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DIE FURCHE 23.03.2023

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DIE FURCHE · 12 4 Das Thema der Woche Heute geschlossen! 23. März 2023 Nächste Woche im Fokus: Der vor 75 Jahren entwickelte Marshall-Plan sollte durch Wiederaufbauhilfe die Demokratie sichern – damit Krieg und Katastrophe nicht das letzte Wort haben. Ein Schwerpunkt über Chancen und Grenzen heutigen Wiederaufbaus – von der Türkei über die Ukraine bis zu Notre-Dame. Wir leben, um zu arbeiten – oder ist es etwa andersherum? Diese Bücher liefern vier Rezepte für eine bessere, gerechtere und würdevollere Arbeitswelt. Utopien à la carte Bismarck reloaded Von Manuela Tomic Das Ruder herumreißen Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck hatte Ende des 19. Jahrhunderts ein neues System sozialer Absicherung geschaffen: Es umfasste die Kranken-, Renten- und Unfallversicherung aller arbeitenden Menschen. Viele europäische Staaten folgten diesem Beispiel und führten etwas später auch die Arbeitslosenversicherung ein. Die Idee, dass Menschen durch ihre Erwerbsarbeit abgesichert sind, sei zwar gut, aber nicht mehr zeitgemäß, schreibt die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack in ihrem neuen Buch „Wofür wir arbeiten“. Sie fordert daher einen Wohlfahrtsstaat reloaded. Jede Form der Arbeit müsse gesehen werden, sagt Prainsack, nicht nur die Erwerbsarbeit. Auch Pflegearbeit, Kinderbetreuung oder freiwillige soziale Arbeit halten die Gesellschaft am Laufen. Daher fordert Prainsack ein bedingungsloses Grundeinkommen als individuellen Anspruch, damit auch jene Menschen, die keine Erwerbsarbeit leisten, nicht vom Partner, der Partnerin, von den Kindern oder den Eltern abhängig sind. Das bedingungs lose Grundeinkommen trage dazu bei, die ursprüngliche Idee eines Wohlfahrtsstaates aufrechtzuerhalten, so Prainsack. „Man bekommt genug für ein würdevolles Leben, weil man ein Mensch ist – egal, wie alt oder jung, und egal, ob man einer Erwerbsarbeit nachgeht oder nicht.“ Wofür wir arbeiten Von Barbara Prainsack u. Hannes Androsch Brandstätter 2023 140 S., geb., € 20,– Krieg, Klimakrise und Pandemie haben der jüngeren Generation ordentlich zugesetzt. In der permanenten Sinnkrise verhaftet, schafft sich die „Gen Z“, also jene Generation, die 1997 bis 2012 zur Welt gekommen ist, ihre eigene Utopie. Die Journalistin Sara Weber widmet sich in ihrem Buch „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ genau dieser scheinbaren Absurdität zwischen konstruiertem Alltag und absolutem Ausnahmezustand. Sie warnt junge Menschen davor, sich für ihren Traumjob kaputtzuarbeiten. Schließlich stecke in dem Wort „Leidenschaft“ auch „Leid“. In ihrem Buch entwirft sie ein positives Szenario für das Jahr 2050: Wenn es gut laufe, so die Autorin, dann fänden wir uns in der Utopie von John Maynard Keynes wieder: „Menschen müssen nicht mehr arbeiten, um Geld zu verdienen. Die Wirtschaft wandelt sich zu einer Selbstaktualisierungs-Ökonomie: Die Menschen entscheiden selbst, womit sie ihre Zeit verbringen wollen, und viele arbeiten selbstständig.“ Die Lebenserhaltungskosten seien zudem durch neue Technologien gesunken, und Steuern auf Finanztransaktionen und Umweltbelastungen sollen ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzieren. Weber appelliert an die Politiker und Arbeitnehmer, das Ruder jetzt herumzureißen, bevor es zu spät ist. Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten? Von Sara Weber KiWi 2023 240 S., kart., € 18,50 Auf zur Oxytocin-Party! Digitale Dauerpräsenz, Ablenkung und Zeitdruck: Wir erledigen Dinge, die andere vorgeben, setzen uns Ziele, die nicht unsere eigenen sind – und das möglichst gleichzeitig und schnell. Die Folgen: Demotivation, Stress und Burn-out. Der Neurobiologe Bernd Hufnagl widmet sich in seinem neuen Buch „Besser fix als fertig“ den Ursachen dieser Probleme und der Frage, wie „New Work“ die Chance eröffnet, Freiheit und Selbstständigkeit zu erleben. Der Begriff „New Work“ ist eine Schöpfung des amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann aus den späten 1970ern, der diesen als notwendigen Wandel der Arbeitswelt sah, um aus der „Old Work“, den kapitalistischen Arbeitsmodellen einer Industriegesellschaft, zu entkommen. Statt die Arbeit als Mittel zum Zweck zu sehen, sollen der Mensch und seine Bedürfnisse in den Vordergrund rücken. In einer modernen Arbeitswelt legt Hufnagl daher den Fokus auf flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, Firmenevents, Betriebskindergärten und berufliche Weiterbildung. Erst beim Nichtstun, so Hufnagel, komme das Gehirn in den Reflexionsmodus. So verhindert man Betriebsblindheit, Stress und negative Stimmung am Arbeitsplatz. Sinngerechtes Arbeiten in Maßen ist das Ziel. Das ist gut für uns und für das Gehirn: eine „echte Dopaminund Oxytocin-Party“ quasi. Prost! Besser fix als fertig Hirngerecht arbeiten statt digitaler Erschöpfung Von Bernd Hufnagl Molden 2023 208 S., geb., € 27,– Faule Steinzeitmenschen Heute bestimmt die Arbeit, wer wir sind. Der südafrikanische Anthropologe James Suzman erklärt in seinem Buch „Eine andere Geschichte der Menschheit“, wie Arbeit das Leben dominieren und derart von uns Besitz ergreifen konnte. Die Art, wie gearbeitet wird, so Suzman, sei zweifellos das Produkt der Geschichte. Doch genau deshalb lässt es sich auch verändern. In der modernen Gesellschaft spielt Arbeit nach wie vor eine Schlüsselrolle. Unsere Steinzeitvorfahren hingegen schufteten weit weniger als wir. Sie arbeiteten, um zu leben, und lebten nicht, um zu arbeiten. Die Sesshaftwerdung und das Leben in den Städten prägten ein neues Bild von Beschäftigung. Während es in der Steinzeit ums Überleben ging, spielt dieses in der westlichen Überflussgesellschaft keine Rolle mehr. Warum steht Erwerbsarbeit also derart im Zentrum des modernen Alltags? Mit einem differenzierten Blick in die Geschichte lässt Suzman den Leser gehörig um- und vorausdenken. „Die Aussicht auf eine automatisierte Zukunft verdichtet sich in der Fantasie mancher Menschen zur Utopie. Andere sehen darin eher eine kybernetische Dystopie. Für viele jedoch wirft die Aussicht auf eine automatisierte Zukunft vor allem eine unmittelbare Frage auf: Was passiert, wenn ein Roboter meinen Job übernimmt?“ Suzmans Buch liefert die Antwort. Sie nannten es Arbeit Eine andere Geschichte der Menschheit Von James Suzman C. H. Beck 2021 398 S., geb., € 27,80

DIE FURCHE · 12 23. März 2023 Politik 5 Von Wolfgang Machreich Europaabgeordnete sind Vielpendler. Jede Woche fahren sie nach Brüssel, einmal im Monat zur Plenarsitzung nach Straßburg, und je nachdem, in welchen Ausschüssen oder Delegationen sie arbeiten, geht es regel mäßig in Länder außerhalb der EU. Andreas Schieder ist derzeit ein Noch-mehr-Pendler. Die Turbulenzen in der SPÖ drehen auch das Reiserad des Europaabgeordneten schneller. „Schlechte Frage!“, antwortet er mit einem Seufzer und Lacher zugleich auf die Frage nach seiner Rolle in der Partei: „Als Delegationsleiter der SPÖ im Europaparlament bin ich sowohl im Vorstand als auch im Präsidium.