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DIE FURCHE 23.02.2023

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DIE FURCHE · 8 8 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 23. Februar 2023 20. Februar 2023 US-Präsident Biden reist nach Kiew 21. Februar 2023 Putin und Biden im Rede-Duell 21. Februar 2023 Vermehrt Schulen und Spitäler zerstört 22. Februar 2023 18 Millionen Vertriebene „Die Ukraine steht. Die Demokratie steht“, hält US-Präsident Joe Biden in Kiew fest. Sein Besuch in der Ukraine wird aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich angekündigt. Allerdings wird wenige Stunden zuvor Moskau über Bidens Beistandsbesuch informiert. Wladimir Putin erklärt bei seiner Rede an die Nation, der Westen habe den Krieg losgetreten. Außerdem setzt er den New-Start-Vertrag zur atomaren Abrüstung aus. Joe Biden versichert wenige Stunden später in Warschau: „Russland wird in der Ukraine niemals siegen.“ Immer mehr Schulen und Krankenhäuser werden durch den Krieg beschädigt, berichtet der britische Geheimdienst. Weil Russland seine Artillerie wahllos einsetze, kämen immer wieder Zivilisten ums Leben. Insgesamt wurden zwischen 8000 und 16.000 Zivilisten getötet. Über 18 Millionen Ukrainer(innen) sind seit Kriegsbeginn von ihrem Wohnort vertrieben worden. Über acht Millionen Flüchtlinge sind in Europa registriert, 1,5 Millionen davon in Polen, etwa eine Millionen in Deutschland. In Österreich leben 72.000 ukrainische Vertriebene. (Philipp Axmann) Slowjansk, April 2014 Agentin des russischen Geheimdienstes FSB, die eine Kalaschnikow am Abzug in Händen hält. Von Otto Friedrich Die Frau könnte aus „Mutter Courage“ entsprungen sein – eine Mutter, die ihre Kinder schützt bei einer der gewalttätigen Demonstrationen in der ostukrainischen Stadt Slowjansk Anfang Mai 2014. Doch der erste Schein trügt, denn die vermeintliche Beschützerin hat eine Kalaschnikow in Händen, und sie hält diese so, dass klar ist: Sie weiß, wie man diese Waffe benutzt. Das Ganze taugt nicht zum ikonischen Bild von der „Mutter von Slowjansk“. Heute weiß man, dass dies russische Propaganda war, die dargestellte Person ist eine Agentin des russischen Geheimdienstes FSB, sie wurde von der Ukraine gegen eigene Gefangene ausgetauscht ... Das Bild hat der französisch-niederländische Fotoreporter Pierre Crom aufgenommen, seine Geschichte wird im Dokumentarfilm „Signs of War“ von Juri Rechinsky und Pierre Crom erzählt und kommt am 24. Februar, dem ersten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine, hierzulande in die Kinos. Mit einem One-Way-Ticket auf die Krim Am 5.12.2013 findet sich die Kritik zu Juri Rechinskys Dokumentarfilm „Sickfuckpeople“ über verlorene Kinder in Odessa, siehe furche.at. In Juri Rechinskys Dokumentarfilm „Signs of War“ erzählt Fotoreporter Pierre Crom – auch mit seinen Bildern –, wie sehr in der Ostukraine schon seit 2014 Krieg herrscht. Derjenige, der Zeugnis gibt Juri Rechinsky ist ein ukrainischer Dokumentarfilmer, der vor zehn Jahren mit seinem Filmfeature über die verlorenen Kinder von Odessa, „Sickfuckpeople“ , einem breiteren Publikum bekannt wurde. „Signs of War“, der in Österreich produziert wurde, ist ein Film, der auch deswegen wichtig ist, weil er thematisiert, dass der Krieg in der Ukraine bereits seit 2014 wütet. Der Franzose Pierre Crom, der viele Jahre in den Niederlanden als Pressefotograf tätig war, reist 2014 mit einem One- Way- Ticket auf die Krim, wo er unmittelbar vor der Annexion und dem Referendum fotografisch zu arbeiten beginnt. Rechinsky setzt Crom im Film auf eine spartanische Bank und lässt ihn seine Beobachtungen und Erfahrungen aus zwei Jahren Ukraine-Krieg erzählen. „Signs of War“ ist eigentlich ein Euphemismus, denn es wird eben schon gekämpft im Osten der Ukraine, und es sind nicht bloß „Zeichen“ oder gar „Vorzeichen“ von Krieg. Über weite Strecken illustriert Rechinsky die Erzählungen Croms mit dessen Fotos, denen er Tondokumente der Auseinandersetzungen unterlegt. Auch Film- und Videoaufnahmen Croms sind zu sehen, am stärksten kommt die erzählte Geschichte über die Fotografien – siehe das Bild von der falschen „Mutter von Slowjansk“ – zur Geltung. Crom lässt seine gesprochene und via Fotografien vermittelte Erzählung im Februar 2014 auf der Krim beginnen: Russische Soldaten (ohne Hoheitszeichen) übernehmen im