DIE FURCHE · 21 14 Diskurs 23. Mai 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich habe mich für meinen Narzissmus geschämt Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Angeblich stärken Pechnelken auch die Abwehrkräfte ihrer Nachbarpflanzen. Und Lila ist noch dazu eine meiner Lieblingsfarben. Ich gehe Ihrer Pechnelke also gern auf den Leim. Ich kann es nachvollziehen, dass Sie als Fan Thomas Bernhard verteidigen. Trotzdem konnte der jugendlich aufbrausende Teil dem Köder in Ihrem vergangenen Brief nicht widerstehen. Ein Grund war, wie Sie auch selbst beschreiben, dass es so viele Fotos von Thomas Bernhard gibt. Und ja, auch weil beim Durchklicken dieser Bilder das Wort „narzisstisch“ meine Gedanken streifte. „Dann erst recht“, dachte ich mir, und ich antwortete Ihnen. Provokation als Spielaufforderung begegnet mir immer wieder. Meist initiieren sie Männer mit ähnlichem sozialem und kulturellem Hintergrund. Wahrscheinlich liegt diese Beobachtung an meiner selektiven Wahrnehmung. Oder könnte es vielleicht doch sein, dass männliche Personen eher Lust an der Provokation empfinden? Was meinen Sie? Im Rampenlicht stehen Auch ich möchte Bernhard rechtfertigen, denn das Persönlichkeitsmerkmal „narzisstisch“ tragen alle Menschen in sich. Ich habe mich für meinen Narzissmus lange geschämt, manchmal tue ich das noch heute. Als meine Volksschullehrerin fragte, wer bei der Nikolausfeier den Kasperl spielen will, schnellte meine Hand im Bruchteil einer Millisekunde nach oben. Dass ich dafür Texte auswendig lernen und regelmäßig zu Proben gehen muss oder vielleicht Lampenfieber bekomme, war für mich in diesem Moment überhaupt kein Thema. Ich wollte nur im Rampenlicht auf der Bühne stehen und das „ Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass es sich für mich nicht schickt, Aufmerksamkeit einzufordern. Heute arbeite ich daran, es okay zu finden. “ Publikum begeistern. Ja, so narzisstisch war oder bin ich anscheinend. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass es sich für mich nicht schickt, Aufmerksamkeit einzufordern. Heute arbeite ich daran, es okay zu finden, wenn ich gerne im Mittelpunkt stehen würde. Wahrscheinlich habe ich es schon sehr oft erwähnt, aber zwei der Dinge, die ich an Social Media mag, sind das empowernde Potenzial und ihren Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen. (Randbemerkung: Ich war mir kurz nicht sicher, ob man „psychische Erkrankungen“ schreiben „darf“. Vielleicht könnte jemand ein digitales Wokeness-Wörterbuch erstellen, damit man immer up to date ist und die „richtigen“ Begriffe verwendet. Was halten Sie davon?) Diagnosestempel Im Moment thematisieren viele Videos Narzissmus, zum Beispiel in Beziehungen oder in der Erziehung. Sosehr ich den Aufklärungscharakter daran schätze, hoffe ich, dass aus der Entstigmatisierung nicht bald eine „Randomisierung“ wird, die Menschen willkürlich einen Diagnosestempel aufdrückt. Wenn ich mir vorstelle, wie Sie neugierige mit Ihrem Smartphone die Pflanzen in Ihrer Umgebung erkunden, würde ich Sie gerne begleiten. Ihre Naturpoesie ist eine angenehme Abwechslung zur Nachrichtenberichterstattung. Ich mache mir Sorgen, dass wir uns bei dringenden Entscheidungen für unsere Zukunft zu sehr vom Wesentlichen ablenken lassen. In dieser Sache scheinen wir uns also einig zu sein. Schenken Sie mir und uns allen bitte mehr Naturpoesie als Erfrischung für zwischendurch. Von Walter Posch Der verunglückte iranische Präsident Ebrahim Raisi In FURCHE Nr. 4 galt als Nachfolger des Ayatollahs Ali Chamenei. 3800 23. Jänner 2009 Nun ist in der Islamischen Republik alles offen. Nach dem Tod des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi haben die Trauerfeierlichkeiten begonnen. Raisi, Irans Außenminister Amirabdollahian und sieben weitere Insassen waren am Sonntag im Nordwesten des Landes bei schlechtem Wetter mit dem veralteten Präsidenten-Hubschrauber über bergigem Gelände abgestürzt. Raisi galt als „Schlächter von Teheran“. Seine Amtszeit zeichnete sich durch brutale Unterdrückung aus. Etliche Hinrichtungen hatte Raisi zu verantworten, die Menschenrechte trat er mit Füßen. Als möglicher Nachfolger des kränkelnden Ayatollahs Ali Khamenei hätte er seine Macht ausweiten können. Der Iranist und Turkologe Walter Posch erklärte bereits in einem FURCHE- Artikel aus dem Jahr 2009 das System des iranischen Mullah-Regimes. Erfolgsrezept der Ayatollahs Der Iran war nicht die erste „islamische“ Republik, aber die erste, die nach einer von breiten Bevölkerungsschichten getragenen Revolution ins Leben gerufen wurde. Die iranische Linke, vor allem marxistische und maoistische Gruppen, trug maßgeblich zum Erfolg der Revolution bei. Letztendlich waren es aber die Islamisten unter Khomeinis Führung, die den Sieg davontrugen und den Iran im Sinne einer islamistischen Ideologie umgestalteten. (...) Der politische Islam ist die zweite und eigentliche Säule der Ideologie. Er trat erstmals während der Verfassungsrevolution 1905/06 in Erscheinung und ist somit gleich alt wie der iranische Parlamentarismus. Nach dem Scheitern radikaler Gruppen, die in den 1940er und 1950er Jahren aktiv waren, verhielten sich die verschiedenen islamistischen Gruppen ruhig und widmeten sich dem Aufbau ihrer illegalen oder halblegalen organisatorischen Infrastruktur. Sie alle reihten sich hinter Ayatollah Khomeini ein, der in ideologischer und politischer Hinsicht ihr kleinster gemeinsamer Nenner war. Vertreter aller dieser Strömungen inklusive der liberalen Islamisten, die recht schnell entmachtet wurden, hatten nach der Revolution wichtige Ämter inne. (...) Die Foto: APA / AFP / Atta Kenare Doktrin von der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ ist ohne Zweifel das Kernstück der iranischen islamistischen Ideologie. Alle politischen Gruppen und politisch aktiven Personen müssen die Herrschaft der Rechtsgelehrten anerkennen. Sozialisten und Marxisten, bürgerliche Liberale und nicht-islamische Nationalisten, die das nicht akzeptieren, sind von vornherein von jeglicher Ausübung der staatlichen Macht ausgeschlossen. Diese Doktrin macht den „herrschenden Rechtsgelehrten“ zur mächtigsten Person im Staat. Es ist daher legitim, vom Iran als einem Theologenstaat zu sprechen, da alle Schlüsselstellungen von Klerikern besetzt werden. Allerdings existieren daneben sowohl ein aktives Parlament als auch eine unabhängig agierende Regierung. Das Teheraner politische System ist also ein Hybrid system, das demokratisch-republikanische Elemente in einen autoritären „Überbau“ einpasst. (...) Wer auch immer der nächste iranische Präsident wird, die revolutionäre Ideologie spielt eine Rolle. Der herrschende Rechtsgelehrte und Revolutionsführer Khamenei kann sich also gelassen auf weitere 30 Jahre islamische Revolution freuen. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. 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DIE FURCHE · 21 23. Mai 2024 Diskurs 15 Marienerscheinungen gehören zur katholischen Kirche wie das Amen im Gebet. Rom stellt deren Anerkennung nun auf neue Beine: ein gelungener Spagat zwischen Volksfrömmigkeit und Vernunft. Die offene Frage nach dem Übernatürlichen Landläufig werden mit dem katholischen Kosmos Marienerscheinungen und die damit verbundenen Wunder(heilungen) verbunden. Da mag man ein der Rationalität verpflichteter Zeitgenosse sein und den Beurteilungsmethoden der Naturwissenschaft folgen: Volksfrömmigkeit schert sich wenig um deren Erkenntnisse. Millionen Pilger nach Lourdes in Südfrankreich (das auf Marienerscheinungen 1858 zurückgeht), ins portugiesische Fatima (wo drei Hirtenkinder 1917 ebensolche ausgemacht hatten) oder auch ins herzegowinische Međugorje, wo die marianischen Manifestationen von 1981 bis heute andauern, sprechen eine klare Sprache. Auch wenn theologisch klar ist, dass der christliche Glaube derartige Erscheinungen nicht benötigt, ist die Kirchengeschichte voll davon. Man kann aber der katholischen Kirchenleitung zugutehalten, dass sie heute hier restriktiv agiert. Es gibt ja viele Gründe für besondere Vorsicht: Da gilt es, darauf zu schauen, ob es sich bei den Erscheinungen nicht um psychopathologische Phänomene handelt. Daneben ist zu prüfen, ob hinter „Wundern“ nicht ganz irdische Interessen stecken: Eine ordentliche Marienerscheinung kann schon ökonomische Vorteile bringen (die ORF-Serie „Braunschlag“ nahm dies vor einigen Jahren mit der Fiktion einer Marienerscheinung im Waldviertel satirisch auf). Und so manches „Wunder“ wird durch eine rationale Erklärung schnell entzaubert: Erst dieser Tage entpuppte sich das „Blut“ auf einer Madonnenstatue in Sachsen als rötlich gefärbte Milben. Ja sogar für die mehrmals pro Jahr stattfindende Verflüssigung der Blutreliquie des Heiligen Januarius in Neapel gibt es eine naturwissenschaftliche Erklärung. ben“ bewahren, sie muss sich mit dem Wissen, das den technischen Fortschritt der Menschheit gewährleistet, jedenfalls ins Einvernehmen setzen. Salopp gesagt sind „Wunder“ und „Wissenschaft“ unter einen Hut zu bringen. Papst Paul VI. hat bereits 1978 „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher Erscheinungen und Offenbarungen“ erlassen. Allerdings wurden diese Bestimmungen erst 2011 veröffentlicht – offenbar hatte die Kirchenleitung Sorge, dass die darin angeführten Restriktionen zu Unmut im Kirchenvolk führen könnten. Diese Vorgangsweise zeitigte absurde Situationen: So befassten Diözesanbischöfe ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Eigentlich wären nun die Heiligsprechungsverfahren an der Reihe. Denn dafür ist immer noch ein ‚Wunder‘ nötig. “ die Glaubenszentrale in Rom mit der Frage, ob eine bestimmte Manifestation übernatürlichen Ursprungs sei, und die Glaubenskongregation gab dazu auch ihr Votum ab und wies den Bischof an, wie er zu entscheiden habe. Gleichzeitig verbot sie ihm aber, bekanntzumachen, dass er auf Weisung der Glaubensbehörde gehandelt habe, ja, er durfte nicht einmal erwähnen, dass er Rom mit der Causa befasst habe. Obige Sachverhalte werden im jüngsten Dokument des vatikanischen Glaubensdikasteriums vom 17. Mai referiert, das neue „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßli- Religion muss „Sitz im Leben“ bewahren Hinter dem bis heute präsenten Wunderglauben steckt die tiefsitzende Sehnsucht danach, was rationale Erklärung übersteigt. Religion bedeutet ja den Versuch, nicht nur Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen und dem Grund dahinter aufs Tapet zu bringen, sondern diese Sehnsucht auch einzuhegen. Aber auch wenn Religion sich fürs Übernatürliche zuständig fühlt, muss sie sich ihren „Sitz im Lecher übernatürlicher Phänomene“ festlegt. Ein erstaunliches Dokument, denn es gelingt darin tatsächlich der Spagat zwischen Volksfrömmigkeit und vernunftgeleitetem Glauben. Das wird dadurch erreicht, dass bei den Untersuchungen in Hinkunft auf die Festlegung verzichtet wird, ob eine Erscheinung oder Privatoffenbarung „übernatürlichen“ Ursprungs ist. Dem untersuchenden Diözesanbischof wird, nach Rücksprache mit dem Glaubensdikasterium, eine sechsteilige Beurteilungsskala in die Hand gegeben, deren höchste Stufe ein Nihil obstat darstellt. Ganz im Sinn des gegenwärtigen Papstes Franziskus geht es hier um die pastorale Feststellung, dass einer Verehrung, den Bittgebeten oder Wallfahrten aufgrund einer Privatoffenbarung, an die zu glauben im Übrigen niemand verpflichtet werden kann, „nichts entgegensteht“. Eine derartige Erklärung wird „abgegeben, nachdem die verschiedenen geistlichen und pastoralen Früchte und das Fehlen größerer Kritikpunkte“ an derartigen Ereignissen bewertet wurden. Wenn die Kritikpunkte doch größer sind, greifen die anderen fünf Stufen, die von genauerer Beobachtung bis zum Verbot des Kultes reichen. Mehr als eine pragmatische Lösung Natürlich wird eine magische Komponente im katholischen Kosmos auf diese Weise nicht unterbunden. Aber es ist mehr als eine pragmatische Lösung, die Frage nach dem Übernatürlichen offenzulassen und sich darauf zu konzen trieren, was zu einer authentischen Gebets- und Glaubenspraxis führt, ohne mystische Komponenten dabei zu leugnen. Rom hat mit den neuen Normen jedenfalls einen wirklichen Schritt ins Heute getan. Eigentlich wären nun die Heiligsprechungsverfahren an der Reihe. Denn um ins Verzeichnis der Heiligen aufgenommen zu werden, ist immer noch ein „Wunder“ nötig. Man darf sich 2024 schon fragen, ob Phänomene an der Grenze des Aberglaubens noch zeitgemäße Kriterien für Heiligkeit sind. Wie die katholische Kirche jetzt mit Marienerscheinungen umgeht, könnte aber auch hier neue Wege öffnen. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Urlaub in Betonien Tiefgrüne Wälder, blitzblaue Seen, bunte Wiesen und über all dem die urigen Berge: So verkauft sich Österreich in der weiten Welt. Das Bild von der heilen Natur bringt jedes Jahr Millionen Gäste ins Land. Aber vielleicht haben die heimischen Landeshauptleute ja eine andere Szenerie vor Augen, wenn sie mit dem EU-Renaturierungsplan das wichtigste Naturschutzgesetz in Europa blockieren. Ist nicht auch das Umland von Zuzugsstädten wie Wr. Neustadt ungewöhnlich charmant? Verbaute Flüsse, weitläufige Einkaufstempel und wuchernde Parkplatzflächen lassen doch die Herzen höherschlagen. Mit ihnen wird unser Land zum ästhetischen Hotspot und Sehnsuchtsort der Versiegelung. Zumindest Peter Kaiser und Michael Ludwig (beide SPÖ) haben jetzt zarte Zweifel an dieser Zukunftsvision angemeldet. Beim Rest der Landeschefs beißen bislang selbst Wissenschafter mit guten Argumenten auf Beton. Aber dieser Baustoff hat bekanntlich seine Vorteile: Sorgen bezüglich Artenvielfalt und unser aller Ernährungssicherheit dringen nicht mehr durch. Wenn die Sonne vom Himmel knallt, speichert er brav die Hitze. Und wenn es einmal zu sintflutartigen Regenfällen kommen sollte, dann wird der schöne Boden wie von selbst saubergewaschen. Martin Tauss PORTRÄTIERT Weltankläger auf medialer Anklagebank Der Chefankläger des Weltgerichts ist streng gläubig. Karim Khan glaubt an die Justiz, an die Macht und die Pflicht des Rechts, das Böse in der Welt zu verfolgen, zu verurteilen und zu bestrafen – um das Gute, Wahre und Schöne zu schützen. Nachdem der 54-jährige Schotte diese Glaubensfestigkeit als „großartiger Anwalt“ und „beängstigend schlauer Meisterstratege“ bewiesen hatte, wurde er 2021 an die Spitze des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag gewählt. In der israelischen Boulevardzeitung Jedi’ot Acharonot wurde er damals als unpolitischer, pragmatischer „Wunschkandidat“ von Großbritannien, den USA und Israel beschrieben. Seit Montag dieser Woche bewerten diese Zeitung, Israel und die Welt Khan völlig anders. Seit er gleichzeitig Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsident und Verteidigungsminister (wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit) sowie gegen drei Hamas-Führer (wegen des Verdachts strafrechtlicher Verantwortung für Mord, Vernichtung und Geiselnahme sowie vieler anderer Verbrechen) beantragte, steht der Chef des Weltgerichts selbst weltweit vor einem politisch-medialen Tribunal. Dort ist das Urteil über Khan, im Unterschied zu den fairen und rechtsstaatlichen Verfahren im IStGH, bereits gefällt: Für die eine Seite ist er ein Held, für die andere ist er ein Verräter des Westens, einer „der großen Antisemiten der Moderne“ und ein übergeschnappter Jurist, der Weltpolitik betreiben möchte. Gerade für Letzteres wurde Karim Khan aber in seine Position gewählt. Der IStGH leidet seit Gründung an einer Legitimitätskrise, weil er bislang „schwach ist bei den starken Staaten und stark bei den schwachen Staaten“. Mit dieser Logik macht Khan mit Haftbefehlen von Putin bis Netanjahu konsequent Schluss. Seine Laufbahn verleiht ihm dafür Glaubwürdigkeit: Khan, der bullig auftritt, geziert von einem Henri-Quatre- Königsbart sowie dem von Elizabeth II verliehenen Ehrentitel „Queen’s Counsel“, war sowohl als Ankläger als auch als Verteidiger in internationalen Strafprozessen tätig. So verteidigte er Saif al-Islam Gaddafi, den als Jörg-Haider-Freund in Österreich bekannten Gaddafi-Sohn. Bis er als Chefankläger in seine jetzige Rolle schlüpfte und seither dessen Auslieferung an den IStGH verlangt. Ein Widerspruch? Nein, denn Karim Khan glaubt an die Justiz. (Wolfgang Machreich) Foto: APA / AFP / Dimitar Dilkoff Karim Khan, Sohn pakistanischer Eltern, ausgebildet am King’s College in London, steht nun selbst im Kreuzfeuer der Kritik.
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