DIE FURCHE · 8 2 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 23. Februar 2023 „Das ‚Opfer‘ in der Pflicht?“ (4.1.2023) fragte der Philosoph Peter Strasser in seinem Essay unter dem gleichnamigen Titel auf furche.at. Zu Zeugen des Verbrechens werden die Zuschauerinnen und Zuschauer vor ihren Fernsehgeräten und Tablets. te Soldaten pflegen musste, blutjunge Krüppel. Mein Vater, der als Bub die Opfer alliierter Bombenangriffe auf den Straßen seiner Heimatstadt liegen sah und von diesen Bildern bis heute nicht loskommt. Als das Fernsehen unter dem Titel „Vor vierzig Jahren“ die deutschen „Wochenschauen“ aus dem Zweiten Weltkrieg wieder ausstrahlte, Bilder von vorrückenden Panzern, Bomberflotten am Himmel, Ruinenstädten, sahen mein Vater und Großvater fast jede Folge, und ich durfte mitschauen. Später trat ein anderer Krieg in mein Bewusstsein, unwirklicher als der Zweite Weltkrieg und wirklicher zugleich, weil er noch im Gange und ich darin, ob ich wollte oder nicht, Partei war, das heißt potenzielles Opfer. Man nannte ihn den „Kalten“, weil in diesem Krieg – jedenfalls bei uns in Europa – weder viel geschossen wurde noch Bomben fielen. Aber wir wussten: Wenn auch nur ein Bruchteil der nuklearen Sprengköpfe, die die verfeindeten Blöcke gegeneinander in Stellung gebracht hatten, zum Abschuss käme, würde von uns und der Welt, wie wir sie kannten, nichts übrigbleiben. Das Gleichgewicht des Schreckens lastete Megatonnen-schwer auf meiner Jugend. Von Christian Jostmann Was hat dieser Krieg, der Krieg in der Ukraine, mit uns allen gemacht? Als mir die Redaktion der FURCHE unlängst diese Frage stellte, mit der Bitte, sie hier zu beantworten, kam mein Abwehrreflex sofort. Allenfalls könne ich für meinesgleichen sprechen, schrieb ich zurück. Außerdem hätte ich den Eindruck, dass die meisten Menschen sich längst an den Krieg in unserer Nachbarschaft gewöhnt, andere Sorgen hätten, Stichwort Teuerung und so weiter. Natürlich waren das nur vorgeschobene Argumente. Der wahre Grund ist, dass ich mich nicht den Gefühlen stellen wollte, die ich im Lauf des letzten Jahres mit leidlichem Erfolg verdrängt habe: der Panik, den Russlands Angriff auf die Ukraine in mir getriggert hat, der ohnmächtigen Wut und – am wenigsten – der Scham über meine Bereitwilligkeit, mich in das Ungeheuerliche zu fügen. Doppelt demütigende Erkenntnis Ungeheuerlich ist der Krieg, weil er die Ungeheuer, die wir Menschen sind, ans Tageslicht bringt. „Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand erlebt haben, um etwas über den Menschen zu wissen“, hat Otto Dix, der Freiwillige des Ersten Weltkriegs, einmal gesagt und Bilder gemalt, die man nicht vergisst. Gilt Dix’ Aussage auch für uns, die wir als mehr oder weniger teilnahmslose Zuschauer an diesem Wir sind Zeugen eines Verbrechens, gegen das wir allenfalls halbherzig einzuschreiten wagen. Ein Essay über verlorene Illusionen, teilnahmslose Teilhabe und Lichter, die wider Erwarten noch brennen. Die Ungeheuer, die wir sind Krieg beteiligt sind? Dank des Kriegs wissen wir jetzt mehr über uns, als wir wissen wollten: wie erpressbar wir sind. Zeugen eines Verbrechens, gegen das wir allenfalls halbherzig einzuschreiten wagen aus Furcht vor dem russischen Gewaltapparat, sind wir Geiseln unserer Angst und unserer Schwäche. Was macht diese doppelt demütigende Erkenntnis mit uns? Anders als Dix kenne ich den Krieg nur vom Hören sagen, aus zweiter Hand, als immer nur medial vermitteltes Geschehen. Aber dafür kenne ich ihn gut. In meiner Welt war immer schon Krieg. Bereits in meiner Kindheit, in den vermeintlich friedlichen Siebziger Jahren, redeten alle dauernd davon: der Großvater, der an der Ostfront gekämpft hatte. Die Oma, die als Krankenschwester im Ruhrgebiet verwunde „ In einer Krise liegen, wenn überhaupt, nur geringe Chancen, in einem Krieg gar keine – außer für diejenigen, die an ihm verdienen. “ Doch der Kalte Krieg endete 1990 plötzlich und unverhofft, oder so schien es jedenfalls. Kurz darauf setzten amerikanische Bomber die Ölfelder des vom Irak besetzten Kuwait und nationalistische Extremisten Jugoslawien in Brand. 