Handstreich die Macht, ukrainische Garnisonen müssen Hals über Kopf weichen. Im Gegensatz zu den via russische Medien „ Ein – russischer – Pope hält Ikonen in die Kamera, Trauernde trampeln auf einer am Boden liegenden ukrainischen Flagge herum und putzen ihre Schuhe darauf ab. “ kolportierten Berichten vom Referendum über den Anschluss an Russland beobachtet Crom, wie Wahllokale für ausländische Journalisten als eine Art moderne Potjomkin’sche Dörfer aufgebaut werden. Zumindest Zweifel, ob das alles so „frei“ war, wie behauptet, werden keineswegs ausgeräumt. Dann beginnt der Krieg rund um Donezk. In der Stadt Slawjonsk übernehmen russische Milizen die Polizeistation, Passantinnen schießen Selfies mit den russischen Bewaffneten. Checkpoints werden errichtet, oft von Jugendlichen betreut, die Fahrzeuge, die durchkommen wollen, kontrollieren. Eine Menge umringt einen ukra inischen Panzer und provoziert dessen Besatzung: „Schieß auf mich – ich bin ein Terrorist“, schreien sie den auf dem Fahrzeug sitzenden Ukrainern zu. Mit den ersten Toten kommt die Propaganda auch via Begräbnis in Fahrt: Ein – russischer – Pope hält Ikonen in die Kamera, Trauernde trampeln auf einer am Boden liegenden ukra inischen Flagge herum und putzen ihre Schuhe darauf ab. Im Juli 2014 folgt das, was Pierre Crom vom Abschuss der MH17-Maschine dokumentiert: Die Trümmer der malaysischen Passagiermaschine liegen verstreut herum, im wogenden Kornfeld findet sich ein abgetrenntes Bein – eines der mitnehmendsten Bilder. Einen eigenen Teil widmet der Film dem Kampf um die Stadt Debalzewe – die erste große Panzerschlacht in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wogt um den Bahnknotenpunkt. Im Bahnhof Bilder von betrunkenen russischen Milizionären oder Soldaten. Dort fotografiert Crom auch ein Gemälde aus Stalinzeiten, auf dem die Rote Armee den Bahnhof der Stadt befreit. Auch das eine ikonische Absurdität. Auf der Rückfahrt nach Donezk liegt ein toter Soldat mit einer ukrainischen Fahne bedeckt da. Er hat keine Stiefel mehr an – gestohlen von unbekannt ... Nächste Woche im Fokus: Illustration: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Bildes von Pierre Crom) Schließlich kommen Croms gesprochene und fotografierte/gefilmte Erzählungen im Dezember 2015 in Mariupol an – die Stadt liegt heute bekanntlich in Schutt und Asche. Dort begegnet der Fotojournalist den ukrainischen Kriegsführenden – eine Lenin-Statue ist gestürzt, an ihrer Stelle ist das Denkmal eines ukrainischen Fürsten aufgerichtet worden. In dieser Stadt zeigt Crom das ukrainischen Asow-Bataillon: Auch diese Seite hat er in Bildern und Erzählungen dokumentiert. Dieser Teil endet mit der Erzählung darüber, dass Crom in der russischen Besatzungszone von Lugansk seine Akkreditierung verliert: Fortan kann er als Chronist nicht mehr von der russischen Seite der Front berichten. „Mad Max“ und Weihnachtsmann Zuvor dokumentiert er Weihnachten/ Neujahr 2015/16 von dort: Die russische Motorradgang „Night Wolves“ gestaltet ein Kinderprogramm frei nach den „Mad Max“-Filmen. Irgendwann kommt auch der Weihnachtsmann vorbei, mit einem Feuerwerk wird der Jahreswechsel begangen. Es ist frappierend, wie viel Krieg in dieser Region bereits seit Jahren herrscht. Die russische Invasion, die in den Schlussbildern von „Signs of War“ gezeigt wird, war längst zuvor im Gang. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortet Pierre Crom in der Schlusseinstellung: „Ich bin nicht ein Opfer. Ich bin derjenige, der Zeugnis gibt.“ Von dem, was dort bereits vor neun Jahren geschehen ist. Signs of War UA/A 2022. Regie: Juri Rechinsky, Pierre Crom Filmdelights. 85 Min. DIE FURCHE EMPFIEHLT Gebet, Fasten, Solidarität ZUM JAHRESTAG Österreichs katholische Bischöfe haben den 24. Februar 2023 zu einem „Tag des Fastens, Gebets und der Solidarität mit der Ukraine“ erklärt. Bundesweit finden zahlreiche (ökumenische) Gottesdienste, Friedensgebete und eine europaweite „Eucharistische Kette“ statt. Tag des Gebets, Fastens und der Solidarität Freitag, 24. Februar 2023 Infos: www.bischofskonferenz.at Angesichts der Teuerung haben auch die Universitäten mit „herausfordernden Zeiten“ (Sabine Seidler) zu kämpfen. Über Hochschulpolitik, europä ische Qualitätsstandards sowie spannende Forschung mit Bürgerbeteiligung: eine Bestandsaufnahme und Visionssuche zum Semesterstart.

DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Religion/Philosophie 9 Auch rund um die Pandemie gaben Wissenschafter haarsträubenden Unsinn von sich. Fürs gewöhnliche Volk gibt es indessen eine konsumorientierte Pop-Spiritualität, die die eigene Wellness erhöhen soll. Glaube, Aberglaube und die neue Von Georg Cavallar Lesen Sie bitte die folgenden Aussagen und beurteilen Sie, ob es sich um Wissenschaft, Pseudowissenschaft oder Metaphysik, um Aberglauben oder um Glauben handelt. 1. Wenn ich Bananen esse, bekomme ich kein Covid. 2. Ich weiß nicht, was nach dem Tod kommt, aber für mich ist nach dem Sterben alles aus. Ich kann das aber nicht beweisen. 3. Relativ früh war klar, dass Sars-CoV-2 kein Killervirus war, sondern sich irgendwo zwischen einer leichten und einer schweren Grippewelle würde einordnen lassen. 4. Zeit ist überhaupt nicht kostbar, denn sie ist eine Illusion. Was dir so kostbar erscheint, ist nicht die Zeit, sondern der einzige Punkt, der außerhalb der Zeit liegt: das Jetzt. […] Nichts existiert außerhalb der Gegenwart. Die erste Aussage ist ein Beispiel für Aberglauben. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die belegt hätte, dass der Konsum von Bananen verhindert, Covid-19 zu bekommen. Der Zusammenhang ist frei erfunden, ein Hirngespinst. Nummer zwei ist ein Beispiel für persönlichen Glauben: Die Grenze zwischen erfahrungsbezogenem Wissen einerseits und Glauben andererseits, der den Bereich möglicher Erfahrung überschreitet, wird anerkannt. Auf Beweise im Bereich der Metaphysik und des Glaubens wird verzichtet. Das dritte Statement steht für Pseudowissenschaft. Der Vergleich der Covid-Pandemie mit einer Grippewelle, der Vergleich des Sars-CoV-2-Virus mit einem Grippevirus ist schlicht falsch und eine Verharmlosung. Das Zitat stammt aus dem Buch „Corona Fehlalarm?“ (2020) der Biochemikerin Karina Reiss und des Mikrobiologen Sucharit Bhakdi. Untertitel: „Zahlen, Daten und Hintergründe“. Die meisten Thesen Bhakdis wurden von Expertinnen und Experten widerlegt, und er erhielt den Negativpreis „Goldenes Brett vorm Kopf“ für „den größten unwissenschaftlichen Unsinn des Jahres“ 2020. Die vierte Aussage steht für eine konsumorientierte Pop-Spiritualität. Das Zitat ist aus dem Bestseller von Eckart Tolle „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ (15. Aufl., 2020). Der Begriff „Zeit“ wird nicht definiert. Es wird auch nicht begründet, warum sie eine Illusion sei. Das Zitat ist selbstwidersprüchlich: Zeit gibt es angeblich nicht, aber dann gibt es doch einen Punkt „außerhalb der Zeit“. Es stellt sich außerdem die Frage, ob das „Jetzt“ nicht auch einen Teil des zeitlichen Kontinuums bildet. Die Formulierungen sind zumindest missverständlich. Pseudowissenschaft … Meiner Meinung nach haben sich zwei Formen von neuer Metaphysik in den letzten Jahren herausgebildet. Die erste Form ist die Pseudowissenschaft. Sie hat den Bezug zur Empirie bzw. Erfahrung verloren, sie ist nicht mehr kritisch und reflexiv. Sie kann andere, begründbare Positionen nicht mehr als echte Alternativen sehen. Die Autoren profitieren von der Reputation, die sie sich in ihrem wissenschaftlichen Forschungsgebiet erworben haben. Nun toben sie sich bei den „großen Fragen“ und den „Geheimnissen des Universums“ aus . Sie bieten oft ein Konglomerat von wissenschaftlichen Fakten und spekulativen Behauptungen, die kunstvoll in eine Metaphysik verwoben werden. Ein interessanter Fall ist der israelische Historiker Yuval Harari. Sein Bestseller „Homo Deus“ (2015) wurde auf seine Wissenschaftlichkeit untersucht. Forscherinnen wie Darshana Narayanan oder Sarah Spiekermann haben zahlreiche Ungereimtheiten und ungesicherte Behauptungen festgestellt. Spiekermann resümiert: „Bald wird Harari nackt dastehen.