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DIE FURCHE 23.02.2023

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DIE FURCHE · 8 4 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 23. Februar 2023 27. Februar 2022 „Zeitenwende“-Rede in Deutschland 2. März 2022 UNO-Vollversammlung verurteilt den Krieg 15. März 2022 Erste Verbündete reisen nach Kiew 2. April 2022 Massaker von Butscha „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Mit diesen Worten im Bundestag leitet Olaf Scholz einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik ein. In der Generalversammlung verurteilen 78 Prozent der Mitglieder den russischen Angriffskrieg und fordern Russland auf, diesen sofort zu beenden. 35 Länder, darunter Indien, China, Iran und Irak, enthalten sich. Syrien, Belarus und Nordkorea lehnen ab. Mateusz Morawiecki, Petr Fiala und Janez Janša treffen Selenskyj in Kiew. Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien sind die ersten Politiker, die die Ukraine seit Kriegsausbruch besuchen. Auf sie folgt EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. In Social Media kursieren erste Videos von gefesselten und getöteten Zivilisten in Butscha. Tags zuvor eroberte das ukrainische Militär die Stadt zurück, hunderte Leichen werden gefunden. Bei einem Besuch in Butscha spricht Selenskyj von „Völkermord“. FORTSETZUNG VON SEITE 3 „ Fakt ist: Europa hat in diesem Krieg keine Führungsrolle übernommen und keine Ambitionen gezeigt, das zu tun. Das ist auf Dauer eine sicherheitspolitische Gefahr. “ Kriegsverbrechen zu befreien. Darauf folgte eine Phase der Stagnation, die aber gekoppelt war mit Vorbereitungen im Hinblick auf die Frühjahrsoffensive. Der Westen verständigte sich schließlich darauf, die Ukraine so auszustatten, dass sie die Möglichkeit hat, weitere Gebiete zu befreien, um den Krieg zu einem Ende zu bringen. DIE FURCHE: Je mehr Gebiete befreit sind, desto eher endet der Krieg? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt klingt das einigermaßen abstrakt. Fix: Die russische Seite setzt auf das waiting game. Das wiederum geht auf die Annahme zurück, dass die westliche Unterstützung nachlassen wird und Russland mittelfristig Oberhand gewinnen wird – auch aufgrund weiterer Rekrutierungen und was das Material angeht. Bisher hat sich die russische Hoffnung jedoch nicht bestätigt, da die Ukraine umfassend und qualitativ besser vom Westen ausgestattet wird. So wird sie ob der neuen Ausstattung weiteres Territorium befreien und damit die russische Seite in eine geschwächte Position bringen. Entweder sieht sich dann Russland selbst gezwungen zu verhandeln, oder aber man befindet sich wenigstens auf Höhe der Frontlinien vom letzten Jahr. Die Kampfhandlungen würden dann zwar weitergeführt werden, aber auf einer niedrigeren Schwelle. Somit könnte die Ukra ine die russische Aggression zumindest eindämmen. Jedenfalls wird es sich um keine Verhandlung handeln – also mit einem klaren Ende –, die man aus der Geschichte zum Teil gewohnt ist. „ Das Szenario eines Nuklearwaffeneinsatzes von russischer Seite ist denkbar. Und zwar räumlich begrenzt auf die Ukraine, um politischen Druck auszuüben, sie zum Aufgeben zu zwingen. “ DIE FURCHE: Einige Experten weisen darauf hin, dass Russland schier unbegrenzten Zugang zu Soldaten habe, da es bevölkerungsmäßig dreimal so groß ist wie die Ukraine. Deshalb sei das Thema Bodentruppen aus dem Westen nur noch eine Frage der Zeit. Wie stehen Sie dazu? Fix: Die Rechnung – die Bevölkerung der Ukraine gegen jene Russlands aufzurechnen – geht meiner Ansicht nach nicht auf. Auf russischer Seite stellt sich die Frage, wie lange das innenpolitisch durchhaltbar wäre. Eine weitere Rekrutierungswelle wäre ein innenpolitisches Risiko. Darüber hinaus ist Quantität nicht immer ausschlaggebend. Russland kann zwar in der Tat Rekruten als eine Art Kanonenfutter in diesen Krieg werfen, aber das bringt keine entscheidenden Veränderungen. Die Soldaten sind zu schlecht ausgebildet und ausgestattet und haben keine Motivation. Im Gegensatz zur ukrainischen Armee. Bodentruppen als logische Schlussfolgerung sehe ich nicht. Es gibt keine Linie, die von Kampfpanzern zu Kampfjets zu Bodentruppen führt. NATO-Bodentruppen würden bedeuten, dass es einen Krieg zwischen NATO, den USA und Russland gäbe. Das ist eine völlig andere Dimension, die in keiner Hauptstadt – weder in Mittel- und Osteuropa und erst recht nicht in den USA – in irgendeiner Weise eine Option ist. Das heißt: Wenn der Krieg so weitergeht, wie er weitergeht, und wir keine extreme Eskalation von russischer Seite sehen, zum Beispiel einen Nuklearwaffeneinsatz oder eine Ausweitung des russischen Krieges auf NATO-Territorium, halte ich den Einsatz von Bodentruppen für ausgeschlossen. DIE FURCHE: Sie sagen, falls es zu keinem Nuklearschlag kommt … Also wann genau ist die Grenze zu NATO-Bodentruppen überschritten? Fix: Genau dann, wenn NATO-Territorium getroffen würde. Dann wäre auch die NATO in diesen Krieg involviert. Das forcieren weder die Russen noch die NATO. Das Szenario eines Nuklearwaffeneinsatzes von russischer Seite ist potenziell denkbar. Und zwar räumlich begrenzt auf die Ukraine, um politischen Druck auszuüben, sie zum Aufgeben zu zwingen. Nach Stationen an der Körber-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung forscht die gebürtige Deutsche Liana Fix in den USA zu integrativen Strategien in der internationalen Politik. Es ist aber unwahrscheinlich, dass das erfolgreich wäre. Das würde die Ukraine noch mehr bestärken, zu einem internationalen Aufschrei führen, der dann wiederum bedingen würde, dass die NATO die Ukraine bei Angriffen auf russische Militärziele in der Ukraine unterstützt. Das ist aber immer noch etwas anderes als NATO-Bodentruppen in der Ukraine oder von der NATO unterstützte Kampfhandlungen auf russischem Territorium. Foto: Privat DIE FURCHE: Dass eine Lösung mit Putin schwer stattfinden kann, ist unter Militärs Konsens. Während Ethiker und Moraltheologen immer schon über den Tyrannenmord diskutiert haben, ist eine „Ausschaltung“ Putins aktuell für Geostrategen offenbar keine Option. Warum eigentlich? Fix: Das Ziel der Verbündeten ist, dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Punkt. Es gibt keine Agenda, kein Interesse, die oder das auf einen regime change in Russland hinausläuft. Das muss in Russland selbst entschieden werden. Es geht um die Befreiung der Ukra ine und nicht um den russischen Herrscher selbst. Auch hier spielt das Eskalationspotenzial eine Rolle, dass das russische Regime durch Nuklearwaffen geschützt wird. DIE FURCHE: Sie haben das innenpolitische Risiko angesprochen, das selbst für einen Diktator wie Putin gilt. Man fragt sich, warum Mütter, die ihre Söhne an der Front verloren haben, oder Frauen, die um ihre Männer trauern, nicht lauter aufbegehren. Man ging doch fest davon aus, dass dies vor allem in der Mittelschicht passiert. Ist es nur die Angst vor Repressalien? Fix: Tatsächlich herrscht in vielen Teilen der russischen Gesellschaft gegenüber die­ „ Praktiken, die wir jetzt sehen – Waffengewalt hinter den Frontlinien, die Nichtachtung des Wertes des Lebens der eigenen Leute, zurückgelassene Verwundete –, sind ein Erbe aus den 1930er Jahren. “ sem Krieg Apathie; er wird ausgeblendet, gerechtfertigt auf Basis der Propaganda. Gleichzeitig sind die wenigen Proteste, die es gab, so brutal unterdrückt worden, dass es extrem schwierig geworden ist, Protest zu üben. Dennoch haben viele damit gerechnet, dass die russische Gesellschaft diesen Krieg, auch aufgrund der Nähe zur Ukraine, ablehnen wird. Zwar gibt es in der Mehrheit keine Bereitschaft, selbst zu kämpfen, aber es gibt dennoch eine breite Unterstützung für diesen Krieg. Aus vielen Stellen Russlands dröhnt ein lautes Schweigen. DIE FURCHE: Die Meldungen, wie rücksichtslos Russland mit den eigenen Soldaten umgeht, lassen einen regelmäßig erschaudern. Welche Grundsätze herrschen dort? Fix: Das geht zurück auf die dunklen Kapitel der sowjetischen Geschichte; insbesondere jene der 1930er Jahre, aber auch auf den Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg. Viele der Praktiken, die wir jetzt sehen, – Waffengewalt hinter den Linien, die Soldaten zwingen soll, nach vorn zu gehen, die Nichtachtung des Wertes des Lebens der eigenen Leute, zurückgelassene Verwundete oder Leichen – sind ein Erbe dieser Zeit. Der Große Vaterländische Krieg, so wird er in Russland genannt, wird kollektiv verherrlicht. Eine Kontinuität, die auch Putin befeuerte, der die kritische Auseinandersetzung mit dieser Zeit zunehmend unterdrückte und stattdessen einen Identifikationspunkt schuf. DIE FURCHE: Noch einmal zurück zu einem möglichen Ende des Krieges. Der Schweizer Sicherheitsexperte Albert A. Stahel erklärte im Interview mit der FURCHE (Oktober 2022), dass das Narrativ, nur die Ukraine solle entscheiden, wann die Zeit reif sei für Verhandlungen, ein Irrtum sei und in die Irre führe. Einerseits weil der Staat nur mittels westlicher Waffen weiterexistierte, andererseits weil Wladimir Putin ohnehin nur mit den USA verhandeln würde. Fix: In der Aussage, die Ukraine müsse entscheiden, geht es darum, ein wertepolitisches Signal zu senden – es stimmt, dass die Ukraine ohne westliche Unterstützung ihren Widerstand nicht aufrechterhalten kann. Aber es gilt, klarzustellen, dass die Ukraine ein eigener Akteur ist. Andernfalls würde man Putins Argumentation – „Es gibt die Ukraine nicht als Nation, sie ist eine Marionette des Westens“ – unterstützen. Ohnehin ist aus meiner Sicht die Herausforderung bei den Verhandlungen weniger, in welchem Format sie geführt werden, sondern dass Russland keinerlei Verhandlungsbereitschaft zeigt. Putin fordert weiterhin eine Kapitulation der Ukraine. Und falls Russland tatsächlich jetzt einer Verhandlung zustimmen würde, müsste man davon ausgehen, dass es die Zeit des Waffenstillstands nutzen würde, um sich zu sammeln, und in ein, zwei Jahren dort anfinge, wo es 2022 angefangen hat. Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt würden diesen Krieg also eher verlängern. DIE FURCHE: Nach Angaben des Pentagons haben die USA seit der Invasion 2022 militärische Hilfe im Umfang von fast 30 Milliarden Dollar bereitgestellt. Was ist hinsichtlich dieser Unterstützung seitens der Biden-Regierung zu erwarten, wenn der kommende Präsidentschaftswahlkampf in vollem Gange ist? Fix: Gerade im Repräsentantenhaus, in dem jetzt die Republikaner die Mehrheit besitzen, gibt es einige Stimmen, die der Ukraine weniger Support zukommen lassen würden. Auch wird die Kritik, die Europäer seien zu passiv, zunehmend lauter. Fakt ist: Europa hat in diesem Krieg keine Führungsrolle übernommen und auch keine Ambitionen gezeigt, das zu tun. Aber letzten Endes ist es ein Krieg, der in Europa stattfindet und der massive Auswirkungen und Konsequenzen für die europäische Sicherheit hat. Dass sich gerade das Duo Frankreich/ Deutschland in dieser Angelegenheit so zurückhält, ist eine Gefahr. Auch weil die osteuropäischen Länder hinterfragen, ob sie sich im Falle des Falles auf Europa verlassen könnten. DIE FURCHE: Was wäre eigentlich gewesen, wenn am 24. Februar 2022 der US-Präsident nicht Joe Biden, sondern Donald Trump geheißen hätte? Fix: Die Ukraine hätte vielleicht geschafft, aus eigenen Kräften die Hauptstadt Kiew zu verteidigen. Aber den Beistand, den wir jetzt sehen, hätte es nie gegeben. Überhaupt wäre ganz Europa sicherheitspolitisch in einer sehr prekären Situation. Donald Trump hatte in seiner Amtszeit ziemlich deutlich gemacht, wie wenig ihm die Sicherheit Europas am Herzen liegt.

DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 5 11. April 2022 Nehammer bei Putin und Selenskyj 14. April 2022 Russischer Kreuzer „Moskwa“ versenkt 3. Mai 2022 Patriarch Kyrill verteidigt den Krieg 3. Mai 2022 Papst zu Kyrill: „Messdiener Putins“ Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer reist als erster EU-Regierungschef seit Kriegsbeginn nach Russland. Sein Ziel: Er will Wladimir Putin mit seinen Verbrechen konfrontieren. Wenige Tage zuvor ist Nehammer bei Selenskyj in Kiew gewesen. Das russische Verteidigungsministerium bestätigt den Untergang des Kreuzers „Moskwa“. Russischen Angaben zufolge ist das Schiff durch einen Brand stark beschädigt worden. Die Ukraine gibt an, am Tag zuvor zwei Treffer mit Neptun-Raketen gelandet zu haben. Der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau, Kyrill I., ein enger Vertrauter Putins und Apologet des Krieges, entsetzt mit dem Satz: „Russland hat nie jemanden angegriffen, […] es hat nur seine Grenzen verteidigt.“ (Mehr zu Kyrill in der nächsten FURCHE.) „Der Patriarch kann sich nicht einfach zum Messdiener Putins machen“, nimmt Papst Franziskus Kyrill I. in die Pflicht. Schon bei der Ostermesse zwei Wochen zuvor nannte der Papst den Krieg gegen die Ukraine „grausam und sinnlos“. Russen und Ukrainer versuchen sich gegenseitig über GPS-Tracking zu orten. Ein eingehender Anruf oder ein gesendeter Videoclip kann einer Truppeneinheit das Leben kosten. Über digitale Kriegsführung – und warum Elon Musks „Starlink“ eine Schlacht entscheiden kann. Wenn der Feind SMS schreibt Von Adrian Lobe Neujahr, 0.01 Uhr: In einem Militärcamp der russischen Armee in der besetzten Region Donezk schlagen vier Raketen ein; 63 Rekruten kommen bei dem ukrainischen Angriff ums Leben, von der Militärbaracke bleiben nur Trümmer übrig. Das militärische Ziel war wohlgewählt: Die ukrainische Luftwaffe konnte die russischen Soldaten über deren Handys orten, die in einem lokalen Mobilfunkmast eingeloggt waren. Bereits im vergangenen Jahr war ein hochrangiger russischer General getötet worden, nachdem er einen Anruf erhalten hatte, der seinen Standort verriet. (Beide Vorfälle wurden vom russischen Militär bestätigt.) Obwohl der Krieg in der Ukraine mit militärischen Mitteln des 20. Jahrhunderts ausgetragen wird, spielen Handydaten in dem Konflikt eine maßgebliche Rolle. Beide Seiten versuchen, mithilfe von GPS-Tracking gegnerische Truppen zu orten. Das Tracking ist von großer militärstrategischer Bedeutung, etwa wenn es darum geht, eine Offensive oder ein Rückzugsgefecht vorzubereiten. Und es ist ein wesentlicher Grund, warum bei den russischen Angriffen auf ukrainische Infrastrukturziele das Telefonnetz bislang weitgehend verschont blieb. Koordinaten als Falle Das ukrainische Telefonnetz stammt in weiten Teilen noch aus Sowjetzeiten, die lokalen Netzbetreiber haben das Überwachungssystem SORM – eine Art Hintertür, mit der der russische Geheimdienst Telefon- und Internetdaten abgreifen kann – nur geringfügig verändert. Als 2014 Bürger auf dem Maidan-Platz gegen den prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestierten, erhielten die Demonstranten eine SMS-Warnung: „Lieber Kunde, Sie sind als Teilnehmer eines Massenaufruhrs erfasst.“ Wie die Protestierenden geortet werden konnten, ist bis heute unklar – die Telefongesellschaften stritten jede Beteiligung ab. Laut US-Geheimdienstberichten sollen auch Telefongespräche zwischen ukrainischen Politikern und westlichen Regierungsmitgliedern abgehört worden sein. Wenn Russland das ukrainische Telefonnetz bombardieren würde, würde es sich also selbst schaden. Russland trackt feindliche Soldaten auch mithilfe von Drohnen, die – etwa durch das Senden von SMS – Signale von Mobilfunkgeräten in einem bestimmten Radius abfangen. Ist ein Gerät lokalisiert, werden die GPS-Koordinaten unmittelbar an die Armeeführung weitergeleitet. Ein eingehender Anruf oder ein gesendeter Videoclip kann einer ganzen Truppeneinheit das Leben kosten. Forscher der Universität Kopenhagen nannten Handy anrufe „die digitale Version einer achtlos in der Nacht angezündeten Zigarette“. Die Handys gefallener Soldaten Die ukrainische Armee hat ihren Soldaten daher eingeschärft, ihre SIM-Karten zu Hause und Mobiltelefone ausgeschaltet zu lassen (wobei man sich fragt, woher die vielen Tiktok-Videos von der Front kommen). Handygespräche sollten nur in befreiten Regionen oder solchen mit vielen Menschen geführt werden. Allein, die russische Armee schreckt bei ihrem brutalen Angriffskrieg auch vor Zivilisten nicht zurück. Besonders makaber: Russische Soldaten nutzten die Handys verstorbener Ukrainer, um wenige Stunden nach ihrem Tod nach Hause zu telefonieren. Das belegt eine Auswertung von Handydaten durch die New York Times. Aber auch auf der anderen Seite macht man sich zurückgelassenes Kriegsgerät zunutze. So hat die ukrainische Armee nach eigenen Angaben per Drohne das Funkgerät eines getöteten russischen Soldaten geborgen, mit dem sie den Militärfunk des Feinds abhören konnte. Wie das Internet und GPS ist Mobiltelefonie ursprünglich eine Militärtechnologie. Im Jahr 1940 erhielt Motorola, das damals noch unter dem Namen Galvin Manufacturing Company firmierte, von der US-Regierung den Auftrag, ein mobiles Funksprechsystem für das Militär zu entwickeln. Die Ausrüstung, welche die Motorola-Ingenieure für die US Signal Corps schufen, war eine recht unhandliche Apparatur: Die Soldaten mussten einen 16 Kilogramm schweren Rucksack schultern, in dem Radioempfänger und -sender integriert waren. Das tragbare Funkgerät der Reihe SCR-300, das erstmals großflächig 1944 bei der Landung der US-Truppen in der Normandie eingesetzt und wegen seiner Praktikabilität kurz walkie-talkie genannt wurde, markierte einen Wendepunkt in der Kriegskommunikation. In der Folge wurde die Technik kleiner und leichter. Das Nachfolgemodell SCR-536, das Motorola unter dem Namen „Handie-Talkie“ (daher die im Deutschen gebräuchliche Bezeichnung „Handy“) patentieren ließ, wog nur noch 2,3 Kilogramm. Simulierte Funkmasten Auch im Krieg gegen den Terror, den die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausriefen, spielen Handydaten eine wichtige Rolle. Ferngesteuerte Hightech-Drohnen, die an US-Stützpunkten tausende Kilometer entfernt mit einem Joystick bedient werden, können durch Laufzeitpeilung oder unbemerkte Datenabfragen über das Mobilfunknetz Handys am Boden aufspüren. Selbst im Flugmodus oder mit leerem Akku lassen sich die Geräte orten. Ein ehemaliger Drohnenpilot des amerikanischen Joint Special Operations Command (JSOC) sagte einmal: „Wir gehen nicht nach den Leuten – wir gehen nach ihren Handys, in der Hoffnung, dass die Person am anderen Ende der Rakete der bad guy ist.“ Aber was, wenn nicht? Unter Sicherheitsexperten ist seit Jahren bekannt, dass Taliban-Führer teils dutzende SIM-Karten besitzen und diese in verschiedene Rucksäcke verstauen, um falsche Fährten zu legen. „Die ganze Kriegskunst basiert auf List und Tücke“, sagte schon der chinesische General Sun Tsu vor 2500 Jahren. Das gilt auch für die digitale Kriegsführung im Krieg in der Ukraine. So setzt Russland sogenannte IMSI-Catcher ein, tragbare Basisstationen, die einen Funkmast simulieren. Loggt sich ein Handy in der Nähe in diese Fake-Funkzelle ein, kann der Illustration: Rainer Messerklinger Lesen Sie auch den Text „Der neue Eiserne Vorhang im Netz“ (18.5.2022), ebenfalls von Adrian Lobe auf furche.at. „ Das ukrainische Telefonnetz stammt in weiten Teilen noch aus Sowjetzeiten. Würde Russland dieses Kommunikationssystem bombardieren, würde es sich selbst schaden. “ Digitale Sorgfalt zu üben, sollte für die Soldaten im Kriegsfeld eine Maxime sein. Andernfalls gefährden sie das Leben ihrer Kameraden. Tiktok-Videos von der Front zeigen, dass sich nicht alle daran halten. Angreifer das Gerät lokalisieren und Gespräche mithören. Wie das Technikmagazin Wired berichtet, sind in den von Russland annektierten Gebieten zwei neue Mobilfunkanbieter (7Telecom und MirTelecom) auf den Plan getreten, die die Gegend um die Städte Cherson, Melitopol und Saporischschja mit mobilem Internet versorgen wollen. Im Juni vergangenen Jahres waren Bürgern der besetzten Gebiete erstmals markenlose SIM-Karten aufgefallen, die im Internet zum Verkauf standen. Laut einer Analyse des Sicherheitsexperten Cathal McDaid könnte das Netzwerk eigens für russische Soldaten geschaffen worden und ein Hebel sein, Netzinhalte der Nutzer zu kontrollieren. Die Techkonzerne aus dem Westen üben sich dagegen weitgehend in Neutralität. So hat Google die Funktion der Live-Verkehrsinformationen seiner Navigationssoftware deaktiviert, mit der man in Echtzeit Truppenbewegungen oder Menschenansammlungen hätte verfolgen können. Das Raumfahrtunternehmen SpaceX hat kürzlich die Nutzung des Satelliteninternets „Starlink“, das Gründer Elon Musk der Ukraine kurz nach Kriegsbeginn zur Verfügung stellte, für militärische Drohnen eingeschränkt. Das Netzwerk dürfe nicht für „offensive Zwecke“ genutzt werden, teilte das Unternehmen mit. Am Ende könnte das womöglich kriegsentscheidend sein. Denn für eine effektive Verteidigung braucht die Ukraine nicht nur Flugabwehrsysteme, sondern auch ein funktionierendes Telekommunikationsnetz.

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