DIE FURCHE · 8 20 Film & Medien 23. Februar 2023 THRILLER Aus der Desktop- Perspektive Als mit „Searching“ (2018) ein Thriller erschien, der gänzlich aus der Perspektive eines Computerdesktops erzählt wurde, konnte man noch nicht ahnen, welche Blüten dieser Gimmick treiben würde. In der Zwischenzeit sind mehrere Filme dieser Machart entstanden und trafen nicht zuletzt pandemiebedingt einen Nerv der Zeit: Wenn die Benutzeroberfläche von Laptops, Smartphones und Co zum zweiten Zuhause wird, verändert das unsere Wahrnehmung – und damit auch die Kinolandschaft. Nicholas D. Johnson und Will Merrick waren bei „Searching“ für den Schnitt zuständig und haben nun mit „Missing“ auch als Regieduo ihren Beitrag zu dem geleistet, was man behelfsmäßig als „Desktopthriller“ bezeichnen könnte. Diesmal geht es um eine Tochter (Storm Reid), die ihre potenziell entführte Mutter (Nia Long) ausfindig zu machen versucht. Die Herkunft der Regisseure im Schneideraum ist kein Zufall, wird dem Schnitt zwischen Apps, Webcams, Chatrooms etc. doch die wichtige Rolle zuteil, als entscheidendes erzählerisches Mittel zu fungieren. Johnson und Merrick nutzen diese selbstauferlegten Beschränkungen auf meisterhafte Weise, um einen Entführungsthriller zu entwickeln, dessen Plot-Twists auch die ausgebufftesten Zuseher nicht werden vorhersehen können. Emotionales Zentrum von „Missing“ bleibt die ausgezeichnet gespielte Mutter-Tochter-Dynamik, die den Film davor bewahrt, zum reinen Gim- mick zu verkommen. (Philip Waldner) Missing USA 2023. Regie: Nicholas D. Johnson, Will Merrick. Mit Storm Reid, Nia Long, Ken Leung, Amy Landecker, Tim Griffin. Sony. 111 Min. Storm Reid und Megan Suri in Nicholas D. Johnsons und Will Merricks Thriller „Missing“. Von Otto Friedrich Der größte Charme von Todd Fields monumentalem Biopic „Tár“ ist, dass das Porträt der ersten Chefdirigentin eines großen Orchesters völlig fiktiv ist: Lydia Tár, die der Film porträtiert, gibt es in Wirklichkeit nicht, aber Fields erzählt seine Geschichte so, als ob das alles genau so und nicht anders passiert wäre: der rasante Aufstieg in die Männerdomäne Chefdirigent, die Allüren als Orchesterleiterin in Berlin und Professorin an der renommierten New Yorker Juilliard School; dann das aufreibende Gefühlsleben mit der Partnerin, daneben aber auch andere Beziehungen, die jedenfalls auch zu einem tragischen Ende führen, das wiederum die Karriere der Protagonistin bedroht. Dieses ganze Leben findet nur im Film statt, aber Todd Field gelingt darin eine Realität, die mit Eigentlich ist Todd Fields „Tár“, die Filmbiografie der ersten Chefdirigentin eines großen Symphonieorchesters, durch und durch fiktiv. Aber gleichzeitig realitätsnah, wie ein Film nur sein kann. Die Macht der Dirigentin der „wirklichen“ Wirklichkeit des E-Musikbetriebs mehr zu tun hat, als man auch diesem Regisseur zutrauen würde. Insbesondere die Verschränkung einer noch künftigen Realität, dass nämlich – endlich! – eine Frau als Chefdirigent eines renommierten „ Lydia Tár ist das geworden, was sie ist, weil sie so ist, wie sie ist: machtbewusst. Mit Leichen, die ihren Weg pflastern. “ Orchesters interferiert mit den Mühen der Ebene, die dieser Job mit sich bringt, gelingt auf eine geniale Weise. Man kann natürlich einwenden, dass vieles am Verhalten der Lydia Tár typisch „männlich“ ist und von daher keineswegs „innovativ“ scheint. Aber auch das ist doch aus dem Leben gegriffen: Denn die Ausbeutung und das Machtgefälle zwischen sakrosankter Orchesterleiterin und den von ihr dirigierten Musiker(innen)n hängt nicht davon ab, Zwei Frauen Nina Hoss (links) in der Rolle der Konzertmeisterin und Ehefrau