Inspiration ins Studierzimmer holt. Für ein Werk, das dem Fremdenhass etwas entgegenzusetzen vermag. Doch Goethe, Schiller, Herder, Wieland und Co haben ihre Losungen längst formuliert. „Alles Gescheite ist schon gedacht worden“, heißt es bei Goethe, „man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken!“
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE