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DIE FURCHE 23.05.2024

DIE

DIE FURCHE · 21 18 Theater 23. Mai 2024 „La clemenza di Tito“ bei den Salzburger Pfingstfestspielen und den Wiener Festwochen – und ein ungewöhnliches musikalisches Manifest. Von Walter Dobner Wofür Mozart alles herhalten muss Die von Cecilia Bartoli kuratierten Salzburger Pfingstfestspiele und die Wiener Festwochen haben diesmal Mozarts „La clemenza di Tito“ auf ihrem Programm. Ein Stoff, wie er aktueller, hoffnungsvoller nicht sein könnte: die Geschichte der Wandlung eines brutalen Diktators zum verständnisvollen Humanisten. Man will ihm diese Metamorphose nicht abnehmen und erschießt ihn daher. Damit kann Vitellia endlich den Thron ihres FEDERSPIEL Ins Heute versetzt Bei den Wiener Festwochen inszeniert Intendant Milo Rau „La clemenza di Tito“ mit aktuellen Bezügen zum Krieg in der Ukraine (im Bild). Auch in Salzburg spielt das Geschehen in einem von heutigen Büround Sitzungsräumen inspirierten Ambiente. Ausflug mit Standarte Das Piratenschiff der Wiener Festwochen, Bühne für den Chor, von weiblicher Hand dirigiert, überließ dem Frontman im roten Anzug, Komponist einer Hymne, die Rampe. Er sang für die freie Republik und führte durch das Theater. Hoffentlich hebt das Projekt ab, landet nicht wie die Mikronation Kugelmugel aus Katzelsdorf im Wurstelprater. Es gab zwei Höhepunkte. Bipolar Feminin. Die Eierabschneider:innen. Für mich der queere und nicht verquere Ausdruck von purer Wut auf jede Besserwisserei. Die Rede von Elfriede Jelinek. Sie war frei von jedem Lippenbekenntnis, eine Selbstbefragung, ein Zweifeln. Das Vampireske des Landes, das ganze Theater der Politisierung der Ästhetik wurde reflektiert, mit Hinweis auf die Gefahr, vom Feuer verzehrt zu werden, obwohl es vorsichtig umkreist wird. Ein Tiefpunkt. Berauschende Hintergrundmusik. Der Intendant führte einen ukrainischen Künstler vor. Seine Rede wurde gestört, eine russische Parole pro Palästina auf Papier entrollt. War das eingebaut oder schlicht ein Verstoß? Der Frontman griff ein, der Aktivist Vaters erklimmen, die Macht ihrer Familie wiederherstellen. So präsentiert Robert Carsen das Finale dieses späten Mozart in Salzburg. Weil Tito letztlich doch nicht zu trauen ist? Man kann es so deuten, diese Idee noch weiterspinnen und sich fragen: Wie lange wird es dauern, bis Vitellia vom Herrscherstuhl gestürzt werden wird? Wird auch sie ein Opfer des aufgebrachten Mobs werden? Im Original liest sich der Schluss anders. Er lässt künftig einen weniger von der Macht korrumpierten als endlich auf die Menschen zugehenden Tito erwarten. Gedacht war diese Oper halte die Botschaft für ein terroristisches Regime hoch. Der Intendant bemühte sich, die Aufmerksamkeit auf den Ukrainer gelenkt zu halten. So offenbarte sich, dass in der freien Republik Wien nur so lange Freiheit herrscht, wie alle mitspielen. Wie lauten die Regeln bei Botschaften fragwürdiger Agitation? Flaggen wurden geschwungen. Die Kunde war tückisch, nicht nur ästhetischer Tupfer. Künstler hatten die Flaggen durch Farben codiert. Ganz schlecht, weil immer missverständlich. Wurde bei der Eröffnung Freiheit gerockt? Der Wunsch nach Politisierung digitaler newborns? Die Ästhetisierung von Politik? Trost oder Lippenbekenntnis gegen Demokratieverlust? Das literarische Labor zur Weltverbesserung von LM und Sabine Scholl, Tinternational, schwang auch schon mal eine Standarte. Eine Stoffwindel, Friedensquadratmeter für Kinder. Die Autorin ist Schriftstellerin. Von Lydia Mischkulnig Foto: Annemie-Augustijns als eine Art „Fürstenspiegel“ aus dem Blickwinkel damaliger höfischer Kultur. Warum dieses Sujet nicht einmal von der Gegenwart her denken? Folgerichtig lässt Carsen das Geschehen in einem von heutigen Büro- und Sitzungsräumen inspirierten Ambiente (Bühnenbild und Kostüme: Gideon Davey) ablaufen. Videos erinnern an den Sturm aufs Washingtoner Kapitol. Die Protagonisten tragen Alltagskleidung. Dass Sesto und Annio nicht als Hosenrollen behandelt, sondern als Frauen dargestellt werden, will Carsen als generellen Beitrag zum aktuellen Genderverständnis verstanden wissen. Allerdings erweist sich diese Idee eher als subjektives Bekenntnis, das der Oper einiges an selbstverständlicher Erotik vorenthält und nichts zu einem tieferen Werkverständnis beiträgt. Dass Cecilia Bartoli (als Sesto) die Szene dominieren und manche vokale Unzulänglichkeit durch ihre außerordentliche Bühnenpräsenz ausgleichen würde, war vorherzusehen. Exzellent der virile Tito von Daniel Behle, prägnant Ildebrando D’Arcangelos Publio, überfordert Alexandra Marcellier als Vitellia, rollendeckend die übrigen Comprimarii. Gianluca Capuano führte seine Ensembles, die der historischen Musizierpraxis verpflichteten Les Musiciens du Prince – Monaco und Il Canto di Orfeo, mit differenziertem Animo durch die Partitur. Was soll dieser Titus? Was fällt Milo Rau, dem neuen Intendanten der Wiener Festwochen, zu dieser Mozart-Oper ein? Sein für das Grand Théâtre de Genève erarbeiteter „Titus“ hatte schon Anfang 2021 – inmitten der Coronazeit – Premiere, wurde bereits damals heftig diskutiert. Für die Wiener Aufführungen hat er seine Inszenierung aktualisiert, mit Hinweisen auf die Krim-Annexion und den Krieg in der Ukraine. Schließlich geht es Rau nicht um die Beschäf- „ Dass Cecilia Bartoli die Szene dominieren, manche vokale Unzulänglichkeit durch ihre außerordentliche Bühnenpräsenz ausgleichen würde, war vorherzusehen. “ tigung mit dem originalen Sujet, sondern um seine Dekonstruktion. Locker deutet er Tito zu einem zeitgenössischen Maler um, verlegt das Geschehen in ein Flüchtlingslager, räsoniert wortreich im Programm, ob Kunst die Welt verändern könne, ohne das allerdings auf der Bühne deutlich machen zu können. Verwirrung stiften scheint ihm eine besondere Mission. So eröffnet er die Aufführung mit dem Finale, lässt zu den Arien nicht die Texte auf den Videos einblenden, sondern die Biografien einzelner Mitwirkender. Warum, bleibt offen. Die Protagonisten bewegen sich eher zufällig als nach einem klaren Konzept geführt. Ausgenommen Anna Goryachova als im Wesentlichen rollendeckender Sesto zeigten sie sich ihren stimmlichen Herausforderungen nur bedingt gewachsen. Enttäuschend auch das sich jedem Charme und ausgefeilter Dramatik ziemlich verweigernde Spiel der Camerata Salzburg unter einem wenig inspirierten Thomas Hengelbrock. Wenigstens der Arnold Schoenberg Chor agierte auf seinem gewohnt hohen Niveau. Aber Musik, gar die Interaktion mit dem Text, spielt in dieser sich als eigenwillige Gesellschaftskritik gebärden wollenden Deutung ohnedies nur eine Nebenrolle. Verfremdetes Barock Es geht auch anders, wenn man der Welt partout einen Spiegel vorhalten will. Das demonstriert der für seine diskursiven Arbeiten bekannte wie umstrittene Regisseur Kirill Serebrennikov (er zeichnet auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich) mit „Barocco“, einem von verfremdeter Barockmusik und Videos begleiteten Pasticcio aus Schauspiel und Tanz. Im Vorjahr hatte es am Hamburger Thalia Theater Premiere. Dieser Tage gastierte diese Produktion im Rahmen der Wiener Festwochen im Wiener Burgtheater. Eine zweistündige Revue, die barocke Schönheit, Morbidität und Vielfalt, die Gräuel von Diktaturen, die 1968er Revolution, grundsätzlich das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Missstände – hier gezeigt am Beispiel zahlreicher Selbstauslöschungen – zu einem aufwühlenden Bogen zusammenführt. So glänzend die exzellenten Mitglieder des vielseitigen Thalia-Ensem bles diese Herausforderung meisterten: Mit weniger Pomp, mehr Wortdeutlichkeit und geringerer Lautstärke wäre man den eigentlichen Anliegen dieses vielschichtigen „#einspielmitFeuer“, so der Untertitel dieses „Barocco“, noch nähergekommen – als engagiertes Plädoyer für Humanität, Frieden und Freiheit. La clemenza di Tito Wiederaufnahme bei den Salzburger Festspiele, Haus für Mozart, 1., 3., 5., 8., 10., 13.8. La clemenza di Tito Wiener Festwochen, Halle E im MuseumsQuartier, 24., 25.5.

