DIE FURCHE · 12 18 Wissen 23. März 2023 Scannen in 3D Mit fortgeschrittener Lasertechnologie lassen sich historische Bauwerke bis ins kleinste Detail erfassen und im virtuellen Raum bewahren (Bild: ein französischer Ingenieur mit Laserscanner vor einer durch den Krieg zerstörten Feuerwehrzentrale in Charkiw, Ukraine, 2022). Illustration: Rainer Messerklinger Von Manuela Tomic Stress MOZAIK Wenn ich gestresst bin, sagt Mutter immer, ich solle meine Nerven schonen. Als ich gerade mein Studium in Mindestzeit abgeschlossen und ein Dutzend Praktika bestritten hatte, bemerkte sie: „In deinem Alter hatte ich einen Beruf und ein Kind, aber keinen Stress.“ Dann begann Mutter, von Ex-Jugoslawien zu erzählen. Nach getaner Arbeit setzten sich alle in die Cafés. Kinder spielten zwischen den geparkten bunten Kleinwägen, den fićos, Ball. Die Alten saßen den ganzen Tag auf den Bänken und aßen geröstete Sonnenblumenkerne. Unter ihren Füßen türmten sich die Schalen, die sie mit den Zähnen knackten und im Takt ausspuckten. Ich kenne den Klang der Entspannung aus meiner Kindheit. Das Wort „Stress“ hat Mutter zum ersten Mal in Österreich gehört. Kein Wunder: Der „Vater der Stressforschung“, Hans Selye, ist in Wien geboren. 1936 entwarf der Biochemiker das erste „Stresskonzept“. Die ex-jugoslawischen Gastarbeiter brachten das Wort über die deutsche Sprache als stres mit nach Hause. Ein eigenes Wort gibt es auf dem Balkan bis heute nicht. Das türkisch-bosnische frka kommt dem Begriff am nächsten. Es kann „Stress“ bedeuten, aber auch „Party“. Ich habe nie gelernt, meine Nerven zu schonen. Darum ist mein Kopf ein bisschen kaputt. Das macht aber nichts, sage ich oft zu Mutter. Wenn man für gar nichts mehr gut ist, dann wenigstens fürs Schreiben. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/newsletter Foto: APA / AFP / Dimitar Dilkoff Von Adrian Lobe Wer früher einen Neuwagen bestellte, bekam vom Händler zuweilen ein kleines Modell auto geschenkt. Der Sohn konnte sich dann vorstellen, wie das so ist, wenn Papa mit dem neuen Auto durch die Lande düst – und im Kinderzimmer schon einmal alle Szenarien durchspielen: Stau, Unfall, Abschleppdienst. Was eben in der Fantasie eines Jungen so vor sich geht. Heute wird von jedem Fahrzeug, das vom Band geht, eine detailgetreue Replika erstellt – allerdings keine physische, sondern eine digitale. Zahlreiche Sensoren, die im Auto verbaut sind, liefern Echtzeitdaten an Server und speisen damit ein virtuelles Abbild: den digitalen Zwilling. Geklonte Fabriken Von jedem Objekt lässt sich bereits ein virtuelles Back-up erstellen. Wie künstliche Abbilder von Autos, Gebäuden oder Städten erzeugt werden – und warum das „Internet der Körper“ umstritten bleibt. Der digitale Zwilling Durch die Zusammenführung der Daten in der Cloud und Auswertung durch selbstlernende Algorithmen lassen sich etwa Verschleißerscheinungen und Ausfälle vorausberechnen. Stellt der integrierte Sensor häufiger Vibrationen fest, können einzelne Bauteile oder Komponenten wie abgefahrene Reifen frühzeitig ausgetauscht und Risiken für Unfälle reduziert werden. Mittlerweile werden ganze Fertigungshallen digital geklont, um Maschinen über ihren gesamten Lebenszyklus zu begleiten und Schwachstellen in Produktionsabläufen zu identifizieren. In der sogenannten Smart Factory können Algorithmen aus Datenströmen Rückschlüsse ableiten und vorhersagen, ob eine Maschine leerläuft oder eine Antriebswelle ausfällt. Das Konzept des digitalen Zwillings stammt ursprünglich aus der Raumfahrt. Als die NASA 1970 ihre Apollo-13-Mission, die siebte bemannte Raumfahrtmission, startete, explodierte zwei Tage nach dem Start ein Sauerstofftank an Bord. Die Crew schwebte in Lebensgefahr. Denn der Tank versorgte die Astronauten nicht nur mit Luft, sondern er speiste auch die stromerzeugenden Brennstoffzellen. Nur noch wenige Stunden, dann würden dem Raumschiff der Strom und der Sauerstoff ausgehen. Für ein Umkehrmanöver oder eine Landung war es zu spät. Die Uhr tickte unerbittlich. Der Kommandant der Besatzung, Jim Lovell, funkte seinen berühmten Spruch „ Der Inselstaat Tuvalu sorgte mit einem Plan für Aufsehen, eine digitale Kopie der Atolle im Metaverse hochzuladen. “ an die Überwachungszentrale: „Hous ton, wir haben ein Problem!