“ Sein Menschenbild ist reduktionistisch, seine Geschichtsphilosophie deterministisch. Seine transhumanistischen Thesen sind Metaphysik, Harari tut aber so, als ob er sich im Rahmen der Wissenschaft bewegte (vgl. „Harari ist Science Fiction“ von Martin Tauss in der FURCHE vom 17. November 2022). Wir können von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern erwarten, dass sie auch dann evidenzbasiert und kritisch argumentieren, wenn sie ihr eigenes Fach verlassen. … und eine neue Wellness-Metaphysik Für das gewöhnliche Volk gibt es indessen eine konsumorientierte Pop-Spiritualität, die die eigene Wellness erhöhen soll. Bücher oder Beiträge in den sozialen Medien bieten Gedanken, die keinen Inhalt haben, aber so tun, als böten sie tiefe Weisheit und Erleuchtung. Ein Beispiel ist der spirituelle Autor Eckhart Tolle mit seinem Bestseller „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ (1997), bisher in 33 Sprachen übersetzt. Metaphysik Illustration: Raienr Messerklinger Es gibt ein paar Kennzeichen dieser neuen Metaphysik. Erstens eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber Wissenschaft, fallweise auch ein völliges Desinteresse. Das überschneidet sich mit Einstellungen eines Teils der Bevölkerung (vgl. „Das Misstrauen“ von Martin Tauss in der FURCHE vom 12. Jänner). Damit geht oft – zweitens – eine antirationalistische Haltung einher. Motto: Dein Verstand führt in die Irre, höre auf dein Gefühl und deine „persönlichen Erfahrungen“. Dann kannst du ein tieferes, ein „authentisches“ Wissen erwerben. Die Texte sind – drittens – in der Regel leicht lesbar, erfordern wenig geistige Anstrengung, keine Bildung, kein Fachwissen, schon gar nicht eine philosophische Grundbildung. Der Psychoanalytiker Carlo Strenger sprach von einer „Pop-Spiritualität“. Symptomatisch ist der Umgang mit buddhistischen Traditionen. Aus einer spirituellen Form der Ethik, der Religiosität und Meditation wurde häufig eine pseudowissenschaftliche Technik der Selbstoptimierung, vielleicht unter Einsatz einer App. Evan Thompson nennt das Buddhist modernism („Why I Am Not a Buddhist“, 2020). Der englische Schriftsteller und Journalist Gilbert Keith Chesterton meinte einmal: „Wenn die Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht etwa Bereits am 28.10.1999 schrieb Michael Krassnitzer zum Thema „Säkularer Mystizismus“, nachzulesen auf furche.at. „ Die Moderne ist durch Individualisierung und Pluralisierung, nicht unbedingt durch Säkularisierung gekennzeichnet. “ an nichts mehr, sondern an alles Mögliche.“ Die Moderne ist durch Individualisierung und Pluralisierung, nicht unbedingt durch Säkularisierung gekennzeichnet. Die Glaubens inhalte haben sich verändert, aber wahrscheinlich weiterhin eine ähnliche Funktion: Ein mögliches Sinnvakuum soll gefüllt werden. Nichts gegen Metaphysik. Aber bitte modernitätsfähig, kritisch und selbstreflexiv. Der Autor ist AHS-Lehrer, Buch autor, Dozent für Neuere Geschichte an der Uni Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die europäische Aufklärung. Siehe zum Thema auch Seiten 22–23.

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