1994 ermordeten mit Macheten bewaffnete Hutus in Ruanda binnen weniger Wochen fast eine Million Tutsis, am Ende desselben Jahres marschierte Russland in das abtrünnige Tschetschenien ein … Ja, in meiner Welt war immer schon Krieg. Und dennoch. Und dennoch, trotz der permanenten Präsenz des Krieges auf Erden, konnte sich für einen Europäer die Hoffnung, dass es zumindest in seinem unmittelbaren Lebensumkreis keinen Krieg mehr geben würde, während eines halben Jahrhunderts zur Gewissheit verfestigen. Die Hoffnung war, dass wenigstens wir Europäer, nachdem wir die größten Gewaltorgien der Menschheitsgeschichte vom Zaun gebro INTERN Abschiede und Aufbrüche in der FURCHE Heinz Nußbaumer Wilfried Stadler Genau 20 Jahre ist es her, dass DIE FUR- CHE „zwei außerordentliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ als neue Herausgeber präsentierte: Heinz Nußbaumer, fast 20 Jahre lang Leiter des außenpolitischen Ressorts des Kurier und als solcher ausgewiesener Kenner der arabischen Welt, danach von 1990 bis 1999 Leiter der Presseabteilung der Präsidentschaftskanzlei sowie Sprecher der Bundespräsidenten Kurt Waldheim und Thomas Klestil; und Wilfried Stadler, erfahrener Banker, Experte im Bereich Finanzmarktökonomie sowie ordnungspolitischer Vordenker. Beide haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten DIE FURCHE wesentlich geprägt: nach innen – durch ihre kenntnisreichen Herausgeberkolumnen sowie größtmögliche Unterstützung – wie auch nach außen durch ihren Einsatz und ihr Werben für diesen Solitär in der österreichischen Medienlandschaft. Im Namen des gesamten FURCHE-Teams möchte ich mich für diese langjährige, von großem Vertrauen geprägte Begleitung – bis hin zu unvergesslichen Leserreisen – ganz herzlich bedanken. Nun legen Heinz Nußbaumer und Wilfried Stadler auf eigenen Wunsch ihre Herausgeberfunktion zurück. Diese geht an den Medieninhaber über, die „DIE FURCHE – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG“. So sehr der Abschied schmerzt (vgl. auch S. 14), so sehr freut es mich, dass uns der reiche Erfahrungs- und Wissensschatz dieser beiden Persönlichkeiten nicht verloren geht: Heinz Nußbaumer wird uns zu gegebenen Anlässen weiter an seiner „kleinen großen Welt“ teilhaben lassen; und Wilfried Stadler wird ein Mal monatlich in einem „Klartext“ seine „ökono-logischen“ Ideen für eine bessere Welt formulieren. Im „Klartext“-Rotationsprinzip übernimmt er damit den Platz von Wolfgang Mazal, dem ich für seine von größter Sachkenntnis geprägten Beiträge und acht Jahre bester Zusammenarbeit ebenfalls ganz herzlich danke (vgl. S. 15). Auch Mazal wird den FURCHE-Leserinnen und -Lesern durch längere Analyse- und Meinungsstücke erhalten bleiben. Was sich sonst noch in Ihrer Lieblingszeitung ändert und welche Persönlichkeiten neu zur FURCHE stoßen, werden wir Ihnen in Kürze verraten. Lassen Sie sich überraschen – und bleiben Sie uns gewogen! (Doris Helmberger)
DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Das Thema der Woche 365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten 3 chen hatten, endlich zur Vernunft gekommen wären: zur Einsicht, dass im Krieg nichts zu gewinnen ist. Und wenn sich diese Hoffnung auch nicht auf den moralischen Charakter des Menschen gründen konnte, so immerhin auf sein wohlverstandenes Eigeninteresse und die Institutionen, die er sich schuf, namentlich die Europäische Union. Hat nicht die europäische Einigung sogar die Erzfeinde von einst, Deutschland und Frankreich, in Völkerfreundschaft vereint? Warum sollte das mit dem Rest der Welt nicht gelingen, da man doch so gute Geschäfte miteinander machen könnte, wo doch alle Seiten