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DIE FURCHE 23.02.2023

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DIE FURCHE · 8 6 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 23. Februar 2023 18. Mai 2022 Schweden und Finnland wollen in NATO 20. Mai 2022 Russland kontrolliert Mariupol 27. Juli 2022 Getreideabkommen wird unterzeichnet 31. August 2022 IAEA-Delegation in Saporischschja Nach Jahrzehnten der Bündnisfreiheit kommt es in der Verteidigungspolitik von Schweden und Finnland ebenfalls zu einer Zeitenwende. Beide Staaten suchen um einen NATO-Beitritt an, die meisten NATO-Staaten reagieren positiv, die Türkei blockiert die Beitritte jedoch. Seit Kriegsbeginn toben in Mariupol, einer Stadt in der Oblast Donezk, heftige Kämpfe, Bombardements zerstörten große Teile des Gebietes. Die letzten ukrainischen Verteidiger verstecken sich im Asow-Stahlwerk, über 2000 Kämpfer ergeben sich schließlich. Seit dem russischen Überfall kommt es zu Ernährungsengpässen, da die Ukraine eines der Hauptexportländer für Getreide ist. Mit Hilfe der Türkei und der Vereinten Nationen einigen sich die Kriegsparteien auf ein Abkommen. Am 1. August läuft das erste Schiff aus. Zwischen den Kriegsfronten steht Europas größtes Atomkraftwerk. Immer wieder finden Kämpfe auf dem Gelände statt. Einer Delegation der Internationalen Atomenergie-Organisation wird nun gestattet, das AKW vor Ort zu untersuchen, um Schäden zu beheben. Das Kreml-Epos mitsamt seiner verklärten historischen Heldenerzählungen gilt es nach Ansicht des Autors von „Kann die Ukraine Russland befreien?“ zu über winden, auch oder gerade mithilfe der Literatur. jenem russischen Schriftsteller, der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schrieb und „dessen gesamtes Werk ein Protestschrei gegen den Wahnsinn der russischen Potentaten“ sei, ein „Aufruf, sich um die Tollheit der Menschen zu kümmern und daran zu arbeiten, ‚die Lebenden zu reparieren‘“, so Markowicz. Tschechows letztes Stück vor seinem frühen Tod, „Der Kirschgarten“, habe in der Nähe von Charkiw in der heutigen Ost-Ukraine gespielt, in der Nähe des Ortes der ersten Kampfhandlungen vor einem Jahr. Für Tschechow habe der Kirschgarten das Bild Russlands als solches dargestellt – „großartig, doch verwahrlost und dem Untergang geweiht“. Auf Tschechow wird Markowicz nochmals zurückkommen, denn für ihn ist das Denken dieses Autors ein zentraler Bestandteil der erhofften Befreiung Russlands. „ [...] Sie nehmen die jungen Mädchen, die kleinen Mädchen, richten sie hin und bleiben noch dort, neben den Leichen, eine Woche oder länger wohnen. “ André Markowicz Illustration: Rainer Messerklinger „Könnte die Ukraine Russland befreien?“ – es ist eine provokante Frage, die der Schriftsteller André Markowicz in einem Essay aufwirft. Eine Einladung zum Perspektivenwechsel. Das zerrüttete Glas Von Jan Opielka Die Ukraine, mit ihrer schwierigen und blutigen Geschichte, ihren über Jahrhunderte geformten und erzwungenen Verbindungen zu Russland und auch zu Europa, ihrer fragilen Multikulturalität und Geografie – diese Ukraine erforderte eine politische Handhabung, als wäre sie aus Glas. Russland indes drohte vor einem Jahr mit dem Hammer, um das eigene Reich weiter zu schmieden. Und schlug schließlich zu – auch weil der Westen die Ukraine nicht als jenes zerbrechliche Glasgebilde sah und behandelte, das sie ist. Diese Analogie drängt sich nicht unweigerlich auf, wenn man den Essay des in Frankreich lebenden Schriftstellers André Markowicz liest. Doch es ist eine Interpretationsmöglichkeit, zu welcher die Lektüre inspirieren kann. Zwar sagt Markowicz, er sei kein Russland-Experte, kein Historiker oder Politikwissenschafter. Dennoch gewährt er einen interessanten Perspektivenwechsel und eine Perspektivenerweiterung, indem er die Frage zu beantworten versucht: Könnte eine Befreiung der Ukraine eine Strahlkraft entfalten, sodass ihre Schallwellen bis an die Moskwa reichen? „Wenn der von der ukrainischen Katastrophe ausgelöste Elektroschock stark genug wäre, dass die Russen „ Darf man das, kann man das – politische Ereignisse von heute durch den literarischen Filter vergangener Werke betrachten? “ wieder zu Bewusstsein kommen, dass er die Geschichte Russlands verändert?