“ DIE FURCHE: Ist das so schlimm? Andreas Schieder: Prinzipiell nicht, aber es sind halt gerade jetzt Wochen und Tage, wo die Sozialdemokratie besonders gefordert ist, wo es darum geht, wie es mit ihr in Österreich weitergeht. DIE FURCHE: Werden Sie im Europaparlament schon von sozialdemokratischen Abgeordneten aus anderen Ländern auf die SPÖ-Debatte angesprochen? Schieder: Nein, weil wir immer noch zu den starken Teilen in der S&D-Fraktion (Socialists & Democrats, Anm. d. Red.) gehören. Wir sind hier mit einem Wahlergebnis weit über dem Durchschnitt vieler anderer sozialdemokratischer Parteien bei Europawahlen. Auch in Österreich sind wir trotz aktuell schlechter Umfragewerte im Vergleich immer noch eine starke Sozialdemokratie. Trotzdem ist die Situation auch für uns als SPÖler im Europaparlament besorgniserregend. Wir müssen diese internen Fragen jetzt möglichst rasch klären, um wieder politisch voll handlungsfähig zu sein. Sowohl in der nationalen als auch in der Europapolitik. Mit der SPÖ-Mitgliederbefragung zur neuen Parteiführung – für die sich neben Pamela Rendi- Wagner und Hans Peter Doskozil nun auch der linke „Parteirebell“ Nikolaus Kowall interessiert – sieht Schieder die Gelegenheit für eine Rückkehr zum innerparteilichen Frieden gegeben. Die überwiegende Mehrheit der SPÖ-Mitglieder habe sich seiner Meinung nach gewünscht, „dass wir diese Fragen schon viel früher einmal geklärt hätten – nützt nichts mehr, vergossene Milch ist vergossen. Jetzt müssen wir nach vorne schauen, diesen Prozess möglichst inhaltlich und möglichst so abwickeln, dass er nicht zu einer Spaltung führt. Die Probleme der Zeit warten nicht darauf, dass die Sozialdemokratie ewig ihre internen Fragen klärt, sondern dass sie ihre Ärmel aufkrempelt und an Lösungen arbeitet.“ Als SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament ist Andreas Schieder Mitglied im Parteivorstand. Ein Gespräch über die SP-Mitgliederbefragung sowie Westbalkan, Brexit und Österreichs Neutralität. „Dass es nicht zur Spaltung führt“ Nach vorn schauen! Andreas Schieder zur SPÖ-Debatte: „Die Probleme der Zeit warten nicht darauf, dass die Sozialdemokratie ewig ihre internen Fragen klärt.“ DIE FURCHE: Angenommen, die Mitgliederbefragung wird in diesem gemeinsamen Miteinandermodus durchgeführt und mit einer Entscheidung abgeschlossen: Hört die Heckenschützen-Mentalität der SPÖ dann auf? Schieder: Julius Cäsar hat gesagt: Alea iacta est! – Der Würfel ist geworfen! Wenn eine Entscheidung fällt, dann ist diese zu akzeptieren. Wir haben genug zu tun. Wer dann glaubt, er kann sich weiterhin mit irgendwelchem Klein-klein-Gegeneinander beschäftigen, ist in der falschen Partei. DIE FURCHE: Haben Sie sich bereits entschieden, für wen Sie votieren – oder überlegen Sie noch? Schieder: Dazu gebe ich keinen Kommentar ab. Ich brauche 120 Prozent meiner Energie für ein sozialdemokratisches Europa. Foto: Europäisches Parlament Dort, auf europäischer Ebene, steht für Schieder in dieser Woche vor allem der Westbalkan auf der Agenda. Schieder ist Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und in der Delegation für die Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo. Einen „schönen Fortschritt“ nennt Schieder die von der EU vermittelten Ergebnisse beim Treffen zwischen Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić und dem kosovarischen Premier Albin Kurti am vergangenen Samstag im nordmazedonischen Ohrid. „Allerdings bleibt die Frage“, schraubt er zu hohe Erwartungen an den Deal hinunter, „wie viele Fortschritte überbleiben, nachdem Präsident und Premier wieder heimgefahren sind. In jedem Fall finde ich es gut, dass sich die EU, wie wir das lange fordern, jetzt stärker in die Verhandlungen einbringt. Uns rennt sonst die Zeit davon.“ Auf die Nachfrage, warum in diesem Uraltkonflikt jetzt Eile geboten sei, ob sich ansonsten Russland noch stärker als Spaltkeil auf dem Westbalkan positionieren könnte, antwortet Schieder: „Nächstes Jahr sind Europawahlen, anschließend wird die neue Kommission bestellt, in dieser Übergangszeit gehen erfahrungsgemäß viele Bereiche langsamer voran.