ein Interesse an gewinnbringendem Austausch haben müssten? Wie illusionär diese Hoffnung war, wissen wir spätestens seit dem 24. Februar 2022. Russlands Angriff auf die Ukra ine hat die Illusion einer – wenn schon nicht auf ewige, so doch absehbare Zeit – befriedeten Insel Europa zunichtegemacht. Was macht diese bittere Erkenntnis mit uns? Wie lebt es sich ohne die Illusion des Friedens? „Menschen glauben halt an Illusionen“, sagte die 93-jährige Wiener Holocaust-Überlebende Lucia Heilman kürzlich in einem Interview. An welche Illusionen glauben wir noch? Ein Jahr später sind, anders als von vielen befürchtet, die Lichter in Europa noch nicht ausgegangen. Das Leben geht einstweilen weiter, zumindest für uns Zuschauer, Zeugen, Geiseln, und jeder schaut halt, dass er irgendwie zurechtkommt. Schließlich haben wir genug eigene Sorgen – nicht zuletzt die, in den ökonomischen Schockwellen, die infolge des russischen Angriffs über uns hinwegrollen, über Wasser zu bleiben. Wer sich abstrampeln muss für die Kinder, die Firma, den Kredit, die oder der braucht sich nicht den Kopf über moralische Fragen oder die fernere Zukunft zu zerbrechen. Feindbilder, die Leben ordnen Aber Menschen sind unterschiedlich. Den einen gelingt es, zu verdrängen, andere werden depressiv. Wieder andere reklamieren die Opferrolle für sich oder verleugnen die Realität, indem sie behaupten, der Krieg habe mit ihnen eigentlich nichts zu tun. Bis hin zur unverblümten Identifikation mit dem Aggressor reicht das Spektrum der Reaktionen. Aber es gibt auch viel Hilfsbereitschaft, Solidarität, Schulterschluss, ein wiedergefundenes oder neu entdecktes „Wir“, an dem man sich innerlich aufrichten kann, und komplementär dazu Feindbilder, die auf ihre Weise helfen, die Welt zu strukturieren und das Leben zu ordnen, ihm sogar einen Sinn geben können. Menschen sind unterschiedlich, und darum glaube ich, dass sich jeder Mensch selbst fragen sollte, was dieser Krieg mit ihm anstellt. Eines aber glaube ich nicht: dass er irgendwen zu einem besseren Menschen macht. In einer Krise liegen, wenn überhaupt, nur geringe Chancen, in einem Krieg gar keine – außer für diejenigen, die an ihm verdienen. Für uns Übrige bleibt das Fazit, dass Europa keine Insel ist und nur eine gerechtere Welt, als sie es heute ist, eine friedliche sein kann. Das konnte man schon vor dem 24. Februar 2022 wissen, und es ist ein Jahr später so gültig wie eh und je. Ab 2014 Annexion der Krim, Krieg im Donbass Im Frühjahr 2014 annektiert Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Im Anschluss folgen weitere Eskalationen – insbesondere durch prorussische Milizen im ostukrainischen Donbass, die dort mit regulären Truppen gegen ukrainische Streitkräfte kämpfen. CHRONIK DES KRIEGES Verhandlungen würden den Krieg gegenwärtig verlängern, sagt Liana Fix vom „Council on Foreign Relations“. Ein Gespräch über Apathie, Naivität und die potenzielle Zeitenwende im Weißen Haus. „Regime change ist kein Ziel“ Die Rolle der Kassandra fiel über viele Jahre hinweg den Staaten in Osteuropa zu. Sie sagten in Bezug auf Russland Unheil voraus, wurden aber von ihren Nachbarn im Westen nicht ernst genommen. 24. Februar 2022 Russland greift die Ukraine ganzflächig an Russlands Präsident Putin ordnet eine „Militäroperation zur Entnazifizierung der Ukraine“ an. Ab den frühen Morgenstunden marschieren russische Truppen ein und viele Städte werden bombardiert. Die NATO droht Putin mit „Konsequenzen, die Sie noch nie erlebt haben“. Das Gespräch führte Brigitte Quint Am „Council on Foreign Relations“ (CFR) – einem außenpolitischen Forschungsinstitut in Washington, D.C. – verantwortet die Politologin und Historikerin Liana Fix den Bereich Europa. Im Gespräch erklärt sie, warum die Verbündeten kein Interesse daran haben, Putin zu stürzen, wie es um Europas Sicherheit unter einem US-Präsidenten Trump stünde und in welche Phasen