“ Ein Drama, 330.000 Kilometer von der Erde entfernt. Die Welt hielt buchstäblich den Atem an. Doch die Techniker im Kontrollzentrum behielten einen kühlen Kopf: Sie bauten das zerstörte Servicemodul nach und testeten Lösungen an verschiedenen Komponenten. Schritt für Schritt ging das Bodenpersonal die einzelnen Reparaturschritte mit der Besatzung durch. Schließlich gelang es den Astronauten, sich in die Landefähre zu retten und unversehrt zur Erde zurückzukehren. Apollo 13 gilt als eine der erfolgreichsten Rettungsmissionen der Raumfahrtgeschichte. Verglichen mit der heutigen Technik war die Raumfahrt damals lowtech. Der Bordcomputer der Apollo-11-Mission kam mit 145.000 Zeilen Code aus. Zum Vergleich: In einem modernen Fahrzeug stecken heute rund 100 Millionen Zeilen Code. Doch gerade weil die Datenbasis relativ dünn war, ist die Fernwartung der NASA-Ingenieure umso höher einzustufen. Mit der zunehmenden Vernetzung und Verbreitung von Sensoren stehen heute riesige Datenmengen im „Internet der Dinge“ zur Verfügung. Deren Analyse ermöglicht durch hochleistungsfähige Algorithmen viel tiefer gehende Einblicke in das Innenleben von Objekten. So werden mittlerweile auch digitale Zwillinge von Gebäuden oder ganzen Städten erstellt. Die mit Gebäude-, Raum- und Echtzeitverbrauchsdaten angereicherten 3D-Modelle erlauben unter anderem, Extremwettereignisse wie Starkregen zu simulieren: Was sind besonders gefährdete Stadtteile? Welche Straßen stehen bei einer Niederschlagsmenge X unter Wasser? Wie könnten Evakuierungs pläne aussehen? Gerade im Hinblick auf Klimaanpassungsmaßnahmen sind solche Visualisierungen ein wichtiger Baustein urbaner Resilienz. Wiederaufbau von Notre-Dame Sind die Objekte hinreichend vermessen und kartiert, lassen sich Gebäude auch schneller rekonstruieren. In Paris zum Beispiel hilft ein digitaler Zwilling beim Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame, die bei einem
DIE FURCHE · 12 23. März 2023 Wissen 19 „ Im Sinne einer personalisierten Medizin werden digitale Duplikate von menschlichen Organen erstellt. Kritiker befürchten vor allem Datenmissbrauch. “ INTERNET OF SKILLS Händeschütteln im weltweiten Netz Großbrand 2019 zerstört wurde. Das hochdetaillierte 3D-Modell, das mithilfe von Laserscans erstellt wurde und aus über einer Milliarde Datenpunkten besteht, unterstützt die Restauratoren dabei, die Teile an ihren Ursprungsort zurückzuführen. Jede bauliche Veränderung kann so dokumentiert werden. 3D-Modelle spielen in der Architektur eine immer wichtigere Rolle. So konnte in den 2000er Jahren der Triumphbogen des Baal-Tempels im syrischen Palmyra, der von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gesprengt worden war, mithilfe eines 3D-Druck-Verfahrens rekonstruiert werden. Grundsätzlich lässt sich von jedem Objekt ein digitales Back-up erstellen. Zuletzt sorgte der Inselstaat Tuvalu mit einem Plan für Aufsehen, eine digitale Kopie im Metaverse hochzuladen, einer dreidimensionalen Welt, in die man sich mit einer Datenbrille einklinkt. Die neun Atolle im Südpazifik, auf denen rund 12.000 Menschen leben, sind akut von der Klimakrise und dem Anstieg des Meeresspiegels bedroht – Ende des Jahrhunderts könnte die Inselgruppe komplett im Meer versunken sein. Die digitale Reproduktion beschränkt sich allerdings nicht nur auf Objekte. So werden in der Medizin seit geraumer Zeit auch digitale Zwillinge von menschlichen Körperorganen erstellt. Die mit Gesundheitsdaten gespeisten Modelle ermöglichen es, Therapiemöglichkeiten oder Operationen zu simulieren. Das Versprechen: Therapieansätze, die in der Medizin meist nur von der „Stange“ kommen und nicht am Menschen ausprobiert werden können, können individuell auf den Patienten zugeschnitten werden. Wenn eine virtuelle Operation schiefläuft, kommt kein Mensch zu Schaden. Ethische Bedenken Allerdings gibt es gegen eine solche personalisierte Medizin eine Reihe ethischer Bedenken. So befürchten Kritiker(innen), dass in einem „Internet of Bodies“, in dem Herzschrittmacher mit Smartwatches und Spitälern