Sharon Goodnow, Cate Blanchett als Lydia Tár, die erste Chefin eines großen klassischen Klangkörpers. dass hier einmal der Geschlechtergerechtigkeit Genüge getan wird. Lydia Tár ist das geworden, was sie ist, weil sie so ist, wie sie ist – machtbewusst. Und mit Leichen, die ihren Weg pflastern. Die Luft rund um diese Protagonistin ist dünn, und wenn sie stürzt, ist der Fall tief – auch das erfährt das Kinopublikum am Beispiel dieser Lydia Tár. Dass dieser Fall auch der aktuellen Cancel Culture geschuldet ist, stellt eine weitere Facette dar, in der „Tár“, der Film von Todd Field, schillert. COMING-OF-AGE-FILM Meyerhoffs Erwachsenwerden als Film MEDIEN IN DER KRISE Schiefe Verhältnisse Bisweilen schräg und außergewöhnlich gestaltet sich der bundesdeutsche Alltag von Familie Meyerhoff. Der Vater, von Beruf Psychiater und Direktor eines psychiatrischen Landeskrankenhauses, wohnt mit seiner Ehefrau und seinen drei Söhnen auf dem Anstaltsgelände. Obschon er ein Spezialist für seelische Krankheiten ist, will er von den Nöten seiner Familie nichts wissen. Geschildert werden die Ereignisse in „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ aus der Perspektive des Sohnes Joachim. Sonja Heiss’ Verfilmung des gleichnamigen Romans erzählt von einer Kindheit und einem Erwachsenwerden, in denen Er schöpfung und Leere durch Erfindungsreichtum und humorigen Ton verdeckt werden sollen. Im Titel steckt bereits die Aporie der Erinnerungen des Autors und Schauspielers Joachim Meyerhoff; sie wissen von der Rückwendung zu einer Vergangenheit, die es in der ersehnten Weise aber nie gab. Heiss hat dem Geschehen eine angemessene Struktur verliehen, sie mit viel Liebe für Details umgesetzt. Trotzdem gelingt es dem Film nur manchmal, wie etwa in Joachims Tanz mit der Mutter zu den Klängen des Hits „Felicità“, die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit einzufangen. Zu oft rauschen blasse Szenen, die Musik beseelen soll, über die Verhältnisse hinweg. (Heidi Strobel) Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war D 2022. Regie: Sonja Heiss. Mit Devid Striesow, Arsseni Bultmann. Warner, 115 Min. Im Nachbarland Slowakei wird dieser Tage der Ermordung des jungen Aufdeckerjournalisten Ján Kuciak vor fünf Jahren gedacht. Dass Journalismus tödlich sein kann, ist keine Erfahrung am anderen Ende der Welt; und dass diejenigen, die Mächtigen per Recherche am Zeug flicken, an Leib und Leben bedroht sind, ist auch keine Historie, sondern bittere Gegenwart. Ebenfalls müssen die Enthüllungen der Rechercheplattform Storykillers über eine israelische Firma, die weltweit Wahlen manipuliert hat, beunruhigen. Das Leiden und Sterben der indischen Journalistin Gauri Lankesh, die mit Fake News und Kampagnen regierungsnaher Medien um ihre Existenz gebracht wurde, kann da als Menetekel verstanden werden: zwar herrschen in Österreich nicht „indische“ Zustände. Aber der Weg dahin mag weniger weit sein, als gemeinhin angenommen. Das reicht von mangelndem Persönlichkeitsschutz in sozialen Medien bis zur Ausdünnung der Redaktionen, die landesweit zu beobachten ist. Fritz Hausjell, Präsident von „Reporter ohne Grenzen Österreich“, zog in einem Interview den Vergleich zwischen den 104 mit PR beschäftigten Mitarbeitenden im Kanzleramt und der Zahl der Redakteure, die ebendieses Amt kontrollieren. Keine Milchmädchenrechnung, hier festzustellen: Das Verhältnis ist da mehr als schief. (Otto Friedrich)
DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Film 21 „Wo ist Anne Frank“: Filmemacher Ari Folman nähert sich dem Leben der von den Nazis ermordeten Tagebuchschreiberin per Animation und hat dabei wesentlich die Gegenwart im Blick. DOKUMENTARFILM 158 Minuten mutet er im Kinosaal zu: Das mag im ersten Augenblick nach großer Länge klingen, aber dieses Drama, diese große Oper von Film bedarf solcher Länge. Auch dass die Höhen, Tiefen und Nuancen der Protagonistin an der Arbeit an Gustav Mahlers Fünfter Symphonie exemplifiziert werden, benötigt die Länge. Denn der Wiener Meister der Spätromantik sparte bekanntlich nicht an Üppigkeiten – und schon gar nicht an der Dauer seiner Musikwerke. Cate Blanchett: beeindruckend „Tár“ steht und fällt auch mit seiner Hauptdarstellerin: Todd Field ist durch die Besetzung der Lydia Tár mit Cate Blanchett, die im Film überdies sowohl auf Englisch als auch in fließendem Deutsch beeindruckt, der eigentliche Coup gelungen. Das zeigt sich allein am Preisregen, über den sich die US-australische Schauspielerin bereits freuen kann: In Venedig, bei den BAFTA Awards und den Golden Globes wurde sie bereits als beste Hauptdarstellerin geehrt, sie kann auch bei den Oscars damit rechnen. Aber auch Nina Hoss in der Rolle der Konzertmeisterin und Társ Ehefrau Sharon steht Blanchett um nichts nach, desgleichen Noémi Merlant in der Rolle ihrer Assistentin Francesca. Und mit Sophie Kauer für die Solistin Olga, hinter der dann die Tár auch her ist, stand auch eine leibhaftige Cellistin zur Verfügung. Ob „Tár“ bei Regie, Drehbuch, Kamera (Florian Hoffmeister) oder als bester Film bei den Oscars reüssiert, wird man demnächst wissen. Auch die Österreicherin Monika Willi wurde da nominiert – für den besten Schnitt. Schließlich ist Hildur Guðnadóttir für die gleichfalls exzeptionelle Filmmusik zu nennen, die „Tár“, dieses fiktive Biopic einer außergewöhnlichen Frau, endgültig zum Gesamtkunstwerk werden lässt. Tár USA 2022. Regie: Todd Field. Mit Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Zethphan Smith-Gneist, Sophie Kauer Universal. 158 Min. Ab 2.3. Deportationen – 1944 und heute Von Otto Friedrich Die Geschichte der Anne Frank wird über Animationsfilm erzählt (Bild) und über deren imaginäre Freundin Kitty auch ins Amsterdam der Gegenwart transferiert. Anne Frank nicht zu kennen, gelingt in Europa kaum jemandem. Es gibt Anne-Frank-Straßen und -Plätze, unzählige Anne-Frank-Schulen, Anne-Frank-Krankenhäuser, Anne- Frank-Theater und auch Filme, ein Theaterstück sowie eine Oper, welche das „Tagebuch der Anne Frank“ wachhalten. Und natürlich ist das Anne-Frank-Haus in Amsterdam – in dessen Hinterzimmern sich das jüdische Mädchen bis zu ihrer Entdeckung und Verhaftung 1944 versteckt hielt – eine der größten touristischen Attraktionen in der niederländischen Hauptstadt. Doch berührt das Schicksal der von den Nazis ermordeten Jugendlichen heute wirklich noch – insbesondere junge Menschen? Der israelische Filmemacher Ari Folman („Waltz With Bashir“) nimmt diese Frage zum Ausgangspunkt von „Wo ist Anne Frank“, seiner ungewöhnlichen Annäherung an deren Leben. Wie in früheren Filmen erzählt Folman seine Geschichte über Animationen, die er diesmal mit der israelischen Animationskünstlerin Lena Guberman entwickelt hat. Der Film wird über die Visualisierung von Kitty erzählt, der imaginären Freundin, an die sich Anne Frank in ihrem Tagebuch richtet. Kitty, so der Plot, fragt, wo ihre Erfinderin Anne ist. Sie nimmt ihr berühmtes Tagebuch im Original an sich und verlässt das heutige Anne-Frank-Museum an der Prinsengracht, um nach der ermordeten Protagonistin zu suchen. Dabei freundet sie sich mit Peter, einem Gleichaltrigen, an und begegnet geflüchteten Menschen, die im heutigen Amsterdam von der Polizei eingesperrt werden, um in ihre Heimatländer zurückgeschickt zu werden. Eigentlich sind die