sich der bisherige Kriegsverlauf einteilen lässt. DIE FURCHE: Wie blicken Sie auf die 365 Tage seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine zurück? Welche geopolitischen Lehren lassen sich ziehen? Liana Fix: Ich würde das vergangene Jahr in Phasen unterteilen: Die erste Phase war eine Phase des Schocks, insbesondere in Europa. Illustrationen: Rainer Messerklinger 25. Februar 2022 Geberkonferenz zu Waffenlieferungen Der Westen reagiert mit Sanktionen und Waffen. Deutschland liefert 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen. Die USA sagen Militärhilfen im Wert von 350 Millionen Dollar zu, Großbritannien stellt vorab 2000 Panzerabwehrraketen zur Verfügung. Mehr als in den USA, wo der Einmarsch vorhergesagt worden ist. Die Großflächigkeit und die Brutalität des Angriffes, die die ganze Ukraine getroffen haben, und auch die Dreistigkeit, also dass Russland darauf abgezielt hat, die ukrainische Regierung abzusetzen und eine eigene Regierung in Kiew zu installieren – das hat zu einem Schock geführt, insbesondere in den Ländern, die die russische Außenpolitik bisher noch nicht als das erkannt haben, was sie ist. DIE FURCHE: Wo wurde die russische Außenpolitik verklärt? Fix: Insbesondere in den westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Deutschland. Im Gegensatz zu den mittel- und osteuropäischen Ländern, die mitunter als Kassandren verspottet wurden. Sie hatten die Rolle, Unheil vorherzusagen, aber nicht ernst genommen zu werden. Letztlich musste Westeuropa diesen Staaten zugestehen, dass sie in ihrer Kenntnis über Russland und seiner Außenpolitik recht behalten hatten. DIE FURCHE: Wie lautet Ihre Einschätzung in Bezug auf den Part Österreichs? Fix: Österreich agierte ähnlich wie Deutschland – und ging an einigen Stellen sogar darüber hinaus. Die Verbindungen, sowohl auf wirtschaftlicher Ebene als auch auf politischer, zwischen Österreich und Russland waren teilweise sehr eng. Auch auf geheimdienstlicher Ebene ist Russland sehr aktiv in Österreich. Österreich war in dieser Hinsicht mindestens so arglos wie Deutschland und Frankreich, wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Was ich schon festhalten will: In welche Richtung Russland driftet, war spätestens seit 2014 abzusehen. Die Entscheidung, sich nicht von Russland zu distanzieren, war eine bewusste Entscheidung, keine leichtgläubige. Österreich hat hier noch einmal eine gesonderte Position, weil es von NATO-Ländern umgeben ist und kein eigenes Sicherheitsrisiko hat. Es muss sich daher bei den Themen Sicherheitspolitik und Verteidigung kaum Sorgen machen. Auf der anderen Seite ist es vom politischen Gewicht zu klein, um eine Rolle der Verantwortung eingehen zu müssen. Österreich agiert und agierte in einem geschützten Raum. „ Österreich war mindestens so arglos wie Deutschland – wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Auch auf geheimdienstlicher Ebene ist Russland sehr aktiv in Österreich. “ DIE FURCHE: Sie sprachen von Phasen, in die Sie die vergangenen 365 Tage einteilen würden. Welche folgte jener des Schocks? Fix: Die des Optimismus. Weil klar war, dass die Ukraine fähig ist, zurückzuschlagen. So kam es zu ersten Waffenlieferungen. Und diese Phase hat sich weiterentwickelt zu einer Phase der Erwartung, dass die Ukraine die bereits von Russland eroberten Gebiete sogar befreien kann – das war zunächst in Charkiw, später in Cherson der Fall. Auch die Bestimmtheit Wolodymyr Selenskyjs spielte eine große Rolle – sein Bekenntnis, vor Ort zu bleiben, an der Seite seiner Landsleute zu stehen. Beide Faktoren verdeutlichten: Bei diesem Abwehrkampf geht es nicht darum, das Überleben einer Rumpf-Ukraine zu retten, sondern um die ukrainische Nation. Es galt, die Bevölkerung von Terror, Vergewaltigung und FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE
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