“ Die Frage, dies wird schnell klar, ist eine hoffende. Denn Markowiczs Bezüge zum Riesenland an der Wolga sind tief. Als Kind verbrachte der 1960 in Prag geborene Sohn eines französischen Kommunisten einige Jahre in der UdSSR, aus der seine Mutter stammt. Er kehrte später mit seinen Eltern zu längeren Aufenthalten immer wieder dorthin zurück. Und: Er arbeitet mitunter als Übersetzer literarischer Werke aus dem Russischen, hat einige der wichtigsten Werke Puschkins, Tschechows, Dostojewskis und Bulgakows ins Französische übertragen. Es ist dieses Biotop – Prosa, Dichtung, die russische Sprache und ihre Bilderwelten –, welches Markowicz als Zugangstor zu möglichen Antworten wählt. Um sich dem Thema zu nähern, wird er zunächst bei Anton Tschechow fündig, Doch für das Verstehen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und des Vorgehens dort ist laut Markowicz die Symbolik von Hammer und Glas zentraler. Da ist Puschkins in Russland wohlbekannter Vers: „So zerschmettert der schwere Hammer / das Glas, doch schmiedet er den Stahl“, mit dem dieser im erzählenden Gedicht „Poltawa“ die Militärmacht Peters des Großen im Kampf gegen den ukrainischen Kosakenführer Masepa stilisiert. Von hier schlägt Markowicz den Bogen zum Universalgelehrten und Dichter Michail Lomonossow. Er hatte lange zuvor in seiner „Epistel über das Glas“ dieses zum Kostbarsten erklärt, das es gebe. Denn Glas sei vom Menschen geschaffen, komme nicht in der Natur vor. „Diese Menschlichkeit also ist es, die der ‚schwere Hammer‘ zerstört, wenn er das Russische Reich schmiedet“, schreibt Markowicz. Darf man das, kann man das – politische Ereignisse von heute durch den literarischen Filter vergangener Werke betrachten? Ja und nein. Literarisches ist stets vieldeutig, nicht (nur) Spiegel der Realität. Markowicz zieht indes eine beinahe direkte Linie von den literarischen Schöpfungen russischer Literaten, die die Brutalität des imperialen Russlands verarbeiteten, zu den heutigen realen Gräueltaten russischer Soldaten in der Ukraine. Das ist dramaturgisch überzeugend, aber mitunter allzu sehr vereinfachend. „Sie töten, wie es ihnen gefällt. Sie montieren alle Türen eines Gebäudes ab, sämtliche Türen, außen und innen, sie töten die Menschen oder werfen sie hinaus, oder aber sie nehmen die Frauen, die jungen Mädchen, die kleinen Mädchen, vergewaltigen sie, richten sie hin und bleiben noch dort, neben den Leichen, eine Woche oder länger wohnen.“ Das war und ist in zu vielen tragischen Fällen der Fall – doch dieser Zugang suggeriert, als handelten die russischen Soldaten per se und alle derart. Man merkt allenthalben – da schreibt jemand, der ein ambivalentes Verhältnis zu Russland, einen Innen- und zugleich einen Außenblick hat. Markowicz ist in Russland heimisch und fremd zugleich, und er

DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 7 12. September 2022 Vermehrt Angriffe auf zivile Infrastruktur 21. September 2022 Putin kündigt Teilmobilmachung an 12. November 2022 Cherson wieder in ukrainischer Hand 25. Jänner 2023 Schwere Kampfpanzer aus dem Westen Zu Beginn der Heizsaison fällt in weiten Teilen der Ostukraine der Strom aus. Der Gouverneur der Region Charkiw, Oleh Syniehubov, geht davon aus, dass Angriffe auf die zivile Infrastruktur für Unterbrechungen der Stromund Wasserversorgung verantwortlich sind. Der Kreml will 300.000 Reservisten einziehen. Wenige Stunden nach der Ankündigung sind Tickets für Flüge aus Russland ausverkauft, vor Grenzübergängen bilden sich Schlangen. Rund 400.000 Russen werden bis Anfang November desertiert sein. „Wir erobern Cherson zurück“, vermeldet Präsident Selenskyj. Ukrainische Truppen sind bereits in der Stadt. Zuvor zieht die russische Armee mehr als 30.000 Soldaten aus Cherson zurück. Russland verliert damit die einzige eroberte Regionalhauptstadt. Deutschland entscheidet, 14 Leopard-2-Panzer an die Ukraine zu liefern. Ebenfalls 14 solcher Panzer schickt Polen. Die USA wollen bis zu 50 Abrams-Panzer an die Ukraine abgeben. Großbritannien, Frankreich und andere stellen ebenfalls Lieferungen in Aussicht. selbst scheint im Spiegel seiner Zeilen beides: heimisch und fremd in Russland