“ Als langwierig erweist sich auch die Umsetzung des Brexit-Abkommens zwischen Großbritannien und der EU. Schieder ist der Brexit-Berichterstatter des Europaparlaments. Das Ende Februar erreichte Windsor-Abkommen bewertet er vorsichtig positiv: „Nach über drei Jahren haben wir jetzt Lösungen erreicht, mit denen beide Seiten zufrieden sein können.“ Besonders wichtig ist ihm „die dringend notwendige Absicherung des Nordirland-Protokolls und damit des Karfreitags-Abkommens – so kann der Frieden zwischen Irland und Nordirland gewahrt bleiben“. Seitens des Europaparlaments hat sich Berichterstatter Schieder auch für pragmatische Lösungen in Handelsalltagsfragen eingesetzt: „Mit der Regelung des Warenverkehrs zwischen Großbritannien und Nordirland über die „ Wer dann glaubt, er kann sich weiter mit Klein-Klein-Gegeneinander beschäftigen, ist in der falschen Partei. “ Andreas Schieder zu Ukraine-Friedensinitiativen: „Es ist wichtig, dass wir in unserem Denken nicht allein auf die militärische Logik setzen.“ Foto: APA / Roland Schlager Die Rolle der SPÖ als Oppositionspartei beschrieb Bruno Aigner am 30. Mai 2001 im Artikel „Kontrast in zivilisierter Form“; nachzulesen unter furche.at. sogenannten green and red lanes und einer vereinfachten innerbritischen Zollabfertigung ist uns das jetzt gelungen. Dass alle diese Schritte so lange gedauert haben, lag nicht an der EU. Das ist bisher immer an den Torys gescheitert.“ Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den Zusammenhalt zwischen den beiden Seiten des Ärmelkanals jedenfalls wieder verstärkt. Das sieht auch Schieder so: „Es hat sich gezeigt, dass Großbritannien im Bereich Geheimdienste, Aufklärung, Informationsbeschaffung in Europa am besten aufgestellt ist, und wir da die Zusammenarbeit dringend brauchen. Gleichzeitig habe ich damit gerechnet, dass der Krieg dieses Zusammenrücken auch öffentlich stärker zum Ausdruck bringt, was bis dato nicht der Fall ist.“ Als Grund dafür sieht Schieder „die innenpolitische Situation in Großbritannien, die alles andere als einfach ist“. Richtig ausgelegte Neutralität Womit das Gespräch wieder nahtlos nach Österreich schwenken kann – konkret zur ewigen Frage, wie das Land bzw. insbesondere die Politik angesichts von Putins Krieg weiter mit der Neutralität umgehen soll: „Ich finde, die legen wir richtig aus, indem wir uns politisch klar gegen die Aggression und auf die Seite des Opfers des Angriffs stellen, aber gleichzeitig militärisch neutral bleiben“, antwortet Schieder. In einem nächsten Schritt wünscht er sich aber, dass Österreich für di plomatische Initiativen bereitstehe. Derzeit sieht er dafür aber keine Chance: „Die russische Inszenierung zeigt, Putin will an keinen Verhandlungstisch, sondern am Kriegsweg eine Entscheidung erzwingen. Das Opfer ist die Ukraine und sind die Menschen in der Ukraine. Ein Opfer ist aber auch die Freiheit und sind alle Menschen, denen die Freiheit ein Anliegen ist – auch in Russland.“ Friedensinitiativen steht Schieder prinzipiell offen gegenüber: „Es ist wichtig, dass wir in unserem Denken nicht allein auf die militärische Logik setzen. Eine Friedensoption muss in unserem politischen Denken und Handeln immer ein Zielpunkt sein.“ Gleichzeitig warnt er, sich von zu schnellen Kompromissen täuschen zu lassen: „Frieden entsteht nicht, wenn sich das Opfer ergibt. Frieden und Freiheit sind ein Paar, das ganz stark zusammengehört. Die Freiheit der Ukraine für einen Frieden zu opfern, der den Ukrainern nur noch weiteres unsagbares Leid auferlegt, ist kein Frieden. Aber wir müssen den Frieden immer mitdenken, auch wenn zurzeit die Chance dafür leider sehr gering ist.“

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