Deportationen der NS-Schergen mit den Aktionen der Polizei von heute kaum zu vergleichen, sollte man meinen. Aber in der Art und Weise, wie Ari Folman die Deportationen im Dritten Reiche und die Abschiebungen von heute für ein (nicht nur!) junges Publikum aufbereitet, zeigt sich, dass Haltungen, die aus Menschen Schubmassen von staatlicher Macht machen, doch ähnlicher sind, als man glauben möchte – was die Verbrechen der Schoa dennoch keineswegs relativiert. Auf jeden Fall gelingt Folman ein Ausbruch aus den hagiografischen Zugängen, die im Wust der nach Anne Frank benannten Institutionen die Menschen – auch Anne Frank selbst – dahinter verschwinden lassen. Die Frage, wie man die Geschehnisse zwischen 1938 und 1945 für eine heutige Nachwelt wachhalten kann, wird hier auf beeindruckende Weise beantwortet. Wo ist Anne Frank (Where is Anne Frank) B/F/L/NL/IL 2021. Regie Ari Folman. 104 Min. Marine Barnérias (Mitte) erzählt von ihrer Reise nach innen und außen (Bild: in der Mongolei). Weltreise mit Multipler Sklerose Mit Seeleuten und Küstenbewohnern beschäftigt sich die Sendung, die Marine Barnérias im dritten Kanal des französischen Fernsehens moderiert. Von etwas, das in ihrem eigenen Körper wohnt, handelt hingegen ihr Dokumentarfilm „Rosy – Aufgeben gilt nicht“ – vor allem davon, eine Krankheit als Teil von sich selbst anzunehmen: Mit 21 Jahren, als junge Studentin, hat sie ihren ersten „Schub“ – Multiple Sklerose (MS). Nicht nur die Diagnose und die Art, wie ihr das mitgeteilt wird, ärgern sie, sondern auch, dass sie von den meisten Ärzten als Krankheitsbild, nicht als Individuum gesehen wird. Wer sie selbst ist, kann sie sich in diesem Moment aber auch nicht beantworten. Deshalb beschließt sie, eine siebenmonatige Reise zu machen, dabei Neuseeland, Myanmar und die Mongolei zu durchqueren und eines nach dem anderen zu finden: Körper, Geist und schließlich ihre Seele. Barnérias ist eine lebendige, unverblümte Erzählerin ihres Pfads, der als Film zur quirligen Collage aus Nachbetrachtung und den Videos wird, die sie damals für ihre Familie, Freunde und Unterstützer in den sozialen Medien aufnahm. Manchmal gerät „Rosy“ dadurch auch in einen Zwiespalt: Zwar kann er etwa die fundamentale Wirkung von Meditation und Stille an Marine zeigen, ist aber nicht das geeignete Gefäß, sie nachempfinden zu lassen. Inspiration erzeugt der Film durch Barnérias’ Energie, das Wollen, sich Herausforderungen zu stellen, und die Weigerung, das Leben als vorbei zu betrachten. Mit dieser Einstellung steht sie in geistiger Verwandtschaft mit dem Deutschen Andreas Beseler, der seit Jahrzehnten mit Radsport gegen MS ankämpft, schon öfter Protagonist von Filmen war und dessen Stiftung „Besi and Friends“ seine Ideen auf eine breitere Basis stellt. „Seper bleiben“ – das Motto, das sich Barnérias aus „SEP“, Französisch für MS, und „super“ zusammengefügt hat, passt auf beide. (Thomas Taborsky) Rosy – Aufgeben gilt nicht (Rosy) F 2021. Regie: Marine Barnérias. Filmladen. 87 Min. KREUZ UND QUER WASSERDOKTOR, KRÄUTERPFARRER, TRENDSETTER DI 28. FEB 22:45 Sein Name ist zu einer Marke geworden: Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897) ist bis heute einer der bekanntesten Vertreter der Naturheilkunde: „Kneippen“, seine Wasserkur durch „Wassertreten“, ist längst zu einem festen Begriff geworden. Die Doku geht der Frage nach, wieweit Kneipps religiöse Überzeugung bei seinen Überlegungen zum gesunden Leben eine Rolle gespielt hat, und sucht in Kurorten und Heilbädern, wie sich seine Naturlehre heute auswirkt. religion.ORF.at Furche23_KW08.indd 1 15.02.23 11:00
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