zu sein. Wo diese Dichotomie ungefiltert und impulsiv durchscheint, ist der Text stark – etwa wenn der Autor sich über Boris Jelzins respektlose Rede anlässlich Puschkins 200. Geburtstag im Jahr 1999 ärgert, die bei Millionen von Russinnen und Russen einen weiteren Tiefpunkt des Schamgefühls ausgelöst habe. Realität kontra Wunschvorstellung Um seine titelgebende Frage zu beantworten, greift Markowicz aber nochmals auf zwei andere große Literaten zurück; auf Fjodor Dostojewski „mit seinen messianischen Vorstellungen vom Schicksal Russlands“. Und auf Anton Tschechow, der gesagt habe, Schriftsteller sollen nicht schreiben, wie die Menschen leben sollen, sondern wie sie leben. Realität kontra Wunschvorstellung also. „Die Russen müssen in diesem Krieg, wie in allem anderen auch, den Übergang von Dostojewski zu Tschechow vollziehen: die konkrete, menschliche, alltägliche Wirklichkeit dessen sehen, was geschieht. Die Lüge des Epos von sich weisen. Ja, sich endlich selbst so sehen, wie sie sind. Dann erst, und nur dann, wird die Ukraine – um den Preis welcher Katastrophe und welcher Tragödien! – Russland befreit haben.“ Eine nachvollziehbare Annahme, womöglich aber eine, die naiv anmutet. Denn tief eingebrannte (historisch-epische) Lügen von sich zu weisen – das ist ein schwieriger, konfliktreicher Prozess, begleitet von Verleugnung. Die regelmäßigen Verweigerer solcher Prozesse sind vor allem – aber nicht nur – Rechte, Nationalisten, Rechtsradikale. Und nationale Epen entstehen nicht ohne Kontext, nicht in Russland und auch nicht in anderen Ländern. Die Darstellung Markowiczs blendet diese Kontexte aus, etwa wenn er von der nach wie vor wirkmächtigen, aus der Zarenzeit des 19. Jahrhunderts stammenden Uwarow-Triade schreibt: Orthodoxie, Autoritarismus, nationales Prinzip. Dimensionen dieses schrecklichen Krieges ausschließlich auf Russland und seine Herrschaftsgeschichte zu konzentrieren und die Politiken anderer Staaten kaum zu erwähnen, wird der Komplexität des Themas weder politisch noch historisch gerecht. Kulturgeschichtlich indes macht der Schriftstel- ler Markowicz mit seinem individuellen Zugang zum Krieg über den Pfad der Literatur neugierig darauf, Russland trotz allem jenseits eines Schwarz-Weiß-Bildes zu denken, wichtige Denker(innen) nicht zu bannen, sondern (wieder) zu entdecken: den Universalgelehrten und Sprachreformer Michail Lomonossow etwa, oder Anna Achmatowa, die bedeutendste russische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts. Die tief eingeprägten Spuren, die sie in ihrer Heimat setzten, bleiben auch nach einem Jahr blutigen Krieges ein Hoffnungsschimmer – wenn nicht für die Befreiung, so doch zumindest als Gegengift vor dem Abrutschen Russlands in einen noch brutaleren und aggressiveren Autoritarismus. Könnte die Ukraine Russland befreien? Von André Markowicz Passagen 2022 64 S., kart., € 10,– PODCAST Krieg und Frieden Im jüngsten Podcast der FURCHE-Reihe „Krieg und Frieden“ spricht der Ukraine-Experte und Journalist Stefan Schocher mit FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic über Szenarien, wie der Krieg enden könnte, unbemannte Flugkörper über Kiew und den möglichen Putschversuch in Moldau. „Ein russisches Besatzungsregime hätte einen langen Guerillakrieg zur Folge“, sagt Schocher. Er spricht außerdem über seine Recherchereisen in der Ukraine 2022 und über den Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer mitten im Krieg. In unserer Podcastreihe fragen wir außerdem: Kann Das Dossier finden Sie auf furche.at oder hier: der Mensch mehr als Konflikt und Gewalt? Wir besprechen, wie wichtig Empathie in Krisensituationen ist, wie ein überzeugter Pazifist zum Soldaten wurde, wie die Menschen in Moldau im Vorhof des Krieges leben und wie sich Literaten und Literatinnen dem Thema widmen. Wir freuen uns, wenn Sie einschalten! (tom) Sie haben Fragen an das Bundeskanzleramt? service@bka.gv.at 0800 222 666 Mo bis Fr: 8 –16 Uhr (gebührenfrei aus ganz Österreich) +43 1 531 15 -204274 Bundeskanzleramt Ballhausplatz 1 1010 Wien ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich auf Ihre Fragen und Anliegen! bundeskanzleramt.gv.at

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