vernetzt sein werden, zentralisierte Datenpools mit sensiblen biometrischen Daten entstehen, die in einem unregulierten Gesundheitsmarkt an Versicherungen und Datenbroker weiterverkauft und möglicherweise gehackt werden könnten. Zudem bestünde die Gefahr einer paternalistischen Vorsorge: So könnten Patienten von Krankenkassen dazu genötigt werden, ihren Lebensstil zu ändern oder operative Eingriffe durchzuführen, wenn laut Datenlage die Gefahr eines Herzinfarkts erhöht ist. Bloß: Sind menschliche Organe einfach nur ein Bauteil, dessen Verschleiß man wie eine Antriebswelle simulieren darf? Schlummert in diesem mechanistischen Weltbild nicht auch die Gefahr einer totalen Berechenbarkeit und Objektivierung des Menschen? Will man als Mensch überhaupt wissen, dass die Niere oder die Leber in zehn Jahren versagt? Es scheint, als würde der medizinische Fortschritt der ethischen Diskussion vorauseilen. So haben US-Mediziner letztes Jahr einer Frau ein künstliches Ohr aus dem 3D-Drucker transplantiert. In Zukunft könnten maßgeschneiderte Organe aus Zellen hergestellt werden. Zwar würde das sogenannte Bioprinting ethisch fragwürdige Tierversuche und den Organhandel beenden. Doch der Weg zum menschlichen Ersatzteillager wäre damit endgültig geebnet. Das Internet der Dinge („Internet of Things“, IoT) ist ein Netzwerk aus miteinander verknüpften Geräten, die mit Sensoren und Software ausgestattet sind. Es kommt heute bereits in der maschinellen Fertigung zum Einsatz und prägt den Begriff der „Industrie 4.0“. Was aber ist das „Internet of Skills“? Auch dieses Konzept soll die digitale Welt der Zukunft prägen. Unabhängig von der Distanz soll es „taktil“ sein, also Kommunikation durch zwischenmenschliche Berührung ermöglichen. Auf diese Weise sollen nicht nur die Nutzer(innen) virtuell zusammengeschaltet werden, sondern ihre körperlichen Fähigkeiten gleich dazu. Ein Beispiel wären Ärzte, die von Wien aus Tele-Operationen in Afrika durchführen. Oder Geschäftsleute in Berlin und Tokio, die ihre Verhandlungen über das „Internet of Skills“ per Handschlag beginnen. Robotertechnologien, Benutzerschnittstellen oder wechselseitige haptische Kontrolle sollen dies quasi lebensecht vermitteln. Immersive Erfahrung Ein neues EU-Großprojekt, an dem elf Universitäten und Forschungseinrichtungen beteiligt sind, soll das „Internet of Skills“ nun vorantreiben. Mit einer Fördersumme von rund 2,7 Millionen Euro wird das interdisziplinäre TOAST-Projekt im Rahmen von „Horizon Europe“ über die „Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen“ finanziert. Auch junge Talente sollen dafür herangebildet werden: Für zehn Studierende quer durch Europa soll die Initiative zu einem speziellen Trainingsprogramm während ihres Doktorats werden. „Wir brauchen ein breites Spektrum an Technologien und Forschungsbereichen, damit das ganze System funktioniert“, berichtet Studienleiterin Qi Zhang – darunter Wissen über „Machine Learning“ und die menschliche Wahrnehmung. „Bisher ist das ‚Internet of Skills‘ vor allem über große Entfernungen nur unzureichend stabil und transparent.“ So wie wenn es beim Auto- oder Schifffahren mitunter zu einer „Reisekrankheit“ komme, könne das Eintauchen in den virtuellen Raum zu einer „Cyberkrankheit“ mit Symptomen wie Übelkeit und Kopfschmerzen führen. Die Professorin an der dänischen Aarhus-Universität will das System nun mittels Künst licher Intelligenz verbessern, um den Nutzern und Nutzerinnen eine rundum „immersive Erfahrung“ zu ermöglichen. (Martin Tauss) WISSEN, WIE DER HASE LÄUFT nur € 7,80* pro Monat Lesen Sie DIE FURCHE nicht nur gedruckt, sondern auch digital und sichern Sie sich jetzt das Digitalabo zum Osterpreis um 93,60 Euro statt 156 Euro. Wie Sie 40 % sparen: 1. Besuchen Sie furche.at/abo 2. Wählen Sie das Digitalabo 3. Geben Sie den Promocode OSTERN40 ein 4. Bestellen und 62,40 Euro im 1. Jahr sparen Holen Sie sich das volle Lesevergnügen im FURCHE-Navigator mit mehr als 175.000 Artikeln seit 1945 – wo, wie und wann Sie wollen. *jährliche Abrechnung QR-Code scannen und gleich losstarten! Code gültig bis 16. April 2023
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