DIE FURCHE · 21 23. Mai 2024 Literatur 19 Der US-amerikanische Schriftsteller George Saunders legt mit seinem Buch „Tag der Befreiung“ wieder einmal Kurzgeschichten vor, die es in sich haben. Es sind Geschichten, die die ganz „normalen“ barbarischen Abgründe des Menschen sichtbar machen. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht“ Von Brigitte Schwens-Harrant Dass kürzere Erzählungen im deutschen Sprachraum immer im Schatten des Romans ihr Dasein fristen, ist schwer zu verstehen. Die angloamerikanische Literatur jedenfalls hat in diesem Genre Großartiges hervorgebracht. Zu den Meistern dieses Fachs gehört George Saunders, der für seinen Debütroman „Lincoln im Bardo“ 2017 den Man Booker Prize erhalten hat. Saunders erzählt darin den Zwischenzustand des „Bardo“, der es Toten ermöglicht, in Lebende zu schlüpfen. Abraham Lincoln trauert mitten im Krieg um seinen elfjährigen Sohn und sucht in der Nacht nach dem Begräbnis im Februar 1862 die Gruft auf, um den Verstorbenen noch einmal aus dem Sarg zu holen. Der Roman setzt sich aus vielen Stimmen zusammen, einige aus dem Bürgerkrieg und auch jene des Vaters und des Sohnes, die miteinander verschmelzen. Viele Stimmen, viele Perspektiven und unterschiedliche Erzählweisen zeichnen auch Saunders’ kürzere Texte aus. 2022 hat er mit „Liberation Day“ neue Storys vorgelegt, die nun mit dem Titel „Tag der Befreiung“ auf Deutsch vorliegen und es in sich haben. Einige von ihnen sind dystopische Entwürfe. Sie erzählen, was aus Menschen wird, wenn sie programmierbar sind, wenn sie vergessen haben, dass sie ein Ich und Eltern hatten, kurz: dass sie Mensch sein könnten. Sie erzählen, wie Ausbrüche entweder von außen versucht werden oder von innen vielleicht gelingen. Befreiung als Blutbad Die titelgebende Geschichte „Tag der Befreiung“ zeigt Figuren, die seltsam fixiert werden, wie Puppen, gesteuert nur durch Programme, die ihnen content eingeben, auf dass sie der Unterhaltung geladener Gäste dienen. Der Versuch, sie zu befreien, scheitert und endet in einem Blutbad, das parallel zu einer historischen Schlacht erzählt wird. Nicht nur hier thematisiert Saunders Geschichte und Gegenwart der USA. Die Beunruhigung gründet – wie auch in den anderen Geschichten – im Erzählten, aber vor allem in der Erzählweise. Aus der Perspektive des Ich – das meist als kollektives Wir dieser Figuren spricht – können die Lesenden nicht heraustreten. Sie bleiben Gefangene dieses Blicks, der programmiert wird – in dem aber in manchen Momenten so etwas wie ein menschliches Ich mit Gefühlen durchblitzt. Doch es braucht nicht unbedingt die Dystopie, den Entwurf einer entsetzlichen Zukunft – die vielleicht gar nicht so fern und so absurd ist –, um in die Abgründe einer Gesellschaft zu schauen, die sich beunruhigend verändert. George Saundersʼ Stories sind gerade dort besonders stark, wo sie die Banalität des Bösen zeigen. Aus erst eher harmlos wirkenden, weil alltäglich geschehenden Gemeinheiten entstehen Folgen, die nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. Eine solche Tat kann zum Beispiel sein: eine Kollegin anpatzen. In der Story „Eine Sache auf der Arbeit“ entwickelt sich das Verpetzen zu einem existenziellen Drama, bei dem auch der Gute nicht gut bleibt. Rache, nicht Gerechtigkeit Besonders stark zeigt sich eine solche Dramatik in der Geschichte „Die Mom der kühnen Tat“. Diese lässt in den Kopf einer Mutter blicken. Sie ist damit beschäftigt, in ihrer kostbaren morgendlichen Schreibzeit kluge Sätze zu finden. In ihren ständig schweifenden Gedanken vermengen sich Realität und Fiktion, zudem mischt sich ab und zu die Sorge um ihren Sohn hinein, den sie aus den Augen verloren hat. Auf einmal kommt er blutend durch den Garten. Verbotenerweise ist er in der Stadt gewesen. „Ein alter Typ“ habe ihn dort auf den Boden geschubst. Die Polizei nimmt einen Verdächtigen fest, einen „alten Typen. Irgendwie weggetreten“, der aber alles leugnet. Der Junge soll ihn identifizieren. Die Eltern fahren mit ihm zur Polizeistation. „Ich bin mir nicht sicher“, sagt das Kind dort, zum Entsetzen seiner Eltern. Die Mutter versucht diskrete manipulative Anleitung. Das Kind bittet um Nachdenkzeit. Währenddessen findet die Polizei einen anderen „alten Typen“, nicht unähnlich dem ersten. Das Kind steht unter Druck, sichtbar kurz vor dem Heulen: „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.“ Eltern und Kind fahren unverrichteter Dinge heim. Auf den Satz des Kindes – „Wenigstens haben wir nicht den Falschen ins Gefängnis gebracht“ – antworten die Eltern mit Schweigen. Im Kopf der Mutter, Foto: IMAGO / TT die anders denkt (nämlich: lieber den Falschen als keinen), treiben Rachefantasien ihr Unwesen. Hat sie am Morgen noch nach Worten und Themen gesucht, fließen die Sätze nach dem Abendessen nur so aus ihr heraus. Ein Essay entsteht, sie gibt ihm den Titel „Gerechtigkeit“. Was sie schreibt, können Leser und Leserinnen allerdings nur ahnen, sie werden es nie erfahren. Nur die Wirkung des Geschriebenen wird erzählt. Denn am nächsten Tag wird ihr Mann den Text lesen und danach zum rächenden Täter werden. Was geschrieben ist, kann nicht zurückgenommen werden, George Saunders Der 1958 in Amarillo, Texas, geborene Schriftsteller veröffentlicht seine Kurzgeschichten regelmäßig in Zeitschriften und gilt als einer der Besten dieses Genres. „ Aus erst eher harmlos wirkenden, weil alltäglich geschehenden Gemeinheiten entstehen Folgen, die nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. “ was dann getan wird, auch nicht. Eine Geschichte nimmt ihren Lauf, die nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Aus einem – um es mit Kleist zu sagen – vielleicht durchaus rechtschaffenen Mann wird ein entsetzlicher. Wenn in dieser Art von Rechtschaffenheit, die hier erzählt wird, nicht ohnehin immer schon die Entsetzlichkeit steckt. Einziger Hoffnungsanker in dieser Geschichte ist das unbestechliche Kind. Politische Folgen Das Handeln und Nichthandeln einzelner hat politische Folgen. Der Band beginnt mit einem „Liebesbrief“ im „Februar 202.“: Ein Großvater schreibt seinem Enkel, rät ihm, möglichst nichts zu unternehmen, um sich selbst nicht zu gefährden. Alarmierende politische Umstände lassen sich erahnen. Die zahlreichen Möglichkeiten, sich als Wähler und Bürger gegen besorgniserregende Entwicklungen zu Wort zu melden, sind in den vergangenen Jahren offenbar ungenutzt geblieben. Der Großvater erklärt, wa rum. Ein Brief voller Selbstfreisprüche, die erhellen, warum es immer wieder so weit kommen wird, wie es nie hätte kommen dürfen. „Ich wünsche mir von ganzem Herzen, wir hätten euch alles intakt weitergeben können. Wirklich. Aber das sollte nicht sein. Dieses Bedauern werde ich mit in mein Grab nehmen. Inzwischen beschränkt sich Klugheit nur noch darauf, wie man sich möglichst intelligent arrangieren kann.“ Die Antwort des Enkels ist kein Teil dieser Erzählung ... Saundersʼ Stories sind Geschichten zur Zeit, ohne aber Zeitgeschehnisse platt zu illustrieren oder plakativ politisch zu kommentieren. Es sind Geschichten zur Zeit, weil sie die ganz normalen barbarischen Abgründe des Menschen sichtbar machen. Von beunruhigend „normalen“ Menschen. Und mit beunruhigend bekannten Eskalationen. Tag der Befreiung Stories von George Saunders Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert Luchterhand 2024 319 S., geb., € 25,70 Vorschau & Tipps aus der Redaktion! Lesen Sie schon FURCHE-Newsletter? Mittwoch: • Wochenüberblick und Lesetipps persönlich zusammengestellt von Chefredakteurin Doris Helmberger-Fleckl Freitag: • Lesestoff für das Wochenende aus dem FURCHE-Navigator vorgestellt von unseren Redakteur:innen JETZT FÜR NEWSLETTER ANMELDEN Einfach QR-Code scannen oder www.furche.at/newsletter besuchen

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