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DIE FURCHE 23.02.2023

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DIE FURCHE · 8 22 Wissen 23. Februar 2023 Die Wissenschaft soll als „ehrlicher Makler“ agieren, der politische Optionen auf Basis der Studienlage aufzeigt, heißt es in den „Wiener Thesen“, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der deutschen Leopoldina erarbeitet wurden. Illustration: Rainer Messerklinger Von Manuela Tomic MOZAIK Die Zeit der offenen Türen 1985 in Jugoslawien: Dedo Ivo, mein Großvater, steht im Treppenhaus und brüllt den Namen meiner Mutter. Ehe sie zur Tür kommen konnte, war ihr Schwiegervater auch schon eingetreten. In seinen Händen trug er eine große Plastikwanne voller Fleisch für sein Gasthaus. Die besten Stücke brachte er meiner Mutter. „Für dich, Schwiegertochter“, sagte er. Eine Stunde später kam die Nachbarin Zlatica spontan zum Kaffeetrinken vorbei. Nachmittags platzte Mutters Freund Zdeno herein, erzählte von seinem Liebeskummer und trank picksüßen Saft. Als alle weg waren, begann Mutter, das Abendessen zuzubereiten. Der Geruch von gebratenem Fleisch strömte ins Treppenhaus. Die Nachbarn konnten es riechen, denn ihre Türen standen immer offen. Man sah, ob jemand aufgeräumt hatte, hörte, wer sich stritt. Als wir nach Österreich kamen, blieb die Wohnungstür in Kreševo für immer zu. In dieser Zeit sprachen wir viel über dedo Ivo. Über seine Art, minutiös und in aller Ruhe die besten Fleischstücke auszusuchen, während sich hinter ihm eine lange Schlange bildete. Über das Leben in Ex-Jugoslawien. An die Zeit der offenen Türen kann ich mich nicht erinnern. 1985 war ich noch nicht geboren. Doch Opas Gasthaus hatte den Krieg überdauert und brachte mir diese Zeit zurück. Ich sah die Männer ein- und austreten, schweigend nebeneinandersitzen, Sliwowitz trinken, Karten spielen. Eine Sperrstunde gab es nicht. Jeden Abend machte Opa Ivo es sich auf einem der Sessel gemütlich und schlief ein. Die Gäste blieben – bis spät in die Nacht. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/newsletter Illustration: Rainer Messerklinger Von Martin Tauss „ Seit Corona steht das Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf dem Prüfstand. Die ‚Wiener Thesen‘ geben dazu Impulse. “ Vor drei Jahren wurden in Österreich die ersten Coronafälle gemeldet. Nach der Pandemie bietet sich die Chance, die wissenschaftliche Politikberatung neu aufzusetzen. „Aus den Fehlern lernen!“ Es war eine merkwürdige Wortwahl, um einen Versöhnungsprozess einzuleiten: „Alles soll aufgearbeitet werden“, sagte der Bundeskanzler – von der Impfpflicht über die Coronahilfen bis zur 3G-Regel. „Wir waren expertenhörig; nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind.“ Anstatt Wogen zu glätten, sorgte das Statement von Karl Nehammer (ÖVP) umgehend für neuen Wirbel. „Ärgerlich, zumal genau DAS (auf Expert*innen hören) ja oft verabsäumt wurde“, twitterte der Wiener Lungenfacharzt Arschang Valipour. Für den Primarius an der Klinik Floridsdorf war es „schon befremdlich, jetzt Gräben in der Gesellschaft auf Expert*innen zu schieben (…), die großteils in ihrer Freizeit beratend tätig waren“. Tatsächlich haben die Forscherinnen und Forscher, die während der Coronakrise ihre Expertise im ORF und anderen Medien vermittelten, oft in der Nacht noch Studien durchgeackert und sich per Videoschaltung mit internationalen Kollegen ausgetauscht. Manche von ihnen wurden in den sozialen Medien zur Zielscheibe von Wut und Hass, denn „die Wissenschaft“ wurde mit fortdauernder Krise zunehmend als Teil des „Establishments“ attackiert. „Diese Forscher waren stark intrinsisch motiviert“, sagt Alexander Bogner von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Gespräch mit der FURCHE. „Sie haben ehrenamtlich oft eine große Zusatzbelastung auf sich genommen, und man sollte darüber nachdenken, wie man sie künftig entlasten und unterstützen kann.“ Nehammers Aussage, wonach die Regierung „expertenhörig“ gewesen sei, ist auch für Bogner hochproblematisch: „Wenn man unterstellt, dass die Entscheidungen während der Pandemie von den Experten getroffen worden seien, dann entsteht der Eindruck, dass sich die Politik hinter der Wissenschaft versteckt. Das ist eigentlich ein Zeichen von Schwäche, denn es bringt zum Ausdruck, dass Politiker ihren Aufgabenbereich am liebsten zum Verschwinden bringen möchten. Starke Politik hingegen würde sich dadurch auszeichnen, dass sie ihre Entscheidungen wissenschaftlich fundiert begründen kann“, so der Soziologe am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der ÖAW. Generell aber sei die vom Kanzler geplante Aufarbeitung des Corona-Krisenmanagements vielversprechend: „Wenn es stimmt, dass das kein parteipolitisches Geplänkel werden soll, dann kann man Österreich nur gratulieren. Aus Fehlern zu lernen, ist doch eine tolle Geschichte!“ Welche Rolle haben Wissenschafter, wenn sie Regierungen beraten? Wie sollen Forscher kommunizieren, wenn es unter ihresgleichen keinen Konsens gibt? Im Nachhall der Corona-Pandemie steht das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik auf dem Prüfstand. Alexander Bogner zählt zum Autorenteam eines

DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Wissen 23 „ Man sollte nicht nur für weitere Pandemien gewappnet sein – auch bei der Migration, in der Klima- oder Energiekrise Thesenpapiers, das Erfahrungen während der Krise reflektiert, um Lektionen abzuleiten. Die „Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft“ wurden im Auftrag der ÖAW und der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina erarbeitet. Am 1. Februar, dem „Joint Acad e my Day“, wurden die neun Thesen von ÖAW-Präsident Heinz Faßmann und Leopoldina-Präsident Gerald Haug präsentiert. Die Wissenschaft soll als „ehrlicher Makler“ agieren, der politische Optionen auf Basis der Studienlage aufzeigt, heißt es dort. Und: Sie soll so umfassend wie nötig informieren, aber so wenig wie möglich legitimieren. Es dürfen keine Rollenkonflikte entstehen, denn Grenzüberschreitungen würden „zu Recht als Politisierung von Expertise bzw. ‚Expertokratie‘ kritisiert“. Was aber, wenn Politiker auf einmal in die Rolle von Experten schlüpfen und so wie Herbert Kickl (FPÖ) ein Entwurmungsmittel bei Covid empfehlen – entgegen aller Evidenz? „Ein typisches Beispiel für populistische Strömungen, die losgelöst von einer rationalen Weltsicht politisches Kleingeld machen wollten“, bemerkt Alexander Bogner. „Ähnliches hat man auch bei Donald Trump gesehen. Er wollte die Realität quasi ‚wegtwittern‘, wurde dann aber schnell eines Besseren belehrt. Dass die österreichische Regierung immerhin versucht hat, ein System der wissenschaftlichen Politikberatung zu etablieren, war demgegenüber ein Lichtblick.“ Als es zu Beginn der Coronakrise schnell gehen musste, hat die Regierung zunächst informell wissenschaftliche Expertise mobilisiert. Mit der Zeit wurde die Beratung formalisiert: Die Corona-Taskforce wurde in den Obersten Sanitätsrat übergeführt, hinzu kam die „Ampel-Kommission“ – Kritiker sprachen von einem Wildwuchs. Im Dezember 2021 wollte man die Beratung mit dem Expertengremium GECKO zentralisieren. Doch das Projekt wurde keine Erfolgsgeschichte. Als die Regierung im Februar 2022 Lockerungen etwa bei der Maskenpflicht verkündete, mahnten die GECKO-Experten weiterhin zur Vorsicht. Rotes-Kreuz-Chef Gerry Foitik verließ das Gremium aus Protest, weil die Regierung die Fachleute ignoriere. „Zudem war GECKO kein rein wissenschaftliches Gremium, sondern durchsetzt mit diversen Interessenvertretern. Die Erfahrung zeigt, dass man die Bereiche Wissenschaft und Politik hier noch stärker hätte entkoppeln sollen“, kritisiert der Soziologe Bogner. Mangelnde Transparenz Auch die Besetzung der Beratungsgremien ist ein eigener Punkt der „Wiener Thesen“. Wissenschaftliche Exzellenz und nicht politische Erwägungen oder medialer Einfluss müssten hier ins Gewicht fallen; und als Gelehrtengesellschaften sollte den Wissenschaftsakademien eine entscheidende Rolle bei der Nominierung zukommen, betont das Statement der ÖAW und der Leopoldina. War die Auswahl der ist die wissenschaftliche Beratung gefragt. “ Alexander Corona-Expert(inn)en in Österreich von parteipolitischem Kalkül geleitet? „Das war nicht das Problem, aber die Auswahl war intransparent“, meint Bogner. „Und wenn die Expertenauswahl nicht nachvollziehbar ist, kommt sofort der Verdacht von parteipolitischen Interessen.“ Während die Mobilisierung von Experten in Öster- Foto: Schedl (ÖAW) Bogner Der Soziologe forscht am Institut für Technikfolgen- Abschätzung der ÖAW. reich und Deutschland ähnlich verlaufen ist, hatte das Nachbarland einen strukturellen Vorteil im Krisenmanagement: weisungsgebundene Ressortforschungseinrichtungen mit großen personellen Ressourcen – so wie das Robert Koch-Institut (RKI), das dem deutschen Gesundheitsministerium zugearbeitet hat. So erhielt das RKI vom Ministerium Projektaufträge, um eine wissenschaftliche Datengrundlage zu erarbeiten, berichtet Bogner: „Solche nachhaltigen Forschungseinrichtungen wären auch für Österreich eine tolle Sache.“ Wie man wissenschaftliche Politikberatung zur Krisenbewältigung organisiert, ist derzeit auch Thema einer Studie am ÖAW-Institut für Technikfolgen-Abschätzung. Schließlich sollte man sich nicht nur für weitere Pandemien wappnen – auch bei der Migration, in der Klima- oder Energiekrise ist diese Beratung dringend gefragt. Nach der dreijährigen Coronakrise sehen Experten schon bald eine endemische Phase erreicht. „Es hat wenig Möglichkeiten gegeben, aus dieser Pandemie herauszukommen, ohne dass irgendwo Schaden entsteht“, bilanziert der Komplexitätsforscher Peter Klimek in APA Science. Mit den Maßnahmen habe man erst „spät zu bremsen begonnen“, wodurch es unter anderem zu langen Lockdowns kam. Die Impfung war jedenfalls der gamechanger: Corona habe jetzt keine besondere Rolle mehr für die Belastung des Gesundheitssystems und sei nun „ein zusätzlicher Stressfaktor“ neben anderen Viruserkrankungen. „Eine soziale Geldanlage, die Jobs schafft, vor allem für Frauen in den Ländern des Globalen Südens, ist mir sympathisch. Oikocredit bietet Hilfe zur Selbsthilfe und das finde ich fair.” Dr. Sabine Haag Generaldirektorin KHM-Museumsverband Geld, das dem Leben dient www.oikocredit.at 01 / 505 48 55 Hinweis: Werbeanzeige der Stichting Oikocredit International Share Foundation, Wertpapierprospekt samt allfälligen Nachträgen abrufbar